Lutz Jahoda: "Der Irrtum"

Buchtipp In der DDR war Lutz Jahoda Fernsehliebling. Im Westen dürfte das Multitalent leider unbekannt sein. Als Schriftsteller legte er Literatur von hoher Sprachkultur vor

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Nicht zuletzt durch die Eskalation der Ukraine-Krise ist eine gefährliche Situation in Europa entstanden. Mit Europa, respektive der EU, welche sich aufgrund gleich mehrerer schwerwiegender Probleme selbst im Wanken befindet, steht es nicht eben zum Besten. Deswegen und darüber hinaus büßt die Institution beim Wahlvolk wegen Demokratiedefiziten an Legitimation ein. Die Gewinner sind Parteien des rechten politischen Spektrums. Überwunden geglaubter Nationalismus keimt wieder auf. Sogar die Gefahr eines möglich werden könnenden dritten Weltkrieges wird hier und da an die Wand gemalt. Aber ist es auch ohne eine solche – wohl eher nicht eintretende - Katastrophe - nicht schon schlimm bestellt um Europa? Einer neuer Kalter Krieg – die Hauptverantwortung dafür liegt zweifelsohne beim Westen – hat bereits begonnen.

Neue Schlafwandler?

Der australische Historiker Christopher Clark hat in seinem Buch „Die Schlafwandler“ nach Erklärungen dafür gesucht, wie es zum Ersten Weltkrieg kommen konnte. Clark meint, die Handlungen (oder das Nichthandeln) der politischen Akteure in den wichtigsten Machtzentren des damaligen Europa, die dabei entstandenen Wechselwirkungen aufeinander sowie deren Versagen in entscheidenden Momenten und gravierende Fehleinschätzungen hätten seinerzeit dazu geführt, dass man sozusagen „schlafwandelnd“ in den Ersten Weltkrieg geraten sei.

Am ehesten nachvollziehbar für die Nachgeborenen werden gravierende gesellschaftliche Veränderungen anhand von Biografien einzelner Menschen vorheriger Generationen. Wie und unter welchen Bedingungen lebten sie etwa vor einem Krieg – wie in ihm und nachdem er vom Zaun gebrochen wurde?

Lektüre, die in die momentan hochbrisante Zeit passt

Der Zufall – oder soll ich schreiben: günstige Umstände? wollte(n) es, dass ich ausgerechnet in dieser momentan hochbrisanten Zeit (was leider viele meiner Mitmenschen überhaupt nicht zu bemerken scheinen) auf eine spannende und sehr gut erzählte Roman-Trilogie stieß. Für mich passte diese wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge!

Multitalent Lutz Jahoda

Der dreibändige Roman trägt den Titel „Der Irrtum“. Geschrieben hat ihn ein bekannter DDR-Unterhaltungskünstler: Lutz Jahoda. In den Altbundesländern wird der Name des in Brünn/Brno geborenen grandiosen Künstlers - des Moderators, Schauspielers und Autors Lutz Jahoda leider wohl kaum geläufig sein. Eine von vielen bedauerlichen Fehlstellen. In der DDR dagegen war der Mann ein Publikumsliebling. Unterhaltungskünstler – gar noch Schlagersänger? Da werden manche an dieser Stelle vielleicht die Nase rümpfen. Denen empfehle ich wärmstens das Buch „Achtung! Vorurteile“ von Sir Peter Ustinov. Multitalent Lutz Jahoda selbst drückte es in seiner Autobiografie so aus: „Vorurteile kleben wie Schusterpech am Leben.“

Lutz Jahoda, 1927 geboren, aber – das walte Hugo: wie eh und je geistig frisch - nun aufs neunte Lebensjahrzehnt zu schreitend, versteht es fesselnd ausdrucksstark und stilsicher zu schreiben. Er hat historische Hintergründe im Kopf bzw. weiß sie anhand von Archivmaterial exakt einzuordnen. Jahoda war stets und ist es nach wie vor: weltpolitisch hoch interessiert. Weshalb er Zusammenhänge und Vorgänge – und zwar auch nach wie vor die aktueller Natur - einzuordnen vermag. Ob er Lateiner ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber Jahoda dürfte dem in dieser Sprache verfassten Satz Nihil fit sine causa - Nichts geschieht ohne Grund - gewiss zustimmen. Nach seiner erfolgreichen Karriere als Unterhaltungskünstler widmete sich Lutz Jahoda verstärkt dem Schreiben. Von vornherein hatte der gebürtige Brünner nämlich Journalist werden wollen. Doch ein sich schneller ergebendes Theaterengagement, das er annahm, setzte Jahoda auf ein anderes Geleis. Aber das Schreibtalent nutzte der vielseitige Künstler auch auf diesem gekonnt immer wieder.

Das Leben von Tschechen und Deutschen vor und in düsterer Zeit

Besagte Roman-Trilogie „Der Irrtum“ handelt von der Brünner Familie Vzor. Die Geschichte von Josef Vzor, dessen Frau, seiner Söhne, Freunde und Feinde - die tatsächlich, wenn auch unter anderen Namen lebten, ist von Anfang an spannend erzählt. Nur „Handlung und Personen“, merkt der Autor an, „folgen einer fiktiven Dramaturgie.“ Was den dreibändigen Roman u.a. auszeichnet: er gibt aus eigenem Erleben – nämlich des Verfassers höchstselbst - heraus einen interessanten Einblick in das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen in der 1918 gegründeten Tschechoslowakischen Republik (ČSR). Das sicher nie ganz unproblematisch gewesen war, jedoch im Großen und Ganzen funktioniert hat. Doch die Zeiten sollten sich verdüstern: Am 15. März 1939 marschierten Truppen der faschistischen deutschen Wehrmacht in den Restteil der ehemaligen ČSR ein. Fortan – lange vierundsiebzigeinhalb Monate bis Fronleichnam 1945 - musste der Rumpfstaat den Namen Protektorat Böhmen und Mähren tragen. Das Leben der Menschen veränderte sich einschneidend. Selbstredend blieb auch die Familie Vzor nicht teils tragischen Lebensereignissen verschont. Die Beziehungen zu den tschechischen Mitmenschen wurden – hier die von Vzor – wurden zwar mehr oder weniger weiter gepflegt. Doch waren diese mehr und mehr von Misstrauen getrübt. In jener düsteren Zeit wurde Erbarmen und Menschlichkeit kleingeschrieben. Dennoch hatten Empathie und Liebe Platz in manchem Herzen. Schmerzhafte Erinnerungen ritzten die Umstände und Geschehnisse in die Seelen von Tschechen und Deutschen.

Jahoda versteht es die Leser mittels eines vorzüglichen Schreibstils an die Geschichte der Familie Vzor zu fesseln

Lutz Jahoda führt die Leser zunächst sanft in das Leben der Familie Vzor ein. Und es dauert gar nicht lange, da hat er uns mittels seines ganz vorzüglichen Schreibstils gepackt. Immer weiter lässt man sich in das Geschehen hineinziehen. Mit wachsendem Vergnügen! Und man folgt den Zeilen eines so versiert zu Werke gehenden, im wahrsten Sinne des Wortes Schrift – Steller, zu nennenden Autors bald mit hüpfendem, dann wieder fast stehenzubleiben drohendem Herzen. Mir ging es so: Eigentlich wollte ich das Buch gar nicht mehr zuschlagen. Ich war von dem ausgefeilten Schreibstil angesogen und überließ mich dem Strudel mit Freuden. Mit bangend und hoffend, mitleidend mit den Protagonisten – fragend, was einem wohl zum Anhänger einer schlimmen Ideologie oder zum Mitläufer der diese vertretenden Diktatur werden lassen kann - hängt man an dieser Geschichte von A bis Z.

Bis ins kleinste, selbst technische Detail perfekt erzählt

Der Untertitel des ersten Bandes „Das Schöne war nichts als des Schrecklichen Anfang“ lässt schon Düsteres vorahnen. Aber da gibt es immer einiges an Humorvollen, köstlich beschriebenen heiteren Augenblicken, die vorangegangene Vorahnungen für den Moment wieder vergessen machen. Die Orte des Geschehens, die Stadt Brünn selbst und das Leben der Menschen - all das ist vom Autor so brillant beschrieben, dass man meint selbst mittendrin zu stehen in den Geschichten. Dazu immer wieder tschechische Wort- und Satzeinsprengsel. All dies, das gesamte beschriebene Drumherum ist perfekt bis ins kleinste und selbst technische Details hinein beschrieben und gibt die damalige Lebenssituation von Tschechen und Deutschen sehr klar wieder. Zeigen so, wie das Eine mit dem Anderen – Bürger verschiedener Zunge, aber eines gemeinsamen Staates neben- oder miteinander ganz gut zu leben verstanden hatten. Und was sich an Rudimenten des Menschlichen davon selbst unter deutsch-faschistischer Besetzung noch zu erhalten vermochte.

Menschliches in unmenschlichen Zeiten

Darüber wird der Leser von Lutz Jahoda anrührend – immer auch die Ängste in lebensbedrohlichen Situationen mit transportierend – im Teil mit dem Untertitel „Die Hütte Gottes bei den Menschen“ unterrichtet.

Trauriges Ende

Der dritte Teil „Nur die Toten durften bleiben“ nimmt seine Leser schlussendlich mit hin zum im ersten Band bereits angekündigtem Schrecklichen. Bei allem auch an Humor in Jahodas Text Vorkommenden: Wir haben es in seiner Gesamtheit doch eher mit einer traurigen Geschichte zu tun.

Epilog mit komödiantisch gefärbter Feder niedergeschrieben

Der dem dritten Teil hintan gesetzte Epilog lässt Leserinnen und Leser aber dann immerhin mit einigermaßen Erfreulichem – dank sozusagen mit komödiantisch gefärbter Feder niedergeschriebenem Schlussakkord - wieder aus dem Strudel gleiten, welcher sie über 1038 Seiten begeistert gefangen gehalten hat. Prädikat: Lesenswert! Literatur, welche zu unterhalten versteht, gleichzeitig fesselnd Geschichte nahebringt und noch dazu höchsten literarischen Ansprüchen genügt. Sprachkultur vom Feinsten. Umgesetzt mit einem beim Lesen begeisterndem Schreibstil. Ein wahrer Genuss! Der Dreibänder schreit m. E. nach einer Verfilmung.

Erstklassiger Text zur Völkerverständigung

Dieser Text, obschon einige Jahre auf dem Markt, passt perfekt in unsere von Krisen erschütterte Zeit. Die Roman-Trilogie kann als ein erstklassiger Beitrag zur Völkerverständigung gelten. Tschechen und Deutschen mögen auch heute noch nicht völlig vom Druck und gegenseitigen Schuldzuweisungen, die aus jener von Lutz Jahoda beschriebenen Zeit herrühren, befreit sein. Psychologen haben dafür Erkenntnisse. Von Völkern erlittene Traumata lagern noch mehr oder weniger im Unterbewusstsein von deren Nachfahren. Nicht selten über Generationen hinweg. Lutz Jahoda hat selbst Heimat, wie auch seine Heimatstadt Brünn, verloren. Aber ein verbissener, anklagender Vertriebener, vergleichbar mit der Berufsvertriebenen Erika Steinbach, die anscheinend wenig dazu gelernt hat, ist er nie gewesen. Denn Jahoda wusste und weiß um Ursache und Wirkung. Hat es selbst erlebt. Krieg rangierte vor Vertreibung. Freilich weiß auch Jahoda, dass den Deutschen später ebenfalls Unrecht widerfuhr. Als man sie aus der Nachkriegstschechoslowakei austrieb und viele von ihnen unweit von Brno im Straßengraben ihr Leben aushauchten. Jahoda klagt nicht an. Nein. Er schrieb diesen in so gut wie in jeder Hinsicht empfehlenswertem Dreibänder „Künftigen Generationen zur Mahnung“. Nicht nur an die Adresse an die nachfolgenden Generationen Deutschlands und Tschechiens gerichtet, sondern auch an jene aller „Bürger in mehrsprachigen Ländern. In der Hoffnung auf ein gesund zusammenwachsendes friedliches Europa in einem Klima weltumspannender Duldsamkeit“, wie zu lesen steht.

Jahoda zu lesen ist eine Bereicherung

Doch lernt der Mensch aus seinen Fehlern? Eingangs war von den derzeitigen Krisen Europas, der EU und sogar von Kriegsgefahr die Rede. Lutz Jahoda muss gegenwärtig nun beinahe Tag für Tag mitansehen, dass das von ihm so sehr gewünschte „friedliche Europa in einem Klima weltumspannender Duldsamkeit“ mehr und mehr in die Ferne rückt. Dass von früheren Herrschern schon einmal gemachte Fehler in ähnlicher Weise wiederholt werden. Wer Jahoda auf Facebook folgt, kann dazu seine pointierten von hohem Geschichtswissen und politisch wie humanen Einfühlungsvermögen hintersetzten Kommentare lesen. Wie dessen Zeilen in seinen Büchern sind auch diese intelligenten kurze Texte von hoher Sprachkultur geprägt. Weshalb sie sitzen. Vielleicht sollten die Herrschaften, von denen wir uns derzeit regieren lassen müssen, sich diese einmal zu Gemüte führen. Beim G7-Gipfel zum Beispiel. Ich wiederhole mich: Jahoda lesen ist eine Bereicherung. Als Urlaubslektüre durchaus zu empfehlen. Womöglich werden die drei Bände für die schönste Zeit des Jahres nicht ausreichen als Lesestoff. Ein Tipp: Auch Jahodas andere Texte sind nicht minder lesenwert.

Das Buch:

Lutz Jahoda

DER IRRTUM Band 1 – 3; erschienen bei edition lithaus

Mehr zu Lutz Jahoda auf seiner Website.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

asansörpress35

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden