Wie DIE LINKE zu neuer Stärke findet

Wahlanalyse Dank ihrer drei gewonnen Direktmandate hat DIE LINKE nochmal eine vierjährige Schonfrist bekommen, in der sie über ihre Zukunft entscheiden muss.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Dass DIE LINKE ihr Ergebnis von 2017 nicht halten würde, hatte sich länger angebahnt, der Absturz unter die 5%-Hürde kam jedoch sogar für die größten Pessimisten in der Partei überraschend. Eine Regierungsperspektive, zumindest eine parlamentarische Mehrheit für viele soziale Projekte, deren Nichtnutzung in einer Ampelkoalition der eigenen Agitation geholfen hätte, wurde ebenfalls verfehlt. Die Lage ist existenzbedrohend.

Was ist passiert?

Bei Betrachtung der Wählerwanderung fällt sofort auf, dass ein ganzes Drittel derjenigen, die bei der Bundestagswahl 2017 noch DIE LINKE gewählt hatten – drei Prozentpunkte im Wahlergebnis – dieses Mal zur SPD oder zu den Grünen gewechselt sind. Ein weiterer Prozentpunkt ging an die Nichtwähler verloren, auch dieser Anteil ist nur bei der AfD noch leicht höher. Bei keiner einzigen Wählergruppe konnte die Partei nennenswerte Zugewinne verzeichnen, die die Verluste hätten ausgleichen können.

Während DIE LINKE noch 2017 in keinem Bundesland weniger als 6,1% geholt hatte, ist sie nun in den bevölkerungsreichsten Bundesländern in Westdeutschland in Richtung Bedeutungslosigkeit abgestürzt. Die Verluste in den Stadtstaaten und den meisten ostdeutschen Ländern blieben relativ gesehen etwas moderater, auch dort bewegt die Partei sich inzwischen jedoch eher auf dem Niveau der FDP als auf dem einer selbsternannten Volkspartei. Eine stabilere Wählerbasis im Westen hätte den Bedeutungsverlust der Linken als Ostpartei auffangen können, aber gerade dort ist DIE LINKE inzwischen fast flächendeckend nur noch eine Nischenpartei. So viel zu den nackten Zahlen des Dramas.

Insgesamt bleibt damit nur festzustellen, dass DIE LINKE aktuell beinahe keine Wählerbasis mehr hat, die allein sie tragen könnte: In Ostdeutschland werden die Stammwähler*innen weniger, neue kommen kaum nach, im mittleren Alterssegment dominiert die AfD. Für die oft eher jüngeren, akademischen, sozial- und klimabewussten Menschen sind bundesweit eher die Grünen die erste Wahl. Auch von Schröder enttäuschte Sozialdemokraten finden zunehmend wieder zu ihrer ehemaligen politischen Heimat zurück. Neue Stammwählerschaften sind nicht in Sicht.

Um die Personalie Sahra Wagenknecht kommt man in dieser Analyse nicht umhin, wurde ihr medial im Wahlkampf doch viel Beachtung eingeräumt – leider, egal aus welcher Perspektive, nicht in einer hilfreichen Art und Weise. Ein Wahlkreisergebnis für sie gibt es nicht, weil sie nirgendwo direkt angertreten ist, aber der von ihr als Spitzenkandidatin angeführte Landesverband NRW hat sich von 7,5% auf 3,7% der Zweitstimmen mehr als halbiert, sodass die von ihr als urbane Lifestylelinke verschrienen Communitys in Leipzig-Südvorstadt und -Connewitz auch ihr Mandat retten mussten. Das allein reicht noch nicht als Beleg für die Erkenntnis, dass das öffentlichkeitswirksame Ausspielen „identitärer“ gegen materielle linke Kämpfe am Ende beiden Anliegen schadet, aber Anlass genug zu einer gewissen Demut ist es allemal.

Wagenknechts Theorien scheitern in der Einfachheit, in der sie bei den Menschen ankommen, nämlich bereits daran, dass zu viele Kämpfe ineinandergreifen. Ist die Kritik an der ungleichen Bezahlung von Männern und Frauen oder an der fehlenden Kompensation der meistens von Frauen verrichteten Care-Arbeit schon ein linksliberales Genderthema, oder sind das noch wertzuschätzende Arbeitskämpfe? Sollten wir den Kampf gegen rechts unter den Tisch fallen lassen, sodass es keinen Aufschrei mehr gibt, wenn NSU-Akten geschreddert werden, nur weil der einfache Arbeiter mit „der Antifa“ nicht viel anfangen kann? Teil dieser Demut wäre, die Wichtigkeit aller Themen, für die Linke streiten, anzuerkennen und gegenläufige öffentlichkeitswirksame Bekundungen einzustellen. Niemand bestreitet ernsthaft, dass der Markenkern der Linken die soziale Frage ist, und diejenigen, für die Linkssein persönlich auch eine Lifestylefrage ist, sind nicht selten die engagiertesten Kämpfer dafür. Wenn aber ein prominentes Parteimitglied in jeder Talkshow wiederholt, dass sich Linke nur noch um Gendersternchen kümmern würden, glaubt es trotz aller Bemühungen der Basis irgendwann auch der Letzte.

Wie ist die Lage?

Die jüngste linke Bundestagsabgeordnete ist 33 Jahre alt. Der Altersschnitt der Fraktion ist zwar nicht der schlechteste, dennoch wären selbst bei einem deutlich besseren Ergebnis nur wenige weitere wirklich junge Abgeordnete in den Bundestag eingezogen. Entsprechend verhält es sich mit dem Abschneiden der Partei bei den Erst- und Jungwähler*innen. Der von manchen als altbacken empfundene Außenauftritt allein kann dafür nicht die Erklärung sein. Es muss einiges an strategischem und organisatorischem Versagen dahinterstecken, dass selbst der systemkritische Teil einer Bewegung wie Fridays for Future nicht in der Linken ihre parlamentarische Vertretung sieht und darum auch kein wahrnehmbares Interesse daran hat, sich auf ihren Kandidierendenlisten wiederzufinden. Kaum irgendwo zeigt sich die aktuelle Bündnisunfähigkeit der Linken deutlicher.

In der Klimabewegung haben die Grünen eine Hausmacht, und sogar unter Gewerkschaftsmitgliedern lag die FDP vor der Linken. Würden solche Gruppen und Bewegungen entschlossener für eine echte Veränderung der Verhältnisse unter Einbezug der Linken agitieren, müssten sich auch SPD und Grüne endlich anders dazu verhalten. Wenn ein solch breites progressives Bündnis zwischen Parteien, Klimabewegung, Gewerkschaften und lokalen Initiativen, wie es vereinzelt bereits praktiziert wird, zu einer bundesweiten Perspektive werden soll, muss DIE LINKE in Zukunft allerdings aktiv daran mitwirken. Wenn DIE LINKE aus den vielen jungen, links politisierten und aktiven Menschen neue Energie schöpfen will, so wie es andere linke Parteien und Bewegungen weltweit vorleben, muss sie die Hürden, die sie sich selbst stellt, überwinden.

Dafür braucht es eine hohe wahrgenommene Kompetenz in den wichtigen Themenfeldern, und hier schlummert gleich das nächste gewaltige Problem der Linken: für eine Partei, die sich den sozialökologischen Systemwechsel auf die Fahnen geschrieben hat, sind beide Werte erschreckend schlecht. Während ihre Klimapolitik bislang bei fast niemanden durchdringt, reichte der SPD bereits eine seichte Rückbesinnung auf einzelne tatsächlich sozialdemokratische Positionen, um das einstige Alleinstellungsmerkmal der Linken, die konsequente Sozialpolitik, in der öffentlichen Wahrnehmung zu marginalisieren. Diese beiden Politikfelder werden auch in Zukunft die entscheidenden für eine erfolgreiche linke Partei sein. Kompetenz strahlt man mit überzeugenden Ideen und Köpfen, die sie vertreten, aus, mit solchen muss DIE LINKE also präsent werden. Eine leichte Aufgabe wird das nicht, denn die Fraktion ist, wenn sie überhaupt eine bleibt, deutlich geschrumpft. Schon in der letzten Legislaturperiode gab es u.a. beim Thema Klima personelle Engpässe, was seinen Teil dazu beigetragen hat, dass bislang kaum jemand da draußen weiß, was für ein gutes Klimaschutzprogramm DIE LINKE eigentlich hat. Mit Lorenz Gösta Beutin ist der einzige profilierte Klimapolitiker der Partei aus dem Bundestag geflogen, und auch bei anderen wichtigen Themen wie Gesundheit und Pflege oder Finanzen ist nicht klar, wer die entstandenen Lücken füllen kann. Sehr klar hingegen ist: Ohne eine starke inhaltliche Aufstellung und überzeugende Köpfe bei diesen wichtigen Themen wird DIE LINKE das verlorene Vertrauen nicht zurückgewinnen können.

Eine weitere, in der Meinungsforschung nicht direkt abgefragte Kompetenz ist die Durchsetzungskompetenz, die der Linken aufgrund widersprüchlicher Signale in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit fast vollständig abhandengekommen ist. Auch die wenigen verbliebenen Wähler*innen der Linken wollen die Partei mit übergroßen Mehrheit in einer Regierung sehen. Es muss ihr große Sorge bereiten, dass die Forderung nach 12€ Mindestlohn und die Aussicht auf eine Kanzlerschaft links der Union ausreichen, um DIE LINKE inhaltlich und machttaktisch nahezu vollständig zu entwaffnen. Im Gespräch über sie dominierten dann theoretische Diskussionen über die NATO oder die Afghanistan-Abstimmung, welche keine Geburt der politischen Realität, sondern der Wahrung eines innerparteilichen Friedens war. Das wirklich gute Sofortprogramm, das den Menschen deutlich hätte zeigen können, wovor genau die Union ihnen da gerade versucht Angst zu machen – nämlich vor realen Verbesserungen in ihrem Leben, die nur DIE LINKE garantieren kann – ist so in den Hintergrund geraten.

Man kann sogar zu dem Schluss kommen, dass dies die erste Wahl der Linken ohne jegliche Schützenhilfe und somit ihr erstes wirklich ehrliches Ergebnis war. 2005 half die Anfangseuphorie und der Frust über die Agendapolitik, 2009 noch mehr deren reale Auswirkungen. 2013 vertraute kaum jemand dem schwachen SPD-Kanzlerkandidaten, dass dieser für echte Verbesserung sorgen würde, gerade nach dessen Absage an R2G. 2017 gab es erneut keine wirkliche Machtperspektive für die SPD, dazu hat die neue Gefahr von rechts viele Wähler*innen für DIE LINKE mobilisiert. Wenn DIE LINKE ganz auf sich selbst angewiesen ist, auf die eigene Durchschlagskraft ihres Programms, sieht es aktuell düster aus, trotz des Unterschieds, den sie machen könnte.

Wie geht’s wieder aufwärts?

Der 26.9 bot auch positive Nachrichten, die zur Nachahmung inspirieren sollten: In Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, hat die Kommunistische Partei einen fulminanten Wahlsieg eingefahren und wird mit Elke Kahr aller Voraussicht nach die neue Bürgermeisterin stellen. Erreicht wurde das mit jahrelanger, kontinuierlicher Arbeit in den sozial schwächeren Vierteln und direkter Unterstützung für die Menschen, die die Politik ansonsten gerne vergisst. Bei der Bürgermeisterwahl in Bernburg (Saale) und der Landratswahl in Teltow-Fläming konnten linke Kandidatinnen mit guten Ergebnissen in die noch anstehenden Stichwahlen einziehen. Nicht etwa eine generelle Ablehnung der Linken ist folglich das Problem, sondern das fehlende Vertrauen in sie oberhalb der kommunalen, der nahbaren Ebene. In Berlin wurde die Volksinitiative DW Enteignen mit deutlicher Mehrheit unterstützt, trotz massiver Gegenwehr der gesamten bürgerlichen Öffentlichkeit bis hin zur Berliner SPD. Getragen von dieser Initiative, haben sich auch einige Direktkandidatinnen der Linken zur Berliner Abgeordnetenhauswahl beispielsweise im Norden Neuköllns gegen den Trend behauptet und mit einem bewegungs- und dialogorientierten Ansatz beträchtlich hinzugewonnen.

In den nächsten Jahren entscheidet sich, ob DIE LINKE als solche noch eine Zukunft hat. Deutlich gezeigt hat sich, dass es unter einer SPD, die ihr Selbstbewusstsein wiedererlangt hat, nicht mehr ausreicht, sich über deren Schwächen zu definieren. Es muss also die gemeinsame intellektuelle Anstrengung unternommen werden, eine eigene gesellschaftliche Zukunftsvision zu entwickeln – und zwar ein kohärentes Gesamtbild. Was bedeutet Sozialismus im 21. Jahrhundert? Wir wissen alle, dass die Konzerne die Klimakrise zu verantworten haben, aber um für diese Feststellung nicht nur Kopfnicken zu bekommen, sondern politische Zustimmung, muss DIE LINKE auch in der Lage sein, beispielsweise eben eine klimagerechte, linke Industriepolitik durchzudenken und populär zu machen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Bereitschaft, Schritte in die Richtung dieser zu definieren und deren Umsetzung, auf welche Art und Weise auch immer, strategisch vorzubereiten. Strahlt man all dies als Partei geschlossen aus, wissen die Menschen, die uns gar nicht mehr oder höchstens noch zähneknirschend wählen, auch endlich wieder, wofür genau sie dann aus voller Überzeugung und Eigeninteresse ihr Kreuz bei der Linken setzen.

Nicht einmal das beste Programm ist jedoch ein Selbstläufer. Weiter geht es also darum, alte Wählerschichten, denen oft soziale, teilweise ostspezifische Anliegen besonders wichtig sind, zurückzugewinnen, und neue, ob prekär beschäftigte oder klimawandelbewusste, wieder zu stärken. Die Kämpfe um die Interessen beider, und seien sie nur im Gang zur Wahlurne ausgedrückt, können vereinigt werden. Dazu gehört es, aus den verschiedenen positiven Erfahrungen anderer zu lernen, diese zu verbinden. Angesprochen werden die Menschen an Haustüren und in den sozialen Medien, nicht oder. Man bietet Sozialberatungen an und geht zur Klimademo, nicht oder. So ist anstatt des innerparteilichen Resonanzraums wieder die Wirklichkeit in all ihrer Komplexität der Maßstab für das politische Handeln. Dazu muss eine linke Partei, die nicht nur Interessenvertretung einzelner Milieus sein will, imstande sein.

All das muss jemand leisten – die Mitglieder. In diesen existenzbedrohenden Zeiten verlangt die Mitgliedergewinnung und -förderung nach besonderem Augenmerk. Der ländliche Raum ist in der Mitgliedschaft gänzlich unterrepräsentiert, junge Leute immer mehr, je weiter oben in der Parteihierarchie man sich umschaut. In einigen ländlichen Regionen kann man keiner Genossin und keinem Genossen vorwerfen, dass sie für unsere 2% verantwortlich seien, weil es schlicht keine mehr gibt. Eine Partei ohne Großspender, die auf die direkte Ansprache der Menschen und die Aktivitäten vor Ort angewiesen ist, hat kein höheres Gut als eine möglichst große Anzahl ideenreicher und tatkräftiger Mitglieder. Mehr Dynamik und weniger Hausmacht in den Parteistrukturen müssen zur Devise werden, damit engagierte Menschen gefördert, Vorbilder geschaffen und eine breite Verankerung in der bewegten und der unbewegten Gesellschaft wieder ermöglicht werden.

Wie sich bereits andeutet, wird DIE LINKE um einen Diskussionsprozess auf fast allen Feldern, vom Parteiprogramm über eine Social-Media-Strategie bis zur R2G-Frage, nicht herumkommen. Zu lange wurden wichtige Richtungsentscheidungen aufgeschoben, die Quittung für diese Unklarheit hat man bei dieser Wahl kassiert. Es bleibt zu hoffen und daran mitzuarbeiten, dass sich ein Konsens finden lässt, der Milieus verbindet, anstatt sie zu trennen, der eine neue Arbeitsweise etabliert, die die vielen Positivbeispiele, an denen man sich orientieren kann, nutzt. Dann kann es zukünftig auch wieder gelingen, die progressiven und mehrheitsfähigen Inhalte weiterzuentwickeln und mit ihnen zu überzeugen. Diese Verantwortung hat DIE LINKE, wenn schon nicht vor sich selbst, dann zumindest vor denjenigen, die unter den aktuellen Verhältnissen erniedrigt, geknechtet und verlassen sind.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden