Die Wiederentdeckung der Klassengesellschaft

Buchbesprechung Einst waren Klassenbegriffe eindeutig. Inzwischen stellen sie sich per Meinungsmache in Werk gesetzt verschwommen dar. Ekkehard Lieberam schafft Abhilfe.

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Inzwischen sind die Klassenbegriffe zumindest verwischt. Jedenfalls nicht mehr eindeutig zuordenbar. Und Klassenkampf? Davon können höchstens noch gewesene DDR-Bürger ein Lied singen. Ein Lied, das ihnen mehr als zu Genüge im Staatsbürgerunterricht gesungen wurde.

Weniger etwa in der alten Bundesrepublik. Da sangen allenfalls die Linken dieses Lied. Mit wenig Erfolg. Denn die Arbeiterklasse für die sie kämpften waren (auch aufgrund der bloßen Existenz der DDR nebenan) vormals sehr alimentiert. Sie kämpfte kaum. Höchstens vielleicht fürs zweite Auto und mehr Urlaub. Ausnahmen bestätigten die Regel.

Begriffe wurden negiert oder verschwammen mit Hilfe von Meinungsmache

Nach der sogenannten Wende und der Angliederung der DDR an die BRD zum „neuen“ Deutschland verschwammen plötzlich sogar Begriffe wie „Links“ und „Rechts“. Diese Unterscheidung, so wollte man den Massen weismachen, hätten ausgedient. Nach dem Motto, nun geht es nur noch voran. Bald schon merkte man, was damit gemeint war: voran zurück. Ein Rollback setzte ein. All dies kulminierte dann auch noch in dem Begriff vom „Ende der Geschichte“, den Francis Fukuyama prägte.

Schon länger vor ihm war Margaret Thatcher der Meinung, so etwas wie ein Gesellschaft gäbe es gar nicht, sondern nur Individuen („There is no such thing as society“).

Nicht zuletzt wurden diese Urteile bewusst und somit mit Vorsatz hergestellt: gemacht. Ekkehard Lieberam schreibt in seiner neuesten Veröffentlichung „Die Wiederentdeckung der Klassengesellschaft“: „Im Rahmen der alltäglichen Meinungsmache zur Verschleierung der gesellschaftlichen Zustände und Vorgänge hat die systematische Verbreitung von untauglichen Begriffen ihren festen Platz.

Nach Noam Chomsky, einem der bekanntesten US-amerikanischen Linguisten, gibt es eine Vielzahl von Techniken, um Massenloyalität und Zustimmung der Regierten für die Regierenden zu gewährleisten („Manufactoring Consent“) mittels Auswahl der Themen und spezifischer Stimmungsmache, mittels der Art der Darstellung und des Filtern von Informationen, mittels der Gewichtung von Informationen und nicht zuletzt eben auch der 'Wortwahl der Berichterstattung'.“ (siehe: „10 Strategien der Manipulierung“).

Die Arbeiterklasse gibt es nicht mehr

Einmal ungeachtet dessen ist heute zu konstatieren, dass es zum Beispiel die Arbeiterklasse – erst recht das Proletariat wie man es kannte - in ihrer früheren Masse und damit großen gesellschaftlichen Kraft kaum mehr zu finden ist. Dieser Tatsache geschuldet ist auch die dadurch logischerweise gesunkene Macht der Gewerkschaften. Die Dezimierung des gesellschaftlichen Gewichts der Arbeiterklasse hat nicht zuletzt auch mit der fortgeschrittenen und rasant weiter fortschreitenden Automatisierung der Produktionsprozesse und dem zunehmenden Wandel hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft zu tun.

Doch kaum etwas ist besser dadurch geworden. Im Gegenteil: Die Schere zwischen arm und reich in unserer Gesellschaft klafft immer weiter auseinander.

Klassenkampf? Klar gibt es den noch. Nur wird der inzwischen aufgrund von Überlegenheit hauptsächlich von oben ausgeübt. Wer als der Milliardär Warren Buffett hätte das wohl unverblümter ausdrücken können: „Wenn in Amerika ein Klassenkampf tobt, ist meine Klasse dabei, ihn zu gewinnen.“

Buffetts Aussage lässt unschwer erkennen, welche Klasse die mächtigere ist. Dazu kommt, wie bereits erwähnt: Eine Arbeiterklasse vom ursprünglichen Begriff her gedacht gibt es nicht mehr. Stattdessen eine Zersplitterung.

Veränderte Reichtumsverteilung

Im Kapitel „Soziale Ungleichheit/Unsicherheit als Klassenerfahrung“ ab Seite 15 der Broschüre schreibt Lieberam über die „erneute Popularität des Klassenbegriffs in der öffentlichen Debatte und im politischen Alltagsdenken“. Und er nimmt Bezug auf die „nicht zu übersehende(n) gesellschaftlichen Entwicklungen“ (…), und „die erfolgte Reaktion des politischen Denkens der Menschen (und besonders von kritischen Intellektuellen) auf die sich verschlechternde Klassenlage der abhängig Arbeitenden, auf veränderte Reichtumsverteilung, anwachsende soziale Unsicherheit und Armut auf eine regelrechte Explosion von sozialer Unsicherheit, auf einen verschärften Klassenkampf von oben.“

Der Autor verweist darauf, dass diese Entwicklung „besonders ausgeprägt“ in Deutschland vonstatten ging und geht.

Wird dies auch zu einer verschärften Reaktion seitens der davon Betroffenen führen? Wir wissen es (noch) nicht.

Allerdings können wie diese Reaktion durchaus für möglich halten, denn Ekkehard Lieberam hat diesem Kapitel folgende Bemerkung des Historikers Hans-Ulrich Wehler von 2013 vorangestellt:

„Wie lange kann es noch gut gehen, diese extreme Verzerrung nach oben, ohne, dass es politisch gefährlich wird.“

Demnach stellte sich mir ebenso die Frage, wie lange sich (frei nach Bert Brecht) die allerdümmsten Kälber noch ihre Metzger selber wählen werden.

Eine Erklärung, warum das weiterhin geschieht, könnte ein von Lieberam auf Seite 29 verwendetes Zitat von Wladimir Iljitsch Lenin von 1913 liefern:

„Die Menschen waren in der Gesellschaft stets die einfältigen Opfer von Betrug und Selbstbetrug und sie werden es immer sein, solange sie nicht lernen, hinter allen möglichen moralischen, religiösen, politischen und sozialen Phrasen, Erklärungen und Versprechungen die Interessen dieser oder jener Klasse zu suchen.“

Klassentheorie“ als „Schlüssel zum Gesellschafts- und Geschichtsverständnis“

Ab dieser Seite des Heftes setzt sich Ekkehard Lieberam mit der „Klassentheorie“ als „Schlüssel zum Gesellschafts- und Geschichtsverständnis“ auseinander.

In seiner Arbeit befasst sich Lieberam intensiv mit dem Gesellschaftsbegriff und der Geschichte der Klassen und des Klassenkampfes, der Klassentheorie sowie der Klassenstruktur.

Er zeigt u.a. dabei, dass Erkenntnisse von Hegel, Marx, Engels und anderen nach wie vor Bestand haben.

All die Exkurse in die weiter zurückliegende und jüngere Geschichte, das Thema betreffend, sind wichtig, um die Situation in der Gegenwart zu begreifen, um daraus Schlüsse ziehen zu können.

Ein paar Fehler, die mir bei der Lektüre ins Auge sprangen, tun dem Ganzen keinen Abbruch. Etwa wird auf Seite 33 unten die französische Revolution in das Jahr 1989 verlegt.

Auf Seite 38 oben erinnert Lieberam daran, dass „Klassentheorie“ (…) „eine Gesellschaftstheorie (ist), „die eine Neubestimmung der Politik-, Staats- und Rechtstheorie einschließt.

Ebenso daran, dass „Klassentheorie“ (…) „eine Theorie der Gesellschaft (ist), die soziale Klassen in ihrer Entwicklung und Veränderung begreift.“ (S. 39 oben)

Und sie „schließlich Handlungstheorie“ sei, die sich „mit der politischen Klassenbildung, Klassenhandeln, mit Fragen der politischen Organisiertheit und der politischen Handlungsorientierung“ (beschäftigt).

Diesbezüglich arbeitet sich der Autor im nächstem Kapitel (ab S. 42) an den entsprechenden „geschichtlichen Erfahrungen) ab.

Gegen Ende des Heftes geht Lieberam etwa der Frage nach, welcher Begriff (anstelle von Arbeiterklasse) „der heutigen Wirklichkeit“ entspricht. „Ist der Begriff der Arbeiterklasse heute für die fragmentierte, sich strukturell und politisch differenzierende Klasse der den Eigentümern von Kapital gegenüberstehenden Klasse der Lohnarbeiter tauglich?“

Lieberam stellt fest, dass für „nicht wenige Angehörige dieser Klasse“ (…) der Begriff Arbeiterklasse nicht überzeugend (sei)“.

Er meint, „für Verwaltungsangestellte oder finanzielle Dienstleister“ sei beispielsweise die Bezeichnung „arbeitende Klasse (oder arbeitende Klassen) politisch sinnvoller.

Krasse Ignoranz unter den Linken gegenüber den Klassenmachtverhältnissen

„Klassenkampf“, führt Lieberam (S. 61 oben) aus, jeweils auch „der Kampf gegen die vom großen Kapital bedrohten Lebensinteressen - „gegen Umweltzerstörung, gegen unsinnige Großprojekte, gegen ein Steuersystem der Superreichen, gegen neue Kriege, gegen wachsende Armut, Überwachung und Verdummung“.

Im Kapitel „Klassenmobilisierung und Gegenmachtstrategie“ (ab S. 62) geht der überprüft der Autor wie hoch die Chance, einen „Richtungswechsel hin zu sozialen und ökologischen Reformen und zur Bändigung des entfesselten Kapitalismus“ (…) „im Falle“ einer rot-rot-grünen Bundestagsmehrheit wohl wäre. Lieberam beurteilt die „damit verbundenen Illusionen“ bezüglich der Erwartungen des linken politischen Spektrums und speziell vonseiten der Partei DIE LINKE beinahe als naiv. Ekkehard Lieberam:

„Selten in der Geschichte des Kapitalismus hat es in Deutschland unter Linken, die den Kapitalismus 'überwinden' wollen, eine derartige krasse Ignoranz gegenüber den Klassenmachtverhältnissen gegeben.“

Realistische Lageanalyse

Trotz nach der Bundestagswahl von 2013 vorhandener linken Mehrheit „mit immerhin neun Abgeordneten“ sein „ein wirklich 'linkes Lager' offensichtlich aber nicht entstanden.

Und noch schwärzer, jedoch reell: „auch nirgendwo zu erkennen, nicht im Bundestag, nicht im Parteiensystem und nicht in der Gesellschaft.“

Nun, so der Autor, ruhten die Hoffnung auf einen Politikwechsel auf der Bundestagswahl 2017.

Und sogleich gibt er zu bedenken: „Da aber in der Politik weiterhin die machtpolitischen Gegebenheiten entscheiden werden, wird das gewiss nichts werden.“

Es drohte viel mehr die weitere Einbindung der Linken „in den herrschenden Politikbetrieb.“

Wie also weiter? „Die bestehende politische Macht des Kapitals kann nur durch eine gegenüber dem derzeitigen Zustand deutlich gestärkte Gegenmacht, eine neue Qualität von Widerstand der arbeitenden Klasse und ihrer Verbündeten, eingeschränkt werden.“ Lieberam schlägt hier gewissermaßen eine konzertierte Aktion vor.

Und auf Seite 63 unten: „Aus der Sicht der derzeitigen Hegemonieverhältnisse“ sei „eine realistische Lageanalyse angesagt; „aus der Sicht einer realistischen Handlungsorientierung von links eine längere mühevolle Wegstrecke des politischen Kräftesammelns, des Ausbaus von gewerkschaftlicher und politischer Gegenmacht im Zuge sozialer und politischer Kämpfe, einschließlich der Vernetzung der antikapitalistischen Linken auf der Grundlage eines an den gemeinsamen Interessen der arbeitenden Klasse orientierten politischen Klassenprojektes.“

Lieberam: Großes Kapital sitzt derzeit fest im Sattel

Was mit Sicherheit nicht einfach ist und künftig womöglich lange Zeit sein wird. Den richtig verweist Ekkehard Lieberam daraufhin, dass das „große Kapital“ derzeit in der „Bundesrepublik politisch fest im Sattel“ sitze.

Dazu käme, dass die Formel von der „Krise ohne Widerstand“ ziemlich genau ins Schwarze treffe.

Die „strategische Kernaufgabe der LINKEN“ bestehe (der Autor zitiert dabei aus dem Programm der Partei DIE LINKE im Oktober 2011) „darin, zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beizutragen, um eine solidarische Umgestaltung der Gesellschaft“ anzustoßen.

Gleichzeitig schränkt Lieberam ein, indem er etwaige Träumer auf den Teppich zurückholt, ein: „Ohne wirkliche Erfolge auf diesem Weg ist weder eine politische Wende noch gar ein 'neuer Sozialismus' zu machen.“

Alles andere sei als „illusionär“ zu betrachten und führe nur auf einen Weg, „sich anzupassen, bereit, den Brückenschlag zu organisieren“. Wohin das führt sieht man bei Bündnis90/Die Grünen.

Wirklicher Politikwechsel nötig

Lieberam analysiert (auf S. 65 unten) richtig, dass „Klassenbewusstsein und Klassenhandeln“ über einen längeren Zeitraum rückläufig gewesen waren.

Nicht nur die (zwar inzwischen wieder fast eingeschlafenen) Occupy-Bewegung sind Anzeichen dafür, dass hinsichtlich dessen ein zartes Pflänzchen zu wachsen im Begriff ist.

Es gelte die Zersplitterungen zusammenzuführen. Doch ein Politikwechsel allein bringe nichts, wenn er nicht die ganze Palette der gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten abschaffe, zu mehr sozialer Gleichheit führe, eine deutliche Arbeitszeitverkürzung herbeiführe und überhaupt eine Umverteilung des Reichtums von oben nach unten einleite. Von prekären Arbeitsverhältnissen, die Forderung, Auslandseinsätze der Bundeswehr „und überhaupt die Militarisierung der Außenpolitik zu beenden“.

Günter Gaus' Einschätzung bleibt gültig: (…) „dies ist eine Klassengesellschaft. Außer dem Bewußtsein davon fehlt ihr keines der einschlägigen Kriterien“

Dazu gehöre auch, die „Macht der medialen Meinungsmache“ zu durchbrechen.

Freilich stünden dann – wie am Ende der Broschüre ausgeführt - auch „Fragen der Ausbruchsstrategie aus der kapitalistischen Produktionsweise sowie einer überzeugenden Konzeption für einen zukünftigen Sozialismus“ auf der Tagesordnung.

Doch dies,fürchte ich, dürfte erst einmal noch einige Zeit schön klingende Zukunftsmusik bleiben.

Die Klassenbegriffe sind noch verwischt. Hier und da ist ein zartes Erwachen widerstrebender Kräft zu erwachen.

Als Fazit ist dem Verlagstext zuzustimmen: „Auch wenn die Solidarisierung der von dauerhafter Ausgrenzung Betroffener von vorherrschenden gesellschaftlichen Denkweisen noch erschwert wird, gilt 'dies ist eine Klassengesellschaft. Außer dem Bewußtsein davon fehlt ihr keines der einschlägigen Kriterien' (Günter Gaus). Diese Worte haben weiter Gültigkeit. Die Klassengesellschaft existiert. Es gilt nur, sie zu entdecken und die nötigen Schlüsse daraus zu ziehen. Ekkehard Lieberams Buch ist dabei sehr hilfreich.

Eine weitere empfehlenswerte Broschüre im Rahmen des pad-Projektes „Ökonomisches Alphabetisierungsprogramm“.

Es passt treffend in die Zeit. Und sollte daher im Buchregal interessierter Leserinnen und Leser nicht fehlen.

Ekkehard Lieberam

Die Wiederentdeckung der Klassengesellschaft

Klassenohnmacht, Klassenmobilisierung und Klassenkampf von oben

78 Seiten, 5 Euro

pad-Verlag/Bergkamen

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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