"Offener Brief an die Gewerkschaftsvorstände" (Leseempfehlung)

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Die Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst gingen letztes Wochenende mit einem vermeintlich hohen Ergebnis betreffs des vereinbarten Lohnzuwachses für deren Beschäftigten zu Ende. Ist das nun ein Zeichen für die Stärke von Gewerkschaften? Wohl kaum. Eher ein vages Anzeichen dafür, dass deutsche Gewerkschaften – in diesem Falle ver.di – dabei sind wieder zu erstarken. Fast zwei Jahrzehnte lang wurden sie zuvor von der jeweils herrschenden neoliberalen Politik unter dem Druck der Konzerne und des Finanzkapitals geschwächt und so niedergehalten, dass der Einfluss der Gewerkschaften immer marginaler (gemacht) wurde. Warum haben die Gewerkschaften dies zugelassen? Muss man ihnen nicht auch ein Versagen vorwerfen? Heidelinde Penndorf (Mitglied des Landtages von Sachsen-Anhalt von 2006-2011) hat einen “Offenen Brief an die Vorstände der Gewerkschaften” geschrieben.

Warum kam dieser Brief nicht aus den Gewerkschaften selbst?

Vorweg: Eigentlich, so finde ich, hätte dieser Brief aus den Gewerkschaften selbst kommen müssen! Nun ist er, verfasst von der ehemaligen Landtagsabgeordneten Heidelinde Penndorf und via Veröffentlichung auf der Seite der Deutschen Demokratischen Partei (ddp) in die Öffentlichkeit getragen worden. Wir alle – nicht nur die Vorstände der Gewerkschaften – täten gut daran ihn zu lesen und uns hernach unsere eignen Gedanken darüber zu machen! Schließlich befinden wir in einer der größten Weltwirtschaftskrisen seit etwa 80 Jahren und stehen in vielerlei Hinsicht (auch die Projekte Europa und Euro betreffend) am Rande eines uns düster angähnenden Abgrundes. Was nun können die Gewerkschaften tun, um ihr Scherflein an der Lösung der beträchtlichen Probleme beizutragen? Oder vielmehr: Was hätten die Gewerkschaften tun müssen, damit es gar nicht erst so schlimm kommt?!

Die Probleme sind nicht über Nacht vom Himmel gefallen

Heidelinde Penndorf – von der ich weiß, dass sie ehrenamtlich engagiert ist und sich dabei viel mit der Beratung von Hartz-IV-Betroffenen beschäftigt – ist zuzustimmen, wenn sie die Gewerkschaften nicht aus ihrer Verantwortung für gesellschaftliche Probleme entlässt. Probleme, die ja nicht über Nacht vom Himmel gefallen sind. Die schlimmsten Probleme der letzten 20 Jahre dürften ohne Zweifel von der rot-grünen Schröder-Fischer-Regierung verursacht worden sein. Sehr wohl nicht dabei vergessend, dass bereits das sogenannte “Lambsdorff-Papier” und Helmut Kohls “geistig-moralische” Erneuerung vor dreißig Jahren die neoliberale Maschine programmierten. Als Stichworte für die verbrochenen Taten in sieben Jahren Rot-Grün sollen hier nur “Hartz IV” und “Agenda 2010″ genügen. Ganz abgesehen von einer von dieser Regierung gemachten Steuer”reform”, die ein gigantisches Umverteilungsprogrammt von unten nach oben zur Folge hatte.

Auch in Sachen Gewerkschaft leistete Rot-Grün ganze Arbeit: Die Gewerkschaften – traditonell stark mit der SPD verbunden – wurden durch die Schröder-SPD ausgebremst wo es nur ging. Das führte fast hin zu einer Domestizierung, wenn nicht gar zur beklagenswerten Marginalisierung der Gewerkschaften. Schröders Kalkül und das der Bosse ging auf: Die Beisshemmung gegenüber der Gewerkschaften funktionierte. Wer nicht spurte, wurde der Lächerlichkeit preigegeben. Mit dem “Gedöns” wurde man fertig. Ausgerechnet ein aus der Gewerkschaft kommender SPD-Mann wie Walter Riester steht sogar mit seinem Namen für die Demontierung der Gesetzlichen Rentenversicherung! zugunsten der Privatversicherer!

Heidelinde Penndorf schreibt an die

Sehr geehrten Vorstände der Gewerkschaften,

in Anbetracht der sehr prekären wirtschaftlichen und politischen Lage in Deutschland und Europa, schreibe ich Ihnen, weil ich denke, dass es Zeit wird, dass sich die Gewerkschaften ihres Ursprungs besinnen.

Der im 19. Jahrhundert geprägte Begriff der sozialen Frage, sprich: die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter und ihrer Familien ist eng mit der Gründung der Gewerkschaften verbunden – ist das den Vorständen der Gewerkschaften eigentlich noch klar?

Was sich ein wenig nach Geschichtsunterricht anhört ist offenbar jedoch dringend nötig: Die Gewerkschaften sollten sich endlich einmal darauf besinnen und sich klar werden, woher sie eigentlich kommen. Und: was sie einst antrieb! Nur so dürften sie (vielleicht?) begreifen, wo sie heute stehen, welche Fehler sie gemacht haben, bzw. sich darüber verständigen und klar machen: Was wollen wir heute? Ja: Was wäre dringend notwendig zu tun?

Der Offene Brief tippt alle gegenwärtigen Probleme an

Als mir heute der Offene Brief von Heidelinde Penndorf unter die Augen kam, juchzte etwas in mir: In ihm stehen zusammengefasst – begonnen mit einem geschichtlichen Rückblick – nahezu alle wichtigen Dinge, uns auf den Nägeln brennenden Probleme, die nicht nur jeden Gewerkschafter, sondern alle Demokraten und aufrechte, glühende Europäer beschäftigen sollte. Denn: einiges steht in unseren Tagen auf den Spiel. Und sowohl unsere Demokratie als auch das Projekt Europa (so unvollkommen es vielen von uns womöglich erscheint). Der Offene Brief der Heidelinde Penndorf tippt innergesellschaftliche bohrende Probleme und Missstände (wie etwa Alters- und Kinderarmut, Zunahme von seelischen Erkrankungen) an und führt uns gleichzeitig die schon jetzt immer sichbarer werdende Folgen vor Augen. Und er macht vor dem Europäischen Stabilierungs Mechanismus (ESM) und seinen, für uns höchstwahrscheinlich schwerwiegenden Folgen (für mehrer künftige Generationen; Gregor Gysi wies letztens in seiner vielbeachteten Bundestagsrede zum Fiskalpakt daraufhin) nicht halt. Penndorf: “Der ESM kann fernab jeglicher Realiät in Zukunft machen was er will, ohne das ihm Einhalt geboten werden kann.”

Heidelinde Penndorf fragt die Gewerkschaftsvorstände:

- Haben Sie das Ohr eigentlich noch an der Masse?

- Wissen Sie eigentlich, wie es an der Basis des realen Lebens aussieht?

- Haben sich die Gewerkschaften in Deutschland der Diktatur des Kapitals gebeugt und sind dessen Diener?

Dies lesend, fiel mir wieder einmal der Satz eines Gewerkschafters anlässlich eines NachDenkTreffs im Dortmunder ver.di-Gewerkschaftshaus an: “Wir waren in den vergangenen Jahren einfach zu lieb!” Und eine Kollegin gab zu bedenken: “Wir sollten uns auch verstärkt auf der Straße zu Wort melden. In anderern Ländern wird man dafür unter Umständen erschossen!” Ein weitere Kollegen flocht ein: “Genau! Worauf warten wir eigentlich? Noch wird auf niemanden geschossen, der bei uns demonstriert.”

Heidelinde Penndorf wirft den Gewerkschaften vor, einiges verschlafen und zugelassen werden. Für die unmittelbare Gegenwart und die Zukunft ist sie wenig optimistisch. Und noch etwas schreibt sie den deutschen Gewerkschaften ins Stammbuch: Andere europäische Gewerkschaften hätten den deutschen Gewerkschaften einiges voraus.

Aber, sehr geehrte Leserinnen und Leser führen Sie sich den Offenen Brief doch selbst zu Gemüte und diskutieren Sie mit ihren Freunden und Kollegen darüber.

An den Offenen Brief an die Gewerkschaften schließt sich übrigens ein Aufruf an:

Ich hoffe, es ist mir gelungen, Sie, die Gewerkschaftsfunktionäre, wachzurütteln. Stellen Sie sich endlich auf die Seite des Volkes. Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Gewerkschaften in Spanien, Portugal, Griechenland, Italien und Frankreich …

Stehen Sie endlich an unserer Seite, wir sind die 99 Prozent!!!

Unabhängig davon, dass dieser Offene Brief wichtige Fragen unserer Gegenwart enthält und zu geflissentlichen Diskussion stellt, haben natürlich die Gewerkschaften heute gegenüber ihren historischen Anfängen nicht mehr eine geschlossene und so starke Arbeiterschaft (Arbeiterklasse) als Resonanzmasse. Nichtsdestotrotz kommt den Gewerkschaften nach wie vor eine wichtige Aufgabe zu. Sie müssen heute nur verstärkt europaweit agieren und sich überdies geeignete Verbündete in Parteien, Verbänden und gesellschaftlichen Gruppe und Bürgerinitiativen suchen. Auch hier hülfe ein Blick zurück in die Vergangenheit. Da hieß es einst einmal: “Gemeinsam sind wir stark!”

Auf die Antwort der Gewerkschaftsvorstände dürfen wir schon einmal gespannt sein …

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

asansörpress35

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