Dortmund: Vergessene Kontinuitäten

Zuwanderung 150 Jahre Zuwanderung in die Dortmunder Nordstadt. Bastian Pütter stellte im Vergleich zur gegenwärtigen Situation unbewusste Wiederholungen und gleiche Muster fest

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Nicht zuletzt durch eine in den letzten Jahren und bis heute zu konstatierende, stetig zunehmende Zuwanderung von Menschen, Ausländern – vor allem, aber nicht nur, aus Rumänien und Bulgarien – gerät die Nordstadt Dortmunds immer wieder in den Fokus auch von überregionalen Medien.

Dies führt zu Diskussionen nicht nur unter angestammten Wohnbevölkerung im Quartier. Dazu zählen längst Dortmunder, die einst selber als sogenannte Gastarbeiter oder auch als Flüchtlinge in die Dortmunder Nordstadt kamen. Zuwanderung führt immer auch zu Problemen. Darüber wird gesprochen. Bewohnern anderer, „besserer“ Stadtteile tun das. Und auch Politiker. Nicht immer sind ihre Berichte von genauer Kenntnis der Probleme bestimmt. Selten bildet sich deren Meinung darüber aus einer eigener In-Augenscheinnahme. Noch viel weniger haben die einen oder die anderen mit einem dieser Zuwanderer selbst gesprochen oder sonst wie Kontakt gehabt. Vielmehr werden die Informationen über die unterschiedlichen Medien bezogen. Das sind dann seriöse oder weniger seriöse Medien. In jedem Falle geht es ziemlich kontrovers zu. Aber kann man sich da wirklich eine Meinung bilden, die der Wirklichkeit am nächsten kommt? Wohl kaum.

Ebendiesen Entwicklungen Bastian Pütter (bodo e.V.) aus der Sicht eines studierten Historikers nachgegangen. Pütter ist unmittelbar mit der Situation vor Ort und den vielschichtigen Problemen konfrontiert. Denn seit einiger Zeit ist der Redakteur des Straßenmagazins „bodo“.

Die Fremden kommen immer unerwartet

Festgestellt hat Pütter: Die „neuen“ Fremden kommen stets „unerwartet“, selbst in diesem einst einmal eigens für Zuwanderer gebauten Stadtteil. Dabei sind die Elemente des Sprechens und Handelns angesichts neuer Zuwanderung in die Nordstadt unbewusste Wiederholungen.
Ob „Ekelhäuser“ (die Ethnisierung prekären Wohnens), „Task-Forces“ (die selektive Anwendung von Ordnungsrecht), „Arbeiterstrich“ (die Erzählung von Ausbeutung ohne Ausbeuter) oder der Topos „Ausländerkriminalität“: Arbeitsmigration erzeugt Konflikte, Deutungsmuster und Strategien staatlichen Handelns von erstaunlicher historischer Stabilität. Kürzlich trug Bastian Pütter die in Stadt-, Polizei-, regierungsamtlichen und Form unter dem Titel „150 Jahre Nordstadt – 150 Jahre Zuwanderung“ im Interkulturellen Zentrum der AWO Dortmund (IKUZ) vor einem interessiertem Publikum vor.

Pütter: „Ich glaube, die wahre Geschichte in Bezug auf die Zuwanderung gibt es nicht.“

„Die Einschränkung 150 Jahre“ erklärte Pütter einleitend, „ist natürlich Quatsch“. Es hatte ihn nämlich eine WDR-Redakteurin angerufen, die Angst bekommen hatte, ein Jubiläum verpasst zu haben. Er wolle diese 150 Jahre eigentlich nur „als Mittelwert zwischen der ersten – heute würde man sagen – illegalen Besiedlung außerhalb der nördlichen Stadtmauern, 1845 und dem Beginn der geplanten Nordstadt in 1880er Jahren: dazwischen (bis heute; d. A.) sind die 150 Jahre.“ Geschichte sei gewissermaßen das Bündel von Deutungen vergangener Möglichkeiten auf die man sich irgendwie einigen könne. Pütter: „Ich glaube, die wahre Geschichte in Bezug auf die Zuwanderung gibt es nicht.

Der Blick von außen und mit „deutlichem Zeitverzug“

Das Interessante: Damals wie heute fänden Berichte und Verwaltungshandeln immer von außen her statt. Über die Nordstadt werde von jeher geschrieben, gesprochen und entschieden. Der Anlass, sich mit der Thematik zu befassen, sagt Bastian Pütter datiert im Jahr 2011.

Plötzlich „bemerkte die geneigte Öffentlichkeit, dass neue Leute in der Stadt sind“. Und zwar „mit deutlichem Zeitverzug“. Aus Pütters Sicht eskalierte das medial. Als eine Art „Dreischritt“: Es gab eine Ethnisierung von prekären Wohnen. Leute betreffend, an der Schwelle zur Obdachlosigkeit. In erster Linie Bulgaren und Rumänen. Stichwort „Ekelhäuser“ (hier und hier). Der zweite Schritt, bezogen auf eine bestimmte Zuwanderergruppe: „Sexualität unter Armutsbedingungen. Der Straßenstrich.“ (Dazu hier.) Alles unter dem Gesichtspunkt: „Das sind Frauen, die sind anders.“ Der dritte Schritt: Die Ethnisierung, zugespitzt auf eine bestimmte Gruppe. Bezüglich Eigentumskriminalität. Klassische Ausländerkriminalität mit Stempeln „Bulgarien“ und „Rumänien“. Es habe sich der Eindruck vermittelt, die Leute können nicht wohnen. Schnell sei man dann bei „klassischer Kriminalität“, dem „Klauen“ angekommen. Verbreitet zwar in allen Bevölkerungsgruppen, wurde aber hier ein Zusammenhang mit der Einwanderung hergestellt. Und natürlich wurde da hauptsächlich auf die Roma abgezielt.

Pütter dazu: „Nicht, dass es dass nicht gibt. Aber die Bildung einer Ableitung, die kannte ich schon.“ Aus der Arbeit einer Uni-Arbeit.

"Fiktion der Voraussetzungslosigkeit" von Zuwanderung

Ab den 1880er Jahren waren nämlich auch schon einmal viele Leute nach Dortmund gekommen, „die irgendwie fremd waren“: Polnisch sprechende Menschen. Die „Ruhrpolen“ (eine halbe Million an der Zahl).

Später dann kamen Italiener, Leute vom Balkan, Auslandspolen (den Staat Polen gab es noch nicht).

Erscheinungen, die sich, auch bezogen auf Dortmund immer wiederholt hätten und aus „unbewusstem Wissen“ gespeist würden.

2011 erkannte Bastian Pütter die Wiederholung dieser einzelnen Schritte.

In der Erzählung sind sie „Protagonisten“. Da seien sie „Bedrohung“. Würden ausgebeutet. Die seien Täter. In den Augen von Öffentlichkeit. Allerdings sind damit eben nie die sie ausbeutenden Arbeitgeber, Vermieter oder die Freier der Prostituierten gemeint. Sondern die Zuwanderer höchstselbst. Obwohl Gewaltausübung von ihnen kaum „ein berichtetes Phänomen“ sei. Auch würde unterschlagen, dass „Marktprozesse“ eine gewisse Rolle spielen.

Der Freiburger Zeithistoriker Ulrich Herbert habe (in „Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlingen“; d. A.) hinsichtlich von Zuwanderung von der "Fiktion der Voraussetzungslosigkeit" von Zuwanderung gesprochen.

(Herbert: Alle vier, fünf Jahre entbrenne diese Diskussion aufs Neue und man tue jedes Mal so, "als seien plötzlich ganz neue Probleme aufgetaucht. Tatsächlich aber wird die Debatte um den Zuzug von Ausländern in Deutschland seit etwa 120 Jahren unter den im wesentlichen gleichen Fragestellungen und mit den gleichen Frontlinien geführt."; d. A.)

Es gibt nicht eine Stunde Null

Pütter dazu: „Es gibt nicht eine Stunde Null. Es gibt abgerissene Wissens- und Informationskanäle. Und es gibt verschüttetes Wissen.“ Alles wurde mehrfach durchlebt. Bezüglich der Dortmunder Nordstadt habe es einen kaum je wirklich länger unterbrochenen Migrationsstrom gegeben. Es sei ja schon mit „westfälischen und hessischen Bauernsöhnen“ angefangen. „Holländer, Russen“ im Kaiserreich und der Weimarer Republik. „Zehntausende sogenannte Fremdarbeiter im NS-Staat. „Dann die große Gruppe der Vertriebenen“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und bald schon „die sogenannten Gastarbeiter“, Arbeitsmigranten und Flüchtlinge. Und aktuell Zuwanderer aus EU-Staaten.

Sicherheitspaniken“ nach Zuwanderung

Aus der einstigen, „sozusagen noch schlafenden Hansestadt Dortmund“ (1840 hatte die Stadt nur 7000 Einwohner!) in einem noch ländlich geprägtem Ruhrgebiet wurde eine rasch wachsende Stadt. Durch die Kohle- und Stahlindustrie Bevölkert von nach Arbeit suchenden Menschen. Den dringend benötigten Arbeitskräften, die auf engstem Raum konzentriert unter schwierigen Bedingungen unterkommen.

„Sicherheitspaniken“ treten auf. Es ist „die Angst der Bürger, vor denen, die da kommen“. Prekäres Wohnen, „gefährliche Sexualität und klassisch spezifische Kriminalität“, daraus speisten sich die „Sicherheitspaniken“. Dabei kamen – man denke nur an die vielen Schlesier – Deutsche, Reichsbürger in den 1860er, 1870er Jahren ins Revier. „Aber die sind massiv fremd“, so Pütter. „Bauernsöhne, werdende Proletarier.“ Gefährlich, wie die Bürger damals finden. „Die hauen sich auch. Und trinken Alkohol.“

Das Wissen verschwindet

Diese Linie befindet Bastian Pütter, „reißt komplett ab mit Weimarer Republik und Dritten Reich.“ Das Wissen darum sei verschwunden.

Bis mit der „Gastarbeiteranwerbung“ vieles wieder als quasi neue Erscheinungen auflebte. Was sich gewissermaßen an die „Fremdarbeiterpolitik“ des Dritten Reiches angeschlossen habe. Man kannte früher bereits die „Matratzenvermietungen“ und das Schlafen in Schichten (Schlafgänger; d. A.). Ähnliches wurde zu Gastarbeiterzeiten sozusagen wieder Mode. Wieder wurde „ein kultureller Mangel an Sittlichkeit“ und auf Ausländer bezogene Kriminalität beklagt. Mit dem Anwerbestopp für Gastarbeiter seien „halblegale neue Ausbeutungsformen“ entstanden.

Gekommen, um zu arbeiten

Mit dem Begriff „Armutszuwanderung“, gab Pütter zu, tue er sich schwer. Klar, gebe es Diskriminierte (etwa Roma), die deswegen ihren Heimatländern den Rücken kehrten. Aber im Grunde kämen alle Zuwanderer nach Deutschland, um hier zu arbeiten, damit sie ihre Familien daheim ernähren könnten. Aus Geratewohl träten die ihre Reise aber selten an. Es gäbe nämlich immer Brückenköpfe von Migration. Auch heute. Da organisiert der eine Brückenkopf von Dortmund aus die Migration z. B. im bulgarischen Plowdiw, von wo viele Roma inzwischen in die Ruhrgebietsstadt gereist sind. Und dort wiederum gibt es parallele Strukturen, die entsprechend die Reisen organisieren.

Auch Deutschland war einst Auswanderungsland

Pütter verweist darauf, dass ja Deutschland einst auch einmal Auswanderungsland gewesen sei. Etwa gingen viele Menschen auf der Suche nach Arbeit in die USA: „Damals waren wir dort die Bösen.“ Man kannte jemanden, der es in Amerika geschafft hatte. Und manchmal folgte dem ein ganzes Dorf dorthin nach.

Eisenbahnlinie scheidet Arm von Reich

In Dortmund bildet gewissermaßen seit der Herausbildung der Nordstadt eine Eisenbahnlinie die Grenze zwischen Arm und Reich. Da die „anständigen Bürger“ und dort „die gefährlichen Menschen“.

Ursprünglich war da, wo später die Nordstadt entstand, zunächst Wiesen. 1843 ist von Geldgeschenken die Eisenbahnlinie gebaut worden. Stichwort: „Wirtschaftsförderung“. Der Industrialisierungschub folgt mit dem Aufblühen der Kohle- und Stahlindustrie. Arbeitskräfte werden gebraucht. Sie werden angeworben und kommen. Sie wohnen erst einmal wild (um 1845). Baracken entstehen außerhalb der Stadt. Pütter verweist auf die Krimstraße. Die heiße übrigens so, weil hinter den Baracken ein Teich gewesen sei. Da habe man die ganzen Abwässer in Ermangelung einer Kanalisation dort hinein geleitet habe, sei von ihm als „Schwarzes Meer“ gesprochen worden. „Und das Drumrum war dann Krim.“ Heiterkeit im Raume.

Letztlich habe man aber einen relativ modernen Stadtteil, die Nordstadt eben, aufgebaut. Die wohlhabenden Bürger jenseits der Bahnlinie bauten die Häuser. Als Kapitalanlage. Die zugewanderten Arbeiter mieteten die Wohnungen darin.

Bastian Pütter: „Niemand geht von zu Hause weg aus Spaß“

Die Dimension von Einwanderung macht ein genanntes Beispiel deutlich: „1861 gab es in Provinzen Rheinland und Westfalen 16 Polen. 25 Jahre später haben wir eine halbe Million.“ Bald schon war jeder fünfte Einwohner im Ruhrgebiet polnischsprachig. Bastian Pütter: „Die kommen ja nicht einfach. Niemand geht von zu Hause weg aus Spaß.“ Leute von hier hätten das organisiert: „Die Bergleute hier streikten. Man brauchte rasch Ersatz.“ Stichwort: „Unternehmerisches Interesse“. Man schickte Werber aus.

Was, flicht Pütter ein, wir bei allen Migrationsprozessen wiederfinden.

Ökonomisch fundiert. „Sie haben immer zu tun mit Leuten von hier.“ Stichwort: Brückenkopf!

Immer aber sind neu hinzukommenden Menschen „die Fremden“. Die schon da sind entwickeln ihnen gegenüber Ängste. Arbeitskräfte zweiter Klasse. „Konjunkturpuffer“, die wieder gehen sollen, wenn man sie nicht mehr braucht. Nichts anderes wurde und wird bedacht. Der bekannte Schriftsteller Max Frisch brachte es auf den Punkt: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen .“

Nicht neu: „Überflutung durch Fremde“

Zum Punkt Kriminalität meint der Historiker Pütter: Die Umwälzungen bringen unbestritten stets reale Probleme mit sich. Doch die öffentliche und mediale Wahrnehmung ist da noch etwas ganz anderes. So sei es auch mit der Wahrnehmung „Überflutung durch Fremde“. Wir hätten das heute gar nicht erfunden. In der Rheinisch-Westfälischen Zeitung oder woanders sei schon sehr früh von „Wellen“ die Rede, die da kämen. Die, die da kommen werden immer als unfertig, ungehobelt und als Leute, die Spaß haben wollten beschrieben. Oft spielt sich aufgrund des beengten Wohnraums ihr Leben draußen ab. Auf der anderen Seite der Bahnlinie findet die ach so Anständigen deren Verhalten als eine „Unverschämtheit“.

Damalige Zeitungen beschwören Angst vor Mord und Totschlag herauf. Pütter zitiert aus folgender Anzeige: „Mord, Diebstahl, Einbruch liest man täglich in den Zeitungen. Deshalb kein Mann ohne Revolver. In keinem Schlafzimmer, in keiner Familie darf der Revolver fehlen. Ohne Revolver darf kein Mann die Reise antreten.“ All das findet dagegen kaum eine Entsprechung in Polizeistatistiken. Diese Zeitungen wird auch in den Regierungspräsidien gelesen. Ohne eigene Anschauung der Lage. Das war damals so. Und es ist heute nicht anders. Pütter kommt das sehr bekannt vor.

Unfugsdelikte

Und immer wieder müsse man konstatieren, dass der Staat auch mit Gesetzen auf das Verhalten etwa von Zuwanderern reagiert. Zum Beispiel sei der Paragraph der schweren Körperverletzung eine Erfindung von damals, erzählt Bastian Pütter.

Damit geht dann auch die Kriminalitätsstatistik in die Höhe. Die „Unfugsparagraphen“ hatten Konjunktur. Unfug und grober Unfug. Seinerzeit angewendet bei Herumstehen auf öffentlichen Plätzen. Fußballspielen auf der Straße. Verteilen von Parteiblättern an Werkstoren. In Dortmund waren damals über 2000 dieser Unfugsdelikte registriert.

Auch Wohnen und Sittlichkeit spielte eine Rolle. Viele Zuwanderer seien damals vom Land gekommen. Und lebten in Dortmund weiter wir früher auf dem Land. Erwachsene und Kinder wohnen im selben Zimmer.

"Sittliche Versumpftheit" wurde beklagt. Pütter: „Aus dem unbürgerlichen Leben wurde Kriminalität.“

Von den Ursachen war nicht die Rede. Aber der Staat reagierte mit Repression. Es hieß: „Die können nicht wohnen!“ Da rühre auch der Begriffe „Polnische Wirtschaft“ her. Stereotype: Alkoholismus. Wie auch von „polnisches Messerattacken“ die Rede war. Später legten die Zeitungen den Italienern das Messer in die Hände.

Eine Polizeiverordnung von 1910: „Am schlimmsten treiben es die Kroaten. Sie setzen sich zusammen aus notorischen Mordbrennern und allerlei berüchtigten Gesindel ...“ Oder vom „Polenmädchen“ ist leicht anrüchig zu lesen. Oft ausgemalt von Beamten, die die Situation gar nicht selbst kannten. Sittlichkeit als Gesundheitsproblem. Oder schliff sich der Eindruck ein: „Die Leute aus dem Osten können sich nicht benehmen.“

Aber Zahlen über die Verbrechen seien in den Akten kaum zu finden.

All überall Gefahren, von Ausländern ausgehend

Fazit: Innerhalb von wenigen Jahren habe es einen Transport der gleichen Erzählung gegeben: Unzivilisierte Arbeiter. Sittlich gefährlich. Daraus entsteht Kriminalität. Paar Jahre später sind Ausländer kulturell bedingt nicht in der Lage richtig zu wohnen. Sittlich verwahrlost. Mit den Kriegen sei all das verschwunden. Plötzlich dann die vermeintliche „Stunde Null“: Man brauchte Arbeitskräfte. Schon liest man von den auf kleinstem Raum zusammengepferchten Gastarbeitern. Von schmutzigen Örtlichkeiten ist in der Presse zu lesen. Vermieter kassieren pro Person 80 Mark. Wieder gab es Matratzenvermietungen. Schon in den 1950er Jahren hätten die „Ruhr Nachrichten“ von gefährlichen Keimen und Krankheiten geschrieben. „Und sie meinten die Leute, nicht die Wohnverhältnisse.“

Junge Mädchen, heißt es, sind moralisch sittlich gefährdet. Sie warteten am Bahnhof darauf, angesprochen zu werden. All überall Gefahren, von Ausländern ausgehend.

Angeblich sei damals die Kriminalität stark angestiegen. Pütter: Es gab Verbrechen. Aber auf die Altersgrenze angerechnet war sie gering.

Da sucht man eben Sündenböcke

Problematisch werde es immer, wenn es den hier angestammten Leuten bei wirtschaftlichen Krisen schlechter gehe. Man meine, es geht einen an die eigene Tasche. Ähnlich war es vor Jahrzehnten. Was der NPD Zulauf brachte. Die Politik lenkte nach rechts. Der Asylkompromiss war eine der Folgen. Und ähnlich sei es nun wieder. Bezüglich der Flüchtlingsproblematik. Da sucht man eben Sündenböcke. Schwierig werde es, wenn die Zugewanderten nicht ökonomisch verwertbar sind, sondern eher Geld kosteten.

Nun würden die Rumänen und Bulgaren kritisch beäugt. Alles wird durcheinander geworfen. Die Polizei sage selbst: Die momentanen Wohnungseinbrüche hätten mit diesen nach Dortmund gekommenen Zuwanderern nichts zu tun. Der Eindruck hat sich aber verbreitet.

Gleiche „Musterverläufe“

Die Berichte über schlimme Zustände stimmten, so Pütter. Aber dies sei eben nur eine Seite der Medaille. Dabei, so der Historiker und Redaktionsleiter, liege es ihm fern irgend etwas zu beschönigen.

Immer wieder würden im Vergleich zu früher gleiche „Musterverläufe“ offensichtlich. Journalisten trügen vielleicht unbewusst dazu bei. Weil man ihren Texten doch irgendwie anmerkte, was sie sich bemühten, eigentlich zu verbergen. Aber die Leser doch bemerkten, weil es beim Schreiben des Textes mitgedacht worden sei.

Ein interessanter und auch, was Einzelheiten betrifft, erhellender Vortrag. Nicht zuletzt, weil der Referent historisch weit ausholte. Und auf diese Weise, tiefer lotend als manche plakativ und oft vorurteilsbehaftete Berichte es gegenwärtig tun (können). Beziehungsweise deren Verfasser aus den unterschiedlichsten Motivationen heraus oder auch einfach unbewusst dies zu leisten vermöchten (oder wollen). 150 Jahre Zuwanderung in die Dortmunder Nordstadt: Wie sich doch die Bilder, sprich: Deutungsmuster betreffs der damit verbundenen oder angenommenen Probleme gleichen! Bis hin zu den Strategien staatlichen Handelns. Vegessene Kontinuitäten. Historiker Bastian Pütter spürte ihnen nach.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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