Gorbatschows Wermutstropfen

25 Jahre Mauerfall Bei Feiern wird Kritik oft als Wermutstropfen in der Feierbrause angesehen. Michael Gorbatschow tat es aber dennoch bei "25 Jahre Mauerfall". Danke dafür! Ein Kommentar

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Das große Feier-Theater zum 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin ist endlich zu Ende. Wäre man boshaft, könnte gesagt werden: Manches daran erinnerte in einigen Punkten an ähnliche Feierlichkeiten zu DDR-Zeiten. Hurra, hurra und nochmals hurra. Bloß keine kritischen Töne aufkommen lassen. Es ist ja wie bei Familienfeierlichkeiten auch: Hoch die Tassen! Die dunklen Seiten bleiben unter dem Tisch und dessen Tuch. Bloß nicht drunter gucken und dran rühren! Wie ungefähr bei dem Dogma-Film „Das Fest“ von Thomas Vinterberg. Na ja, irgendwie menschlich verständlich.

Eine Prise Ehrlichkeit wäre nicht schlecht gewesen

Doch beim Mauerfall-Brimborium hätte eine Prise Ehrlichkeit im Rückblick gewiss nicht geschadet. Verkehrt in diesem Sinne wäre nämlich nicht gewesen anklingen zu lassen, unter welcher Situation es überhaupt zum Mauerbau erst kommen konnte. Mit Sicherheit hätten die dann beleuchteten Gründe keinerlei vom DDR-Staat begangenes Unrecht um und hinter der Mauer entschuldigt. Aber wahrscheinlich hätte diese Prise wie ein Wermutstropfen in der lustige Feierlaune-Brause der Funktionäre von heute gewirkt. Weshalb es unterblieb.

Feier auf den Scherben zerdepperten Porzellans

Ein schaler Beigeschmack blieb jedoch für mich. Vermittelte sich mir doch der Eindruck, die Mächtigen von heute feierten sich über den Umweg der (gewiss berechtigten) Feier des Falls der Mauer vor 25 Jahren selbst als die über jegliche Kritik erhabenen Guten. Die dabei den Anschein erweckten ein für allemal über das Schlechten gesiegt zu haben. Dieser Anschein jedoch trügt.

Zwar hatten sich durch den letztlich wie auch immer zustande gekommenen Fall der Mauer und der darauffolgenden Eingemeindung der DDR einzigartige Chancen für die Menschen nicht nur in beiden Deutschlands, sondern auch ganz Europas eröffnet. Viele dieser Chancen wurden und werden m. E. von den gegenwärtigen Machthabern u.a. in Berlin in Verkennung der womöglich schrecklichen Folgen zusehends vertan. Auf den von Scherben des zerdepperten Porzellans feierte man nun.

Gorbatschow erhob schwerwiegende Vorwürfe gegenüber dem Westen

Immerhin einer sprach das in Berlin am Brandenburger Tor an. Der greise, aber nach wie vor weise Friedensnobelpreisträger Michael Gorbatschow tat dies dankenswerterweise. Die Chuzpe, das zu verhindern bzw. in den Medien irgendwie zu verschweigen, hatten die Verantwortlichen in herrschender Politik und im gleichlautender palavernden Medien Gott sei Dank dann doch nicht.

Und so erhob denn der frühere sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow bezüglich dessen Agierens im Ukraine-Konflikt schwerwiegende Vorwürfe gegen den Westen.
Auf den Ukraine-Konflikt anspielend, sagte der 83 Jahre alte Gorbatschow am Samstag: „Die Welt ist an der Schwelle zu einem neuen Kalten Krieg. Manche sagen, er hat schon begonnen.“ Zu konstatieren sei ein „Zusammenbruch des Vertrauens“.

Die Heuchelei des Westens

Gorbatschows Politik von Glasnost, Perestroika und der Öffnung hatte letztlich auch die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung geschaffen.

Ohne Gorbatschows weitgehende Zugeständnisse an die BRD seinerzeit und darüber hinaus an den Westen waren enorm. So enorm, dass Gorbatschow bis heute bei vielen Menschen der auseinandergebrochenen Sowjetunion regelrecht verhasst ist. Wie wir wissen, versicherte man dem damaligen sowjetischen Generalsekretär der KPdSU, die NATO werden kein Meter weiter gen Osten rücken. Inzwischen ist sie um die 1000 Kilometer an das heutige Russland herangeschoben worden!

Vor und erst im Jahre 1989 wurde Michael Gorbatschow für dessen Politik der Öffnung vom Westen hoch über den grünen Klee gelobt. Und bei vielen Gelegenheiten hofiert. Gorbi, Gorbi-Rufe allerorten. Ich erinnere mich Ende der 1980er Jahre das Konterfei Gorbatschows in vielen Schaufenstern im österreichischen Linz gesehen zu haben. Bei einem Besuch des damaligen Generalsekretärs in Dortmund wurde dieser geradezu stürmisch begrüßt. Hauptsächlich von es ehrlich meinenden Stahlarbeitern. Dass Gorbatschow damals von westlichen Politikern so hochgelobt wurde hat zum Teil auch etwas mit der üblichen Heuchelei des Westens zu tun. Wie wir das heute auch bei anderen Gelegenheiten beobachten. Einerseits war das einhellige Lob für Gorbatschow und die Hoffnung ehrlich und ernst gemeint. Andererseits hegten Kapital und Konzerne gewiss schon ganz andere Vorstellungen dahinter. Denn hatten sie erst einmal Gorbatschow im Sack, würde bald das ganze (pseudo-)sozialistische System und zusammen mit ihm die sowjetischen Satellitenstaaten fallen. Wie es dann auch kam. Kapital und Konzerne scharrten mit den Füßen. Und machten sich über die dann neu entstehenden Märkte her.

Gorbatschow wurde vom Westen über den Tisch gezogen

Kurz: Gorbatschow ward vom Westen, von der NATO über den Tisch gezogen. Dessen Rede und – wie ich finde - hervorragende Vision - von der Schaffung eines „gesamteuropäischen Hauses“ eifrigst beklatscht. Aber wie wir heute erschrocken feststellen müssen: letztlich nicht wahr. Vielleicht war das von bestimmten Kreisen auch von vornherein gar nicht gewollt. Jedenfalls nicht so, wie Michael Gorbatschow sich das ausgedacht hatte.

Ein "Störenfried", den man sich nicht zu übergehen traute

Heute wird Michael Gorbatschow von den meist selben Leuten, die ihn vor und um 1989 gar nicht oft genug hochleben lassen konnten, der das in eigentlich ganz anderem Zusammenhang gesagte „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ eher als Störenfried empfunden. Ein Störenfried – aber, wie ich finde, im Gegensatz zu Barack Obama und der EU - würdiger Friedensnobelpreisträger, den man man sich aber bei den Feierlichkeiten zum 25. Jahr des Falls der Mauer nicht einfach zu übergehen traute.

Medialer Hieb gegen Gorbatschow

Nicht nur das. Man musste sich ganz und gar dessen (berechtigte) Kritik am Westen und dessen Warnung vor einem neuen Kalten Krieg anhören.

Heute früh wandte sich dann auch die Moderatorin von Funkhaus Europa bei der Vermeldung von Gorbatschows Kritik am Westen wie ein übriggebliebener Regenwurm im Novemberlaub. Und sowohl die WDR-Frau als auch der die Äußerungen kommentierende WDR-Mann entblödeten sich nicht, Gorbatschow, der m.E. einfach Wahrheiten laut ausgesprochen hatte, einen kleinen Hieb mitzugeben. Gorbatschow hätte nicht nur an die Ereignisse von 1989 erinnert, sondern „sogar auch noch Kritik“ am Westen geübt. Auch Worte können wie Schläge wirken. Kritik am Westen, wo der doch immer der Gute ist!? Das geht ja gar nicht. Und noch schlimmer: Gorbatschow habe „gar“ Verständnis für die aktuelle Politik Putins rund um die Ukraine-Krise gezeigt. Dessen jüngste Äußerungen, so Gorbatschow, ließen das Bestreben erkennen, Spannungen abzubauen und eine neue Grundlage für eine Partnerschaft zu schaffen.
„Gorbatschow forderte eine schrittweise Aufhebung der gegenseitigen Sanktionen. Vor allem die von der EU und den Vereinigten Staaten verhängten Strafmaßnahmen gegen Politiker müssten aufgehoben werden“, berichtete die FAZ.

Wir sollten die Bedenken zweier Elder Statesman ernst nehmen

Indes sollten wir abseits von Ausrutschern der üblichen Medienverdächtigen Michael Gorbatschows Aufforderung zu einer Stabilisierung der deutsch-russischen Beziehungen im eignen Interesse baldigst nachkommen. Gorbatschow gab zu bedenken: „Lasst uns daran erinnern, dass es ohne deutsch-russische Partnerschaft keine Sicherheit in Europa geben kann.“ Wir sollten das verinnerlichen, statt das mit zynischen und abwertenden Kommentaren zu versehen.

Warum kommt nicht viel mehr Leuten (und Medien) der Gedanke, dass der 83-jährige Michael Gorbatschow richtig mit seinen Äußerungen liegt? Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) tut das offenbar. Und das tut gut. Am Freitagabend in einer Rede in Merzig warnte der alte außenpolitische Fuchs aus Reideburg bei Hall vor einer „Aufrüstung der Sprache“ im Ukraine-Konflikt. „Mit der Sprache des Krieges hat es immer angefangen”, gab der 87-Jährige beim 25. Sparkassen-Forum in seinen Ausführungen zum Thema Europa zu bedenken.

Verschließen wir doch bitte nicht die Ohren vor den berechtigen und richtigen Äußerungen der beiden Elder Statesman. Und verinnerlichen wir noch einmal den 1989 aus zwar aus dem Zusammenhang gerissenen, aber dennoch passenden, Ausspruch, Michael Gorbatschows beim DDR-Staatsbesuch zum Republikgeburtstag (von eilfertigen Medien dankbar aufgegriffen und kurzerhand auf die DDR-Oberen gemünzt) „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Oder wollen wir warten, um zu überprüfen, ob sich das wirklich bewahrheitet?

Apropos Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls: Wir sollten über die von Gorbatschow in die schäumende Feiertagsbrause gegebenen Wermutstropfen froh und dankbar dafür sein.

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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