NSA und BND zum "Datenabgleich" in Dortmund

#StopwatchingUs Bundespräsident Joachim Gauck "beunruhigt" die NSA-Affäre nun. Andere frühere oder derzeitige Amtsträger verharmlosen. 10.000 Menschen gingen gestern auf die Straße

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Als ich im Spätsommer 1989 Walkman hörend in einer Tupolew der DDR-Airline INTERFLUG mit dem Ziel Budapest saß, ertönte im Luftraum schon über meiner geliebten CSSR via Radio Reinhard Mey ausgerechnet mit "Über den Wolken". Wenn das nicht passte! Mit flauem Magen hockte ich in den Sitz gepresst. Von Budapest aus wollte ich "abhauen" in den Westen. In die BRD."Über den Wolken", sang mir Reinhard Mey über die Kopfhörer in den mit Gedanken und Ängsten überfrachteten Kopf", "muss die Freiheit wohl grenzenlos sein ... "(via Anni Nymi; via YouTube). Ich musste schmunzeln. Freilich war ich auch damals nicht naiv: Denn auch im Westen war schon damals nicht alles Gold. was glänzte. Immerhin aber kehrte ich dem Überwachungsstaat DDR den Rücken.

Über den Wolken wäre Bundespräsident Gauck eigentlich ganz gut aufgehoben

Gegenwärtig muss ich schmunzelnd daran denken, dass die Liedzeile "Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein" auf eine Sphäre hindeutet, in der unser aller "Freiheitsapostel" Bundespräsident Joachim Gauck eigentlich ganz gut aufgehoben wäre. Schließlich säuselt der frühere Pastor ja ständig von Freiheit. Hiernieden jedoch droht der Freiheitsbegriff allmählich zu bloßen Worthülse zu verkommen. Hat dies nun auch unser Bundespräsident bemerkt, der, wir erinnern uns: einst "ungewaschen" davon erfuhr, dass man ihn für dieses Amt ausergewählt hatte? Zunächst hatte es nicht so ausgesehen. Gaucks erste Reaktion auf die NSA-Affäre und die Beurteilung des Mannes, der sie ins Rollen gebrachte hatte, Edward Snowden, war ja erst dürftig ausgefallen. Und weder Fisch noch Fleisch gewesen. Bloß nicht anecken, musste Gauck gedacht haben. Schon gar nicht beim großen Bruder USA, die dem Pastor-Bundespräsident als der Hort der Freiheit gegolten haben musste.

Gauck ist plötzlich beunruhigt

Nun aber, nachdem es ziemlich still um Joachim Gauck geworden war, sagte er nun auf einmal der Passauer Neuen Presse: "Diese Affäre beunruhigt mich sehr." Woher kam die plötzliche Angst um"seine" hochgelobte Freiheit? Gauck weiter: "Die Angst, unsere Telefonate oder Mails würden von ausländischen Nachrichtendiensten erfasst und gespeichert, schränkt das Freiheitsgefühl ein und damit besteht die Gefahr, dass die Freiheit an sich beschädigt wird." Da haben wir den Salat! "Ich hätte nie gedacht, dass in Deutschland noch einmal die Sorge aufkommen könnte, eine geschützte Kommunikation sei nicht mehr möglich", gibt Gauck den anscheinend Überraschten. Nun, es sollte uns nicht großartig wundern. Obgleich seinen mahnenden Worten zuzustimmen ist. Aber sind sie ehrlich gemeint? Oder nur Inhalt einer beruhigen sollenden Predigt? Joachim Gauck hatte wohl immer schon eine opportunistische Ader. So richtig war der Rostocker Pfarrer ja erst zum DDR-Bürgerrechtler aufgestiegen, als Honecker-Land schon untergegangen war.

Verfassungsschutzchef Maaßen: Vorwürfe gegen deutsche Dienste erledigt

Während Bundespräsident Joachim Gauck auf einmal kritische Worte findet, wiegeln andere Amtsträger in Sachen NSA-Affäre ab. Etwa Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen, der die anhaltende Debatte über die Spähaffäre des US-Geheimdienstes NSA soffenbar ausblendet. Er sieht die Vorwürfe gegen deutsche Dienste als erledigt an. Der "Welt" sagte Maaßen, von den Vorwürfen über angebliche Verfehlungen der deutschen Nachrichtendienste sei nichts übrig geblieben. Geschenkt? Zur Kenntnis genommen!

Otto Schily: Furcht vor dem Staat trägt "wahnhafte Züge" - Früher tönte der Mann mal ganz anders

Schlimmer (und pardon: dümmer) dagegen ein anderer, der einst ein anerkannter Strafverteidiger der deutschen ausserparlamentarischen Linken gewesen war. Dieser Anwalt unterschrieb damals noch die mahnenden Worte einer Erklärung der „Humanistischen Union“, in der es wörtlich heißt: „Man bekämpft die Feinde des demokratischen Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau, und man verteidigt die Freiheit nicht mit deren Einschränkung“ (1978).
(Quelle:Digitalcourage e.V. wurde 1987 als FoeBuD von den Künstlern padeluun und Rena Tangens in Bielefeld ins Leben gerufen und setzt sich für Bürgerrechte, ungehinderte Kommunikation und Datenschutz ein; via Facebook-Seite von Konstantin Wecker)

Der Name des Mannes: Otto Schily, der als Innenminister den Hut auf hatte unter der Schröder/Fischer-Regierung. Heute tönt Schily, inzwischen ein greiser, aber wohl nicht weiser gewordene Schily ganz anders. Anscheinend ist er unterdessen von einer fragwürdigen Staatsräson vollkommen eingelullt.

Konstantin Wecker schreibt auf Facebook: "Liebe Freunde, der frühere Bundesinnenminister Otto Schily rät der SPD, die Ausspähaffäre um den US-Geheimdienst NSA nicht im Wahlkampf zu thematisieren. Die größte Gefahr gehe vom Terrorismus aus, nicht von Geheimdiensten, sagte Schily dem SPIEGEL. Die Furcht vor dem Staat trage 'wahnhafte Züge'.
Prism und Tempora, Datenspeicherung und Überwachung durch den US-Geheimdienst NSA - alles kein großes Problem für Otto Schily. Im Gespräch mit dem SPIEGEL sagte Schily, man solle nicht so tun, als ob die größte Gefahr für die Menschen in Deutschland von der National Security Agency ausgehe: 'Die größte Gefahr geht vom Terrorismus und von der Organisierten Kriminalität aus. Ich finde manches Getöse, was da im Moment zu hören ist, nicht angemessen.'
Und: 'Law and Order sind sozialdemokratische Werte.'
[sic!; Ansansoerpress35]

D e r ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily, der sich für die Einführung biometrischer Ausweisdokumente stark machte, damit dem elektronischen Reisepass und dem elektronischen Personalausweis den Weg ebnete und heute in den Aufsichtsräten der Firmen sitzt, die von der Einführung dieser neuen Ausweisdokumente profitieren.
2005 Schily peitschte die neuen biometrischen Pässe über eine EU-Verordnung durch und machte sich schon früh für die Zöglinge des ePasses – den ePerso und die elektronische Ausländerkarte – stark.
Die übereilte Einführung der neuen Ausweise war nicht zum Schaden von Schily. Er wurde Mitglied in den Aufsichtsräten von byometric® systems AG und SAFE ID Solutions AG, die just jene Produkte für die biometrische Erkennung anbieten, welche für die neuen Pässe erforderlich ist. Doch nicht nur das. Schily war auch Anteilseigner von SAFE ID Solutions. Dieses für Bundesbeamte unziemliche Verhalten brachte ihm Korruptionsvorwürfe ein, die ihm in einem weiteren Fall zum Verhängnis wurden. Von Siemens nahm er 140.000 Euro für Beratungshonorare, welche er nur widerwillig deklariert hatte. Weil er die Auskunft verweigert hat, für welche Dienste er bezahlt wurde, verhängte ihm das Bundestagspräsidium ein Ordnungsgeld in Höhe von 22.000 Euro.Wie sich Menschen doch ändern können."

Bei Schily wundert einen eigentlich gar nichts mehr. Erinnert sich noch jemand an dessen "Otto-Kataloge"? Geschenkt? Nein: Nicht vergessen! Als Menschen- und Bürgerrechtsanwalt gestartet, wurde aus ihm ein grimmiger Verfechter einer überschiessenden, das Grundgesetz beschädigenden, Law-and-Order-Politik.

Erfrischend (vor diesem erschreckenden Hintergrund), hingegen, dass es noch Menschen gibt, die ganz anderer Meinung sind

Und dies, weil sie um unsere Grundrechte und die Demokratie insgesamt tief besorgt sind. Gestern gingen in mehr als 30 deutschen Städten um die 10.000 Menschen gegen die ausufernde anlasslose vollständige Überwachung des digitalen Lebens im Rahmen des #StopWatchingUs-Aktionstages auf die Straße.

Kritisert wurden die von den Überwachungs- und Ausspähprogrammen PRISM, TEMPORA und INDECT verursachten Grundrechtsverletzungen und die fehlende politische und juristische Aufarbeitung der damit zusammenhängenden Vorwürfe. Sowie um Solidarität mit dem US-amerikanischen Whistleblower Edward Snowden, der noch immer im Transitgebäude eines Moskauer Flughafens festsitzt.

Einfallsreicher Flashmob: "Datenabgleich" auf Dortmunder Einkaufmeile

Gestern traf ich solche im Sinne auch von Stéphane Hessels Manifest an die Jugend "Empört Euch!" inspirierte junge Menschen, die sich für Demokratie und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aktiv einsetzen in Dortmund. Zugegeben: von einer Massendemo konnte am gestrigen Sonnabend in der Ruhrgebietsstadt nicht die Rede sein. Etwas über zwei Hände voll Aktivisten trafen sich an diesem brütend heißen Nachmittag oberhalb der U-Bahnstation "Stadtgarten". Auch war es keine Demonstration, sondern ein Flashmob, wozu sich die Menschen getroffen hatten. Occupy Dortmund hatte dazu aufgerufen. Wenn man es denn in diesem Zusammenhang überhaupt so ausdrücken darf: Auch Kleinvieh macht bekanntlich Mist. Wobei das Ansinnen der engagierten Menschen nun wirklich alles andere als Mist, sondern angesichts der NSA-Skandals und anderer nicht minder wiegenden Missstände hierzulande und anderswo, eine pure Notwendigkeit zu nennen ist.

Nach Abgabe eines Flashmob-Startsignals begab sich die Gruppe von Aktivisten, die sich aus Mitgliedern von Occupy Dortmund bzw. der Piratenpartei - die eigens aus dem Sauerland nach Dortmund angereist waren - zusammensetzte in die Dortmunder Innenstadt. Dort wimmelte es nur so von Menschen. Darunter nicht nur Einkaufsbummler, sondern auch Fans von Bayern München und Borussia Dortmund, die am Abend ein Spiel auszutragen hatten. Die Aktivisten trugen orangefarbene Warnwesten. Auf deren Rückseite prangten Schildchen. Darauf stand NSA oder BND. Ausgerüstet waren die "Geheimdienstler" mit Fernglas, Fotapparaten und Videokameras. Die Agentenwerkzeuge richteten sie auf die Menschen in der Dortmunder Fussgängerzone (Fotos oder Videos wurden aber nicht gemacht). "Achtung!", wurde in die sich aneinander vorbei schiebenden Menschenströme gerufen, "Datenabgleich!". "Wir haben alle ihre Daten. Wir müssen nur ein Update machen". Und: "Sie haben ja nichts zu verbergen. Sie haben ihre Grundrechte abgegeben. Keine Angst, es tut nicht auch gar nicht weh.Sind Sie schon bei Facebook?" Eine wirklich einfallsreiche wie auch witzige Aktion zu einem allderdings sehr ernsten Thema.

Die Leute schauten neugierig. Blieben stehen. Viele nickten zustimmend, kannten offenbar die Problematik, weshalb sie zurückriefen: "Gute Sache!" Ein Stück weiter auf der Dortmunder Einkaufmeile informierte ein anderer "Geheimdienstler": "Heute ist Tag der Offenen Tür von NSA und BND. Wir sind ja sowieso aufgeflogen. Wir informieren Sie heute. Wir wissen alles über Sie!" Prompt fragt ein Passant mit tomatenrotem Gesicht rotzfrech: "Wie heiße ich denn?" Ein anderer etwas naiv: "Ist das wirklich wahr?"

Abermals erhebt einer der Aktivisten die Stimme: "Sie sind alle potentielle Terroristen!", und in Richtung von Bayern- bzw. BVB-Fans, "Ihr seid potentielle Gewalttäter!" Ein schon leicht alkoholisierter Mann lallt sächselnd und süffisant grinsend zurück: "Ich, ein Terrorist? Ja, Pornoterrorist!" Aber der Mann ist gemütlich, versteht Spass, informiert sich über die Aktion der Dortmunder Flashmobler. Am Ende nickt er. Man wünscht sich gegenseitig Glück. Und zieht seiner Wege. Auch vor der Filiale einer Erotik-Kette werden Menschen "observiert". Was zu Heiterkeit führt. Manche Passanten schauen etwas irretiert. Die meisten Menschen nehmen die Aktion freundlich, andere sogar ausserdem mit großer Zustimmung zur Kenntnis. Am Pylon der U-Bahnstation "Reinoldikirche" wird das Abschlusssignal verkündet: Der Flashmob ist beendet.

Fazit der Aktivisten: Es war ein Erfolg. Freilich: Es hätten ein paar Leute mehr sein kommen. Aber was nicht ist, das kann ja noch werden. Kleinvieh macht eben auch Mist. So manch Passanten wird die Aktion an diesem heißen Sonnabend doch irgendwie in Erinnerung bleiben. Bei der Hauptausgabe der "Tagesschau" - die immerhin über die bundesweiten Aktionen berichtete - dürfte so mancher, der am Nachmittag vom Dortmunder Flashmob "#StopwatchingUs" tangiert worden war gewiss daran gedacht haben. Ob darüber hinaus etwas hängen bleiben wird bei den Leuten?

Vor Ort etwas tun

Im Spätsommer 1989 kehrte ich einem Überwachungsstaat den Rücken. Um mich heute in einem hochtechnisierten, anderen Überwachungsstaat wiederzufinden? Wohin soll man heute "abhauen"? Es bleibt im Grunde nur eine Alternative: Wir müssen uns zu möglichst Vielen vor Ort für informationelle Selbstbestimmung und den Erhalt unserer Demokratie aktiv einsetzen. Reinhard Meys "Über den Wolken" und, dass dort die Freiheit wohl grenzenlos ist, bleibt auch weiterhin ein wunderbares Lied. Nur, dass einem Wort "Wolken" sofort auch die elektronischen "Clouds" einfallen können, wo unzählige unserer Daten gespeichert sind. Und dort kann - nach allem was wir nicht zuletzt auch vom mutigen Whistleblower Edward Snowden erfahren haben - von Freiheit nicht die Rede sein. Nicht jeder kann wie der wunderbare Zeitgenosse Reinhard Mey, der selbst Pilot ist, über die von ihm besungenen Wolken aufsteigen, um dort die (tatsächliche?) Freiheit zu geniessen.

Link zu den Fotos vom gestrigen Flashmob in der Dortmunder Innenstadt

Link zu einem Video vom Flashmob (via BehindCensorship via YouTube

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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