Mörderisches Finale

Buchvorstellung Ein bedrückendes, aber ungemein wichtiges Buch. Kurz vor der Befreiung wurden im Frühjahr 1945 noch tausende Nazigegner "ausgeschaltet". Über die "Endphasenverbrechen"

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Der Zweite Weltkrieg begann mit dem Überfall des faschistischen Deutschen Reiches auf Polen am 1. September 1939. In der Folge wurde weltweit gekämpft und es wurden Kriegsverbrechen und grausamste Massenmorde verübt. Insgesamt wurden schätzungsweise mehr als 70 Millionen Menschen getötet.
Die höchsten Verluste musste die Sowjetunion verzeichnen: Rund zehn Millionen Soldaten der Roten Armee wurden getötet oder starben in Kriegsgefangenschaft. Insgesamt verloren mindestens 24 Millionen sowjetische Bürger ihr Leben – bedingt durch den Rassenwahn des nationalsozialistischen Deutschlands. Die meisten Zivilisten wurden hingegen in China ermordet. (Quelle: Statista)

Noch 1945 wurde weiter gestorben. An der Heimatfront geschahen „Endphasenverbrechen“

Mit der Jahreszahl 1945 verbinden viele Menschen das Ende des Zweiten Weltkriegs. Was nicht falsch ist. Nicht wenige Menschen meinen jedoch, damit sei auch das sinnlose Töten von Menschen beendet gewesen und der Frieden angebrochen. Doch dem ist überhaupt nicht so. Es ist vielmehr – wenn man so will: ein tödlicher Irrtum. Dem Zweiten Weltkrieg war nämlich vielerorts ein „Mörderisches Finale“ beschieden. Es geschahen etliche sogenannte „Endphasenverbrechen“. Davon kündet ein im vergangenen Frühjahr bei PapyRossa erschienenes Buch von Ulrich Sander. Zu dessen Realisierung eine erkleckliche Anzahl weiterer Menschen beigetragen haben. Einige sind unterdessen bereits verstorben. Eingangs des sehr informativen Buches sind deren Namen aufgeführt.

Als der Krieg seinem Ende zuging wollten Nazifunktionäre und alle Büttel des Hitlerregimes aller möglichen Ebenen und Behörden jede Menge von Gegnern mit ins Grab nehmen, wenn sie schon fürchten mussten, dass es ihnen selbst bald an den Kragen gehen würde.

Zum Buch heißt es:

„Kurz vor der Befreiung wurden im Frühjahr 1945 tausende Nazigegner „ausgeschaltet“. Gegen deutsche und ausländische Antifaschisten wie gegen Wehrmachtssoldaten, die sich am Wahnsinn nicht mehr beteiligen oder ihm ein Ende bereiten wollten, wurde ein groß angelegter Mordfeldzug in Gang gesetzt, um einen antifaschistischen Neubeginn nach dem Krieg im Keime zu ersticken. SS, Gestapo, aber auch einfache NSDAP-Mitglieder, Volkssturmmänner und Hitlerjungen nahmen teil an Massakern im Ruhrkessel, an Erschießungen in vielen Städten und Dörfern, am Mord an Gefangenen aus KZs und Zuchthäusern auf Todesmärschen, an Standgerichten gegen Deserteure. Die Verbrechen in der allerletzten Phase des Krieges waren sowohl örtliche Amokläufe als auch Teil der Nachkriegsplanungen des deutschen Faschismus. Ulrich Sander bilanziert das Ausmaß der Verbrechen, um die Opfer dem Vergessen zu entreißen und die Täter zu benennen. In dieser zweiten, erheblich erweiterten Auflage liefert er eine – wenn auch noch immer unvollständige – Gesamtdarstellung dieser Vorgänge. Mit einem Personenregister.“

Der Zweite Weltkrieg ging sozusagen nahtlos in den Kalten Krieg über

Einige Nazis hofften gar mit den USA zusammen den Krieg gegen die verhasste Sowjetunion sozusagen nahtlos fortsetzen zu können. Entsprechende geheime Kontakte hatte es sogar während des Zweiten Weltkriegs gegeben. Das stieß schließlich – trotz entsprechenden Befürwortern – immerhin auf Widerstand innerhalb der US-Administration. Allerdings ging dann der Zweite Weltkrieg gewissermaßen übergangslos in den Kalten Krieg über. Der, wie wir wissen, bis 1990 andauerte.

Anmerkung meinerseits: Und als hätten wir nichts dabei gelernt, ist längst wieder ein neuer Kalter Krieg entfacht worden. Mit dem kaum verblümten Ziel in Russland einen Regimechange vorzunehmen.

In die nun bereits 2. Auflage des Buches sind nun weitere inzwischen gewonnene Erkenntnisse eingeflossen. In seinem Vorwort schreibt Ulrich Sander (S.14):

„Bei der Erforschung der Endphasenverbrechen im Ruhrkessel gingen wir zunächst davon aus, dass der NS-Apparat in Gestalt der Gestapo Zeugen ausschalten wollte. Indem wir den Kontakt zu zunächst rund 20 Städten mit Endphasenverbrechen aufbauten und ausweiteten und zudem den Blick auch auf die Monate nach dem Mai 1945 richteten, stießen wir auf tiefer gehende, auf die Zukunft weisende Interessen der Täter.“

Darüber schreibt im Buch Reinhard Opitz in seinem mit „Bereits für den nächsten Krieg“ überschriebenen Kommentar (S.254).

Ulrich Sander und Ernst Söder (Vorsitzender des Fördervereins Steinwache/Internationales Rombergpark-Kommitees merken an (S.14): Die Auswirkungen der ausgebliebenen Entnazifizierung sind bis heute spürbar.“

Weitere Informationen zum hier besprochenen Buch finden Sie hier (Quelle: VVN-BdA)

Das herrschende Geschichtsbild wiederum ist immer das Geschichtsbild der Herrschenden“, merkt Gerhard Fischer an

Gerhard Fischer schreibt auf S.21: „Vorliegendes Buch liefert Informationen darüber, welche Kreise dem Hitlerfaschismus zur Macht verhalfen und von dieser Macht in reichem Maße profitierten. Die gleichen Kreise dominieren auch die Bundesrepublik. Das herrschende Geschichtsbild wiederum ist immer das Geschichtsbild der Herrschenden.“ Deswegen verwundere es nicht, wie es „um diese Erinnerungskultur in diese Republik bestellt“ sei. Und Fischer (2013 verstorbener Mitbegründer des Bundes der Antifaschisten in der DDR) mahnt: „Die Gefahr, dass solche Tendenzen weiter um sich greifen, ist nicht gering. Ihr will das Buch mit seinen Mitteln und Möglichkeiten entgegenwirken.“

Das Buch erinnert u.a. daran, dass die DDR vielerorts an in denn letzten Kriegstagen von SS-Banditen ermordete Menschen mit Bronzetafeln und Plaketten erinnerte. Und überhaupt gute antifaschistische Erinnerungsarbeit leistete. Leider war festzustellen, dass nach der Wende 1990 diese Erinnerungstafeln mancherorts entfernt oder mehrfach zerstört wurden, weshalb sie wieder erneuert werden mussten.

Bei sogenannten „verschärften Verhören“ haben Verhaftete schlimmste Torturen erfahren. Ein Zeuge in einem Nachkriegsprozess berichtete u.a.:

(…) „Ich bin von Vogler verhört worden. Die Sekretärin Hildebrandt ging raus. Vogler zog eine Schublade heraus und nahm einen Gummischlauch, drohte und sagte: ‚Leg dich nur hin!‘ Dann schlug er mich fünf bis sechs Mal. Bei der Vernehmung konnte er mir nicht das Geringste nachweisen, trotzdem musste ich dreimal über den Tisch. Vier Wochen hatte ich Nierenbluten, sechs Wochen konnte ich nicht sitzen, weil das Gesäß furchtbar zerschlagen war.“ (…)

Auf Seite 108 erfahren wir, was später über ihn bekannt wurde: „Auch der Gestapo-Oberassistent Vogler wir, wie so viele andere, als vermisst gemeldet. Vermisst? Noch am 7. Januar 1946 war der Gestapo-Mann Kurt Vogler nachweislich in amerikanischer Gefangenschaft und befand sich in Dachau unter der Nummer CIA o 1200 CIE 29/! 13 D. Wo steckte Vogler danach? Ist er wie so viele von den Amerikanern gedeckt worden? Wurde er als US-Geheimdienst-Mann mit Gestapo-Erfahrung verwendet?“

Den Hauptschwerpunkt im Buch nimmt das Kapitel II „Morde an der Heimatfront“ (ab Unterkapitel 1. „Morde in letzter Stunde“. Himmlers Befehl ein (S.29).

Schilderung schlimmster Verbrechen all überall.

Als besonders grausam und unmenschlich gingen die sogenannten „Karfreitagsmorde“ im Dortmunder Rombergpark und der Bittermark in die Annalen ein. Ein „Massenmord kurz vor Kriegsende“ (S.37) – Die US-Army stand schon wenige Kilometer entfernt am Stadtrand von Dortmund.

An die 280 bis 300 Menschen waren damals in der Bittermark und in einem nahen Park von Nazi-Schergen brutal ermordet worden. Noch in den letzten Dortmunder Kriegstagen, Ostern 1945 (die US-Armee war nicht mehr weit von Dortmund entfernt), vom 7. März bis 12. April 1945, wurden Zwangsarbeiter aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Jugoslawien, Polen und der Sowjetunion sowie deutsche Widerstandskämpfer aus dem Hörder Gestapo-Keller und dem Gefängnis Steinwache in den Rombergpark und in die Bittermark verbracht und dort per Genickschuss ermordet. Alljährlich findet dort das „Karfreitagsgedenken“ statt. Lesen Sie dazu auch Beiträge von mir hier, hier und hier.

Die Schilderung eines Bürgers später:

„Man ist zu den Nazis gegangen, die wir kannten, und die mussten dann alle mit Schippe antreten. Und dann haben wir sie da raufgebracht in die Bittermark, und da mussten sie dann graben. Dann haben sie die 54 Leichen ausgegraben. Die waren alle mit Stacheldraht auf dem Rücken gefesselt und waren vorher geschlagen worden – blaue Augen, die Oberschenkel der Frauen waren zerschlagen, mit Peitschen und mit Draht, haben wir damals sogar gesagt, weil es so schmale Spuren waren Ich hab sogar ‚Handschuhe‘ gesehen, als wenn die Haut angefallen wäre, richtig wie Handschuhe lagen die Hände da, ganz weiß, also mussten die schon lange gefesselt sein, dass die Finger abgestorben waren. Die Nazis mussten sie alle ausgraben.“

Ungenügende juristische Verfolgung der Nazi-Verbrechen

Die juristische Aufarbeitung der Dortmunder Nazi-Verbrechen geriet dann wie sooft auch anderswo in Westdeutschland mehr oder weniger enttäuschend. „Am 27. Januar 1952“, lesen wir auf Seite 106, „fast sieben Jahre später, begann vor dem Dortmunder Schwurgericht der Prozess gegen 27 ehemalige Angehörige der Dortmunder Gestapo wegen Aussageerpressung im Amt in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung und wegen Beihilfe zur Tötung (§ 212 StGB).

Ein Zeuge (S.113) bekundet im Ermittlungsverfahren, dass Gespräch von zwei SS-Männern „während der ‚Wiederherstellung ihres seelischen Gleichgewichts‘ durch reichlichen Alkoholgenuss über Einzelheiten des Verbrechens unterhalten haben.“ Der eine soll zu dem anderen gesagt haben: „Wen hast du gehabt?“ und der andere ihm geantwortet haben: „Ich hatte die Gillessen. Die war nicht kaputtzukriegen. Da hab ich sie rumgedreht und ihr nochmals in die Fresse geschossen.“ Die Namen der Mörder waren dem Zeugen „nicht mehr eingefallen“. (Anmerkung C.S.; Martha Gillessen war eine Widerstandskämpferin und Kommunistin; Quelle: Wikipedia)

Leider wurden viele Nazi-Verbrecher viel zu gering oder gar nicht zur Rechenschaft gezogen. Doch damit nicht genug: Nicht wenige von ihnen, auch Leute, die sich bei der Polizei die Hände schmutzig gemacht hatten, kamen sozusagen sogar wieder in Amt und Würden in Westdeutschland! Nicht selten in den gleichen Behörden und auch höheren Positionen! Auch die Besatzungsmächte in Westdeutschland hätten das Interesse an diesen Prozessen verloren, heißt es im Buch. Was auf mit damals an Fahrt gewinnenden Kalten Krieg zurückgeführt wird.

„Die Urteilsbegründung des Schwurgerichts in Dortmund, die am Freitag, den 4. April 1952 vorgetragen wurde, hielt denn Angeklagten viele ‚mildernde‘ Umstände für ihren Massenmord zugute. Nicht mit Befall, sondern mit ‚unerhört‘ und ‚Pfui‘ wurde das Urteil von den Hinterbliebenen aufgenommen“ (S.124)

„Die Staatsanwaltschaft hatte insgesamt 105 Jahre Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte beantragt.“ (S.125) Empörend: „Für keinen dieser Angeklagten wurde auf Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt. Von den 28 Angeklagten wurden 15 freigesprochen.“

Ein bedrückendes, aber enorm wichtiges Buch

Das Buch gehörte m.E. auch als Schullektüre verwendet zu werden. Dass nun schon eine zweite Auflage erschienen ist, zeigt, welches Ausmaß NS-Verbrechen auch noch bei Kriegsende 1945 angenommen hatten. Womöglich wird dieses Buch noch eine weitere Auflage erleben. Denn noch immer kommen so lange nach Kriegsende neue Informationen auf.

Wir sollten Ulrich Sander und allen, die am Entstehen dieses Buches Anteil hatten, sehr zu Dank verpflichtet sein. Möge „Mörderisches Finale“ eine hohe Verbreitung finden. Zumal die Zeitzeugen ihr Lebensende erreicht haben oder in Bälde erreichen werden und somit Oral History, die mündliche Verbreitung von Geschichte, durch Zeitzeugen immer weniger möglich sein wird.

Ulrich Sander

Mörderisches Finale
NS-Kriegsverbrechen bei Kriegsende 1945

2., erweiterte Auflage

Neue Kleine Bibliothek 129
Paperback, 282 Seiten

Erschienen, März 2020

ISBN 978-3-89438-734-1

Preis: 16,90 €

Zum Autor

Ulrich Sander, *1941. Journalist und freier Autor. Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN – BdA). Zahlreiche Bücher und Zeitschriftenbeiträge.

Sofern Sie, lieber Leserinnen und Leser über das hier besprochene Buch hinaus noch Interesse haben, etwas über das Schicksal von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen in Hitlerdeutschland zu erfahren bzw. Informationen an Gedenkarbeit haben möchten, möchte ich ihnen noch folgende Beiträge von mir empfehlen: hier, hier, hier, hier, hier und hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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