Dritter Weltkrieg oder Neuanfang

Ukraine Zweifelsohne hat die Situation in der Ukraine das Zeug zur weiteren Eskalation. Gar zu einem Krieg? Nicht unbedingt. Aber die Gefahr ist groß. Diplomatie ist nun gefragt.

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Ich erinnere mich, im November 1989 keinesfalls zu Denjenigen gehört zu haben, die besonders euphorisch jubelten, als die Mauer - welche ich gerade erst über Ungarn und Österreich gen BRD "überwunden" hatte - fiel. Um nicht falsch verstanden zu werden: Nicht, dass ich mich nicht freute, dass ein vermeintlicher Sozialismus, dem es an Demokratie von Anfang an fehlte und eigentlich schon lange vor 1989 gescheitert war, zugrunde ging. Vielmehr machte ich den Versuch die Situation sachlich zu betrachten.

1989/90 hatte sich ein Zeitfenster geöffnet

Michael Gorbatschow, der bekanntlich nicht unschuldig daran war, dass die betreffende Situation hatte überhaupt erst heranreifen können, regte an ein Haus Europa zu schaffen. Darin sich Zimmer für die europäischen Länder befinden sollten. Gleiche unter Gleichen? In etwa. Gleichberechtigte Staaten immerhin als Mieter in diesem zu schaffenden Gebäude. Gorbatschows Vorstellung, das von ihm verbal imaginierte Bild dieses Hauses Europa - darunter konnte man sich etwas vorstellen. Ein Zeitfenster hatte sich geöffnet. Haben wir es vernünftig genutzt? Heutebin ich der Meinung: allenfalls teilweise.

Rollback

Während in Wende- und Nachwendezeiten viele Menschen hauptsächlich im Ostteil Deutschland begeistert dahinschwebten, andere mit einschneidenden Umstellungen beschäftigt waren, so manche sich als Unternehmer versuchten und wieder andere sich plötzlich auf der Verliererseite des Lebens vorfanden, da lief längst etwas auf Hochtouren. Man könnte dieses Prozess Rollback nennen.

Daran dachte ich damals freilich nicht sofort. Ob es Michael Gorbatschow bedachte? War er so naiv, das nicht ahnen zu können? Wir wissen es nicht. Der Kapitalismus schickte sich an, sich zurückzuholen, was ihm verloren gegangen war. Was per se nicht folgenlos bleiben konnte. Gorbatschows damals vom Westen laut beklatschtes "Haus Europa", so es das überhaupt heute gibt, hat Mieter mit unterschiedlichen Vorausetzungen. Gleichberechtigt mögen die EU-Staaten höchstens auf dem Papier sein. Und ein Zimmer für Russland hat dieses Haus bis heute nicht. So schlecht wie die Beziehungen Deutschlands zu Russland derzeit sind, waren sie lange nicht.

Vertane Zeit

Zweifellos ist in den 1990er Jahren auch viel Positives passiert. An und für sich versuche ich Pauschalierungen zu vermeiden. Mit Verlaub lasse ich aber hier einmal die Zeit zusammenschnurren. Ich ziehe einen Strich darunter und schätze resümierend diese Zeit einfach einmal für in vielerlei Hinsicht als vertan ein.

Der Kapitalismus mantelte sich zum neoliberalen Raubtier auf. Das er im Innern stets geblieben war. Der Kapitalismus wurde mithilfe willfähriger Politiker wieder verstärkt zum Raubtierkapitalimus.

Beschädigte Hoffnungen und erste Zweifel

Es waren der von Europa eher ver- als entschärfte Konflikt verschiedener Mitglieder der Bundesrepublik Jugoslawien untereinander, in einen Krieg der Nato gegen Belgrad mündend, der Afghanistan-Krieg und schließlich der Irak-Krieg - alles Ereignisse, die die Euphorie des Jahres 1990 vieler Menschen und deren Hoffnungen auf Frieden Stück für Stück Schaden zufügten. Wer mit wachen Augen durchs Leben geht, dem musste mindestens nach Ausbruch der Finanz- bzw. Weltwirtschaftskrise - immerhin der größen seit 80 Jahren - angst und bange werden. Waren die Menschen zunächst froh über das Ende des Kalten Krieges und der Konfrontationen der beiden Blöcke, was ein friedliches Zusammenleben der Völker nicht nur in Europa zumindest möglich erschienen ließ, mögen den kritischen unter ihnen bald erste Zweifel gekommen sein.

Spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise musste einen mulmig werden

Denn war früher der Kommunismus und mit dessen Machtzentrale in Moskau als "Reich des Bösen" Ziel des Kampfes der USA, wurde schon bald der Islam zu Feind Nummer 1 aufgebaut. Zwar meinte man den islamistischen Terror (ironischerweise von Washington zuvor gegen die Sowjetunion in Afghanistan selbst in Stellung gebracht), doch wurde der Islam - vor allem weil die Medien ihn diskreditierten, indem sie diesen absichtlich oder aus bloßer Unkenntnis heraus nicht trennscharf genug vom Islamismus schieden - zum neuen Teufel (gemacht).

Spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise musste einen mulmig werden. Vielen Menschen in der EU geht es schlechter. Es herrscht eine hohe Jungenarbeitslosigkeit und Sozialabbau. Vor allen in Griechenland und Portugal. Aber woanders sieht es auch trübe aus. Nur Deutschland, behaupten Bundeskanzlerin Merkel sowie die Mainstream- und Konzern-Medien, gehe es gut. Warum erfahren die Menschen, die das auch noch glauben, nicht. Nämlich deshalb, weil Deutschland seine EU-Partner niederkonkurriert! Wer noch immer glaubt, dass das auf Dauer gut geht, muss sich als schwer naiv bezeichnen lassen.

Krieg könnte drohen

Spätestens seit der Finankrise, die ja bis heute nicht ausgestanden ist und wirksame Mittel nicht eingesetzt werden, um eine neue künftig zu vermeiden, geht mir durch Kopf: Es ist gar nicht ausgeschlossen, dass es Krieg gibt. Vielleicht sogar einen Weltkrieg. Das ist nun keine Verschwörungstheorie. Wer sich im Jahr 2014 einmal genauer damit beschäftigt, wie der Erste Weltkrieg vor hundert Jahren ausbrach, wird diesen Vorwurf gewiss nicht erheben.

Russland wird immer mehr eingekreist

Oft musste ich inzwischen an die Zeit denken, bevor Hitler an die Macht kam. Ältere Leute, die jene Zeit erlebten, reden noch heute davon, wie sie davor warnten. Hitler, sagten sie damals, bedeutet Krieg. Sie wurden ausgelacht. Nun möchte ich diese Zeit nicht mit der heutigen vergleichen, dennoch: Vorstellen kann ich mir wie sich die Menschen fühlen mussten, wenn man sie damals auslachte. Mehrmals entschlüpfte mir in den letzten Jahren der Satz: Ich hoffe nicht einen Krieg erleben zu müssen. Dafür wird man heute ausgelacht.

Ein Krieg - erst recht ein Weltkrieg (Stellvertreterkriege hat es ja mmer gegeben) war für mich und wohl auch viele Leute in Ost- wie Westdeutschland, welche die spätere Nachkriegszeit erlebt hatten, eigentlich undenkbar. Wie kommt es, dass mir jetzt ein Krieg plötzlich möglich erscheint? Vielleicht weil die großen Militärblöcke nicht mehr gegeneinander ein "Gleichgewicht des Schreckens" bilden. Der Warschauer Vertrag wurde aufgelöst. Die Nato aber blieb.

Russland hat wohl noch Gewicht, aber nicht das von früher. Dazu kommt, dass entgegen einstiger anderlautender Versprechen in den 1990er Jahren die von den USA bestimmte Nato Russland immer mehr einkreist. Es wird versucht immer mehr Nachbarländer aus dem Einflussbereichs Russland herauszubrechen. Eine gefährliche Entwicklung.

Nun sind wir bei der Ukraine. Ist danach Russland selbst dran? Wir wissen, dass es solche Ideen, einen Regimewechsel in Moskau betreffend, in den USA seit Längerem gibt. Wenngleich das Washington im Augenblick nicht wagen dürfte. Aber den Versuch in der chaotischen Jelzin-Zeit an die zahlreichen Bodenschätze in Russland heranzukommen hat es ja bereits über bestimmte Oligarchen gegeben. Putin hat dieser Entwicklung ein Riegel vorgeschoben. Also muss man sich wirklich darüber wundern, dass Russland so reagiert, wie es im Moment betreffs des Staatstreichs in Kiew reagiert?

Das amerikanische Faustrecht

Willy Wimmer, neben Jürgen Todenhöfer einer der wenigen kritischen Köpfe in der CDU hat eine Erklärung für diese gefährliche Entwicklung. Hauptsächlich die USA hätten ein Interesse daran möglichst die ganze Welt mittels des amerikanischen Faustrechtes zu regieren. Zuvor habe Washington Organisationen wie die UNO oder die OECD über Jahre hin geschwächt wo man nur konnte. Statt Diplomatie würden nun immer öfters die Fäuste auf amerikanische Art geschwungen, so Wimmer. Militärische Mittel kommen zum Einsatz. Natürlich im "humanitären" Interesse, versteht sich. Und um Frieden und Demokratie überall auf der Welt zu schaffen. Ich empfehle in dem Zusammenhang sehr, sich dieses Interview mit Willy Wimmer (CDU) anzuhören, das ein deutschsprachiger iranischer Sender mit ihm führte.

Egon Bahr (SPD) gegenüber Schülern: Leben in einer Vorkriegszeit

Die Rhein-Neckar-Zeitung veröffentlichte am 4. Dezember 2013 einen Bericht über einen Begegnung Egon Bahrs in der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte mit Heidelberger Schülern. Bahr fesselte, schockte aber zugleich auch die Schülerinnen und Schüler:

Ich, ein alter Mann, sage euch, dass wir in einer Vorkriegszeit leben”. “Hitler bedeutet Krieg”, habe sein Vater 1933 zu ihm gesagt. Als Heranwachsender habe er das nicht geglaubt. Und so sei das jetzt wieder. “In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.”

Im ZDF beruhigt Bahr gestern, Krieg werde es wegen der Ukraine nicht geben. Albrecht Müller befürchtet aber eine Eigendynamik, die im Westen die Bereitschaft zum Zündel maßlos erhöhen kann

Am 3. März nun sendete das ZDF vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine ein Interview mit Egon Bahr. Albrecht Müller (NachDenkSeiten) schreibt dazu heute: "Auf die Frage danach, ob es Krieg geben werde, beruhigte Bahr die Gemüter mit dem Hinweis, wir bräuchten das Gas der Russen und die Russen wollten unser Geld. – Bei aller Hochachtung für Egon Bahr: er verkennt die Eigendynamik der ideologischen Wiederaufrüstung und die Rolle des Propagandakrieges, er missachtet die Gefährlichkeit der stattgefundenen und stattfindenden Destabilisierung, also der ideologischen und mit Waffen und Geld betriebenen Wühlarbeit. Zum Beispiel: Wenn die rechtsradikalen Kräfte in der West-Ukraine und in Kiew ihre Kommandos in den Osten schicken und unter russischstämmigen Einwohnern ein Blutbad anrichten, dann könnte die von Egon Bahr beschworene „Interessengemeinschaft“ sehr schnell auseinander brechen. Auch die Eigendynamik des Wiederaufbaus des Feindbildes von den bösen Russen im Osten und den Guten im Westen kann im Westen die Bereitschaft zum Zündeln maßlos erhöhen." (Albrecht Müllers Text in voller Länge via NachDenkSeiten.)

Neuanfang und verstärkt auf Diplomatie setzen.

Nicht zuletzt die brenzlige Krise in der Ukraine, die der Westen auf die eine oder andere Weise äußerst fahrlässig mit befördert hat - ohne ein wirkliches Konzept gehabt zu haben, ohne Russland ernsthaft mit in die Lösung derselben einzubeziehen - zeigt: Wir müssen zurück auf Anfang. Was 1990 so hoffnungsvoll möglich schien, könnte heute größtenteils verspielt sein. Wir brauchen einen Neuanfang. Es muss endlich wieder verstärkt auf Diplomatie gesetzt werden. Politiker wie Willy Brandt und Egon Bahr, die sich genügend auch in andere hineinversetzen können, um zu verstehen was zu tun ist, damit am Ende eine friedliche und allen nutzende Lösung gefunden werden kann. Wo sind diese Politiker? Das stümperhafte Agieren von Frank-Walter Steinmeier im Fall Ukraine zeigt, wie sehr gestandene Diplomaten vonnöten sind.

Nur was könnten selbst die gegen eine Politik des amerikanischen Faustrechtes ausrichten? Ein Abkehr Washingtons von diesem Agieren ist nicht abzusehen. Wer vermöchte die USA dazu bringen? Dass im Weißen Haus jemand sitzt, der den Friedensnobelpreis trägt, ist der reinste Hohn. Von den USA wird immer wieder Unruhe geschürt. Quo vadis? Willy Wimmer sagt im Interview, die USA hätten Interesse den Krieg wieder nach Europa zu tragen. Selbst Helmut Kohl habe immer davor gewarnt.

Stolpern wir in einen Krieg?

Wird es also Krieg - gar einen Dritten Weltkrieg - geben? Mögen wir davon verschont bleiben! Doch machen wir uns nichts vor: Die Vorausetzungen dafür sind im Augenblick durchaus gegeben. Stolpern wir in diesen Krieg, wie die Beteiligten des Ersten Weltkrieges von 1914 sozusagen "Schlafwandelnd in die Schlacht" gerieten? (So betrachtet es der Historiker Christopher Clark; Beitrag im SPIEGEL)

Schon einmal - nämlich 1989/1990 - erhielten wir die Chance die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden in Europa und der Welt zu schaffen. Wir haben die Chance möglicherweiser verspielt. Täte sich nun eine neue auf, muss fest zugepackt werden. Denn Albrecht Müller hat recht, wenn er vor der "Eigendynamik des Wiederaufbaus des Feindbildes von den bösen Russen im Osten und den Guten im Westen" warnt. Wenn ich 1989 auch nicht all zu euphorisch auf den Fall der Mauer schaute - eine brenzlige Situation wie wir sie nun in der Ukraine haben, konnte ich mir damals nicht vorstellen. Waren das vielleicht Vorahnungen, die mich damals eher sachlich blieben lassen?

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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