Rechtes Auge weiter blind

Deutscher Hass Wie tief ist der Nazi-Sumpf?, wollte Günther Jauch gestern wissen. Zutage traten nur wieder bekannte Skandale. Und Bundesinnenministers naive Zuversicht.

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So viele Hände hat man gar nicht, wie eigentlich nötig wären, um sie wieder und wieder überm Kopf zusammen zu schlagen. Irgendetwas mag dieser Hans-Peter Friedrich von der CSU ja haben. Bloß nötige Kompetenz und Courage um das Amt des Bundesinnenministers auszuüben, traut man dem Mann kaum zu. Aber da ist Friedrich in "guter" Gesellschaft, denn: von welcher anderen Bundesministerin bzw. welchen Bundesminister der schwarz-gelben Merkel-Regierung könnten wir behaupten, sie hätten die Befähigung für ihr jeweiliges Amt? Allenfalls von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) vielleicht noch. Und wenn es Friedrich schon an Kompetenz fehlt, zieht er dann im Nachgang zu den unsäglichen Morden des Nationasozialistischen Untergrund (NSU) wenigstens couragiert die auf der Hand liegenden Konsequenzen?

"Deutscher Hass - wie tief ist der Neonazi-Sumpf?"

Gestern lud einmal mehr ARD-Dampfplauderer Günther Jauch zu seinem gleichnamigen sonntäglichen Polittalk ins Gasometer nach Berlin ein. Unter der Überschrift "Deutscher Hass - wie tief ist der Neonazi-Sumpf?" (anzusehen via ARD-Mediathek) sollte wieder einmal Licht ins Braundunkle gebracht werden. Doch konnten wir Fernsehzuschauer gerade das allen Ernstes erwarten? Von Jauch? Respektive von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich?

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich erklärt das eigentich Unerklärbare

Jauch stellte immerhin einige einleuchtende, sogar kritische Fragen. Aber Friedrich? Der sagte in der Sendestunde zumeist, was er bislang schon desöfteren gesagt hatte. Man nimmt dem Minister ab, dass er die zehn mutmaßlich auf das Konto der NSU-Terroristen gehenden Morde (neun Mordopfer mit migrantischen Hintergrund und eine ermordete Polizistin) verurteilt und ihm die Hinterbliebenen von Herzen leidtun. Dies hat der Bundesinnenminister auch schon in Gesprächen mit den Hinterbliebenen selbst bekundet. In der Sendung sprach Friedrich auch von Pleiten, Pech und Pannen in der Ermittlungsarbeit im Behördendschungel zwischen Verfassungsschutzämtern, Landeskriminalämtern, Bundeskriminalamt und Polizeibehörden. Doch wie schon zuvor hatte Friedrich auch dieses Mal stets diverse Erklärungen parat, warum dieses so oder jenes so geschehen konnte. Erklärungen, die aber im Grunde genommen keine sind. Denn: So etwas darf einfach nicht passieren. Und schon gar nicht über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg! In welchem Leute wie Beate Tschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhard mordend durch deutsche Lande zogen. Noch dazu weitesgehend unbehelligt von Ermittlungen der Sicherheitsbehörden! Kann man da noch davon sprechen, dass dieses braune Mordtrio in den Untergrund gegangen war? Wo es sich die drei doch weder maskierten, noch ihre Identität sonst irgendwie großartig bemäntelten?

Alles im Griff? Die Journalistin Mely Kiyak macht andere Erfahrungen

Für Bundesinnenminister Friedrich steht anscheinend nur fest: Einiges lief schief. Jetzt aber haben wir aus den Pannen gelernt und die Sache im Griff. Wir dürfen unsere Zweifel daran haben. Viel eher ist man versucht, der gestern ebenfalls bei Jauch anwesenden Journalistin Mely Kiyak zuzustimmen. Die behauptet nämlich, gar nichts sei passiert. Sie selbst macht in der täglichen Arbeit diese Erfahrung. Beleidigende und sie bedrohende Post, die die Journalistin kontinuierlich erhält, wird zwar von der Redaktion an die Polizei weitergegeben. Von dort hört Kiyak dann in der Regel nichts mehr.

Verharmlosung von Rechtsradikalismus und die braune Vergangenheit des Verfassungsschutzes

Cem Özdemir (B'90/Grüne) ergänzt: Es gibt eine Verharmlosung von Rechtsradikalismus in diesem Lande. Über Jahrzehnte hinweg. Auf dem rechten Auge blind, läuft sich die Verfassungsschutzmaschinerie dagegen - Özdemir: ein Relikt aus dem Kalten Krieg - mit Verve gegen Linksradikalismus und islamistischen Terror heiß. Was Özdemir nicht sagte: Das Augenmerk auf Linke hat seinen Ursache wohl nicht zuletzt auch in der braunen Vergangenheit des Verfassungsschutzes. Bundesdeutsche Mitarbeiter der Ersten Stunde hatten einschlägige Erfahrungen aus der Nazizeit.

Mordermittlungen behindern, um "Staatsinteressen" zu schützen?

Der Rechsanwalt Thomas Bliwier des NSU-Opfers Halil Yozgat ist ebenfalls der Meinung, es sei nichts passiert. Nach wie vor erhalte er von Behörden Akten mit Schwärzungen. Es heißt lapidar: Interessen des Staates seien zu schützen. Schützt des den Staat wirklich, wenn dadurch Mordermittlungen behindert werden? Ein starkes Stück bleibt nach wie vor, dass bei der Ermordung von Halit Yozgat ein Verfassungsschützer zugegen war! Bis das ans Licht kam, dauerte es. Der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier, heute Ministerpräsident von Hessen, behinderte die Ermittlungen. Es geht zu wie in Absurdistan! Wie sonst nur in Bananenrepubliken. Hans-Peter Friedrich behauptet trotz anderer Erkenntnisse, es sei immer in alle Richtungen ermittelt worden. Angehörige von NSU-Opfern erlebten am eignen Leibe, dass es eben gerade nicht so geschah. Angehörige selbst wurden peinlich genau verdächtigt. Polizisten vermuteten hinter den Morden die türkische Mafia und andere auf die spezielle Ethnie projizierte Straftaten als Grund dafür. Sonderkommissionen hießen "Halbmond" und dann verschlimmbessert "Bosporus". Kann man da von Ermittlungen in alle Richtungen sprechen? Die Medien standen da keinesfalls nach: Von "Döner-Morden" war ewig und drei Tage die Rede!

Verfassungsschützer nervenschwach und alles andere als pfiffig

Mely Kiyak, die im NSU-Untersuchungsausschuss sitzt, erklärt, immer wieder erschrocken darüber gewesen zu sein, mit welchen Verfassungsschützern man es dort zu tun bekomme. Sie hatte sich immer vorgestellt, diese Beamte müssten ziemlich pfiffige Burschen sein. Dabei zeigten sich einige von denen im Ausschuss wohl vielmehr nervenschwach. Oder hinterließen bei den Ausschussmitgliedern den Eindruck so gehandelt zu haben, wie man gemeinhin glaubt, "Dorfpolizisten" handelten so! Manche Exemplare wussten immerhin, dass man mit einer Pistole schiessen kann. Toll! Dumpfbacken und von denen nicht selten hinters Licht geführte Verfassungsschutz-Chefs (ein paar von denen traten inzwischen zurück) schützen also unsere Verfassung. Na denn Prost Mahlzeit! Apropos Prost: Das kleine juristische West-Licht Helmut Roewer konnte einst gar Präsident des Thüringer Landesamts für Verfassungsschutz werden. Schon bei bei der Entgegennahme seines Ernennungsschreibens war der Mann tutengrau. Heute publiziert der Ex-Verfassungsschützer bei einem rechten Verlag.

Thomas Kuban: NPDler als V-Leute in der NPD sind überflüssig

Man kann nur mit dem Kopf schütteln! Thomas Kuban, der die braune Szene gut kennt, gestern bei Günther Jauch hat recht: Warum eigentlich bezahlt der Staat NPDler als dubiose V-Leute, wo diese Partei doch offen und ehrlich sagt, was sie im Falle einer Machtergreifung zu tun gedenkt? Wie ist es möglich, dass immer wieder stramm-rechte Bands auftreten können, die offen rassistische und zu Gewalttaten ermunternde Texte zum Besten geben? Dabei ist oft Polizei mit Raum! Die Gruppe "Freiwild" hört man verdutzt, soll demnächst in der Westfallenhalle Dortmund auftreten. Kuban: Eine städtische Halle! Wo bleibt der Aufschrei der Verantwortlichen? Dortmund hat doch angeblich den Kampf gegen die Nazis in der Stadt aufgenommen? Man hat eine braune Truppe verboten, ja - doch wie passt das Konzert dazu? Weiß man wieder einmal nichts darüber?

Immer wieder werden hierzulande sich gegen Rechts und für Minderheiten engagierende Menschen mit dem Wort "Gutmenschen" diffamiert.

Nazi-Täter auf freiem Fuß: Nun sind es "nur" noch achtzehn

Nichts ist gut. In einem Land, wo nahezu konstant über Jahre hinweg um die 20 Prozent der Bevölkerung anfällig für rechtes Gedankengut sind! Da nimmt es dann auch nicht wunder, was die Journalistin Mely Kiyak gestern bei Günther Jauch anspricht: Es gibt einen Rassismus in den Behörden. Dagegen muss glaubwürdig und vehement angegangen werden! Doch was passiert? Mit der "Extremismusklausel" behindert die Bundesregierung die Arbeit gerade jener gegen Rechts engagierten Vereine explizit! Grotesk! Hundert mit rechtsextremistischen Taten in Verbindung stehende Täter - hieß es noch vor Kurzem - laufen in der Bundesrepublik trotz Haftbefehl frei herum. Wie durch ein Wunder sind diese 100 in Innenminister Friedrichs Amt nun plötzlich auf die Zahl Achtzehn geschrumpft. Ein Schelm wer böses dabei denkt: In braunen Kreisen bedeutet diesen Zahl - erster und achte Buchstabe des Alphabets - Adolf Hitler.

Braune Gewalt verniedlicht und sogar vertuscht

Eine zu denken gebende Erkenntnis aus der gestrigen Jauch-Sendung: Es hat sich eigentlich nichts verändert, um Boden gut zu machen im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Dazu müsste nämlich erst einmal der Wille dazu da sein! Nach wie vor gilt: Am Tage finden in Deutschland zirka 34 rechte Gewalttaten statt. Nur oft werden sie nicht als solche benannt. Man spricht und schreibt dann von einfachen Schlägereien. Es handelt sich natürlich um Einzeltäter und Einzeltaten. Rechte oder Nazi-Taten, das wird nicht gern gehört. Es schreckt potentielle Investoren ab. Wenn stimmt, was in der gestrigen Sendung aufschien, dass schon vor 2006 Erkenntnisse über die mordende NSU bekannt waren - die Behörden dies aber vertuschten, um ausländische Gäste der Fifa-Fussball-Weltmeisterschaft nicht abzuschrecken, wäre das ein Skandal von besonderer Schwere.

Hans-Peter Friedrich, Verharmloser, Beschöniger und Beschwichtiger

Und überhaupt: es stinkt in dieser Republik etwas gehörig zum Himmel, wenn es über einen Zeitraum von zehn Jahren nicht gelingt, mordend durch das Land ziehende Nazis das blutige Handwerk zu legen. Der Innenminister der schwarz-gelben Bundesregierung gab sich gestern in der ARD-Jauch-Sendung zuversichtlich, dass nun die Weichen richtig gestellt sind, um künftige Nazi-Taten zu verhindern. Indes: Man möchte das gerne glauben. Doch es fällt sehr, sehr schwer. Hans-Peter Friedrich hatte als Minister "Unbedarft" einfach zu viele Ausreden für Geschehnisse, die nun einmal unentschuldbar sind. Er erging sich in Beschwichtigungen und lobte deutsche Nachrichtendienstmitarbeiter, die einen großartigen Ruf in der Welt genössen über den grünen Klee. Dabei wusste Günther Jauch einzuflechten, was ihm gewesenen Bundeskanzler mitgeteilt haben: Niemals hätten die durch deutsche Nachrichtendienste etwas von Wert erfahren. Dieser Bundesinnenminister wirkte gestern wieder einmal naiv und so harmlos zufrieden mit seiner Welt, dass es einen jammerte. Er versuchte sich als Beschöniger und Verkleisterer. Was allzu durchsichtig wurde: Die Realität spricht eine andere Sprache. Dazu passten die verharmlosenden, der Beschwichtigung dienen sollenden, das Skandalöse des vorangegangen Unbegreiflichen herunterspielenden Worte keineswegs. Höchstens zum Amt und Wesen des Innenministeriums, wie es Schwarz-Gelb versteht. Hans-Peter Friedrich hinterließ den Eindruck, dass er in bedenklichem Ausmaß ahnungslos und einigermaßen unbedarft sein Berliner Amt versieht. Schlimmer noch, nach der gestrigen Sendung drängte sich mir die wirklich beängstigende Ahnung auf, das könnte der eigentliche Auftrag sein, den dieser Mann erfüllen soll.

Nichts in Ordnung

Nicht nur die Hinterbliebenen der NSU-Mordopfer dürften - verständlicherweise! - das Vertrauen in den deutschen Staat und dessen Sicherheitsbehörden verloren haben, dass die wirklich ernsthaft um die Aufklärung der braunen Terrortaten bemüht sind und künftige verhindert werden könnten. Sondern auch immer mehr Menschen allgemein hierzulande werden diesbezüglich ihre Zweifel haben. Günther Jauch fragte in seinem gestrigen Polittalk wie tief der Neonazi-Sumpf sei. Die Frage wurde nicht beantwortet. Aber wer hatte das auch erwartet? Eines jedoch dürfte gewiss sein: Der braune Sumpf ist da. Und man mag mit Cem Özdemir hoffen, dass es einen so genannten "Tiefen Staat" in unserer Republik nicht gibt. Fakt ist allerdings, dass tief im Staate - wie in der gesamte Gesellschaft - Rassimus gedeihen kann und braune Blüten treibt. Dem wird nicht entschieden entgegen getreten. Im Gegenteil! Was auch NSU-Landtags- und Bundestags-Untersuchungsausschüsse an den Tag bringen: Seitens staatlicher Behörden wird nach wie vor getricktst, verschleiert und getäuscht. Akten sind "plötzlich" nach Vorschrift geschreddert oder Ermittlern und Untersuchungsausschüssen vorenthalten worden. Von Aufklärung kann in Sachen brauner Sumpf bislang keine Rede sein. Von Verklärung und Vernebelung dagegen schon. Wer kann ein Interesse daran haben? Verfassungsschutz - der Begriff, die Institution - das hört sich längst wie der reinste Hohn an. Wer schützt uns vor diesem Verfassungsschutz? Dieser Nachrichtendienst sollte schleunigst abgeschafft werden. Oder wie Cem Özdemir gestern meinte, neu gegründet werden. Darüber aber war von Hans-Peter Friedrich kein Wort zu hören. Für den Bundesinnenminister ist diese Welt im Prinzip in Ordnung. Aber es ist mitnichten so. Längst gilt auch für unser Deutschland der auf den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gemünzte Satz:der einstigen Beschöfin Margot Käßmann: Nichts ist in Ordnung. Für Günther Jauch mag nach der gestrigen Gesprächsrunde einmal mehr gelten: Schön, dass wir mal drüber gesprochen haben. Am Polittalk-Schluss - man sah's - hätte der leicht zerknirscht drein blickende Hans-Peter Friedrich wohl gerne noch etwas erwidert auf im Studio stehengebliebene Kritik. Aber auch dies hätte sicherlich weder den Braten fett noch die Sache besser gemacht. Am Ende hieß es: Den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Der braune Sumpf muss ausgetrocknet werden

Als um Rechsstaat und Demokratie besorgter Bürger hatte man gestern wieder einmal nicht genügend Hände um diese den Kopfe zusammen zu schlagen. Aber was hatte man sich denn auch von einer politischen Talkshow erhofft und von einem Minister erwartet, der meint, das Richtige zu tun? Leid tun können einen nur abermals die Hinterbliebenen der Mordopfer des NSU-Trios, die ein Recht darauf hätten, dass ihnen endlich Aufklärung und das Vertrauen in die deutschen Sicherheitsbehörden zurückgeben wird. Einiger der Ermordeten gedenkt man in ihren Heimatorten inzwischen öffentlich. Was gut so ist. Aber die Gesellschaft darf nicht hinnehmen, dass es allein dabei bleibt. Der braune Sumpf muss ausgetrocknet werden. Dass der existent ist, bleibt eine unumstößliche Tatsache. Mit dem rechten Auge kann der Staat eben das nicht sehen. Jedenfalls solange es weiter blind ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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