Alles im Argen

Olympia Die Spiele kommen zur Unzeit nach Brasilien. Die Präsidentin ist abgesetzt und die Parteien sind verstrickt in ein System schwarzer Kassen
Ausgabe 31/2016
Korruption und Gewalt zerreißen das Olympia-Land Brasilien
Korruption und Gewalt zerreißen das Olympia-Land Brasilien

Montage: der Freitag; Material: iStockphoto, Fotolia

Als die olympische Fackel vergangene Woche in Rio de Janeiro ankam, löschten wütende Bewohner der Küstenstadt Angra dos Reis sie gleich einmal bei einem spontanen Protest aus. Sie wollten nicht einsehen, warum der Staat noch Geld für die Olympischen Spiele hat, ihr Gesundheitsposten vor Ort aber schließen muss. Die Polizei setzte Tränengas gegen die Demonstranten ein, die Fackelträger zogen unter Pfiffen ab. In Rio bemalten streikende Lehrer die am Strand von Copacabana aufgestellten olympischen Ringe mit Schulkreide, um gegen den Verfall der staatlichen Schulen zu protestieren.

Nun sollen 85.000 Sicherheitskräfte während der Spiele im Einsatz sein, zumindest rund um die Sportstätten und auf den Zufahrtswegen. Denn die Sicherheitslage hat sich in den letzten Monaten dramatisch verschlechtert. Auf den Straßen Rios gibt es täglich bewaffnete Raubüberfälle, so viele wie seit 25 Jahren nicht mehr. Auch Schießereien zwischen Drogenbanden und der Polizei gehören wieder zum Alltag. Oft trifft es Anwohner und Passanten. Die Menschen fühlen sich an die 90er Jahre erinnert, als in Rio de Janeiro ein Klima der Angst herrschte. Wie es nach den Spielen weitergehen soll – die Lokalpolitiker hüllen sich in Schweigen.

Teure Prestigeprojekte

Für die vielen Besucher, die nun in die Stadt strömen, werden diese Probleme dennoch weitgehend unsichtbar bleiben. Ja, selbst wer hier lebt, blendet sie ja nur allzu gerne manchmal aus. Die Bewohner freuen sich, dass sie mit einer neuen Trambahn durchs Zentrum fahren und auf der verkehrsberuhigten Avenida Rio Branco flanieren können. Auch die neue Metrolinie, die nun doch noch fertiggestellt werden konnte, wird freudig begrüßt. Weil es im brasilianischen Winter kaum regnet, ist die Luft klar und das Wasser der Bahia de Guanabara weniger schmutzig. Die Strände von Copacabana und Ipanema sind nicht so überlaufen. Rio de Janeiro ist trotz aller Sorgen eine der schönsten Städte der Welt.

Olympisches Chaos: 85.000 Sicherheitskräfte sollen die Stadien sichern

Foto: Tasso Marcelo/AFP/Getty Images

Als Präsident Lula da Silva 2009 die Olympischen Spiele nach Rio de Janeiro holte, war die „Partido dos Trabalhadores“, die Arbeiterpartei PT, auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Lula war es gelungen, ein rasantes Wirtschaftswachstum mit einer Politik der Armutsbekämpfung zu verbinden. Sein Pakt zur Ankurbelung der Wirtschaft half 2008, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise abzufedern. Mit einer Neuauflage dieses Programms sicherte er 2010 die Wahl seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff, mit verdoppeltem Volumen. Doch ihre erste Amtszeit war wirtschaftlich gesehen ein Misserfolg. Anstatt im Wahlkampf 2014 ehrlich zu sagen, wie sie die sich abzeichnende Rezession bewältigen wollte, spielte sie mit der Angst der Bevölkerung vor Sozialabbau. Mit den anderen wird es schlimmer, lautete ihr Hauptargument. Kaum wiedergewählt musste sie selbstverständlich die Wirtschaftsaussichten nach unten korrigieren, die sie kurz zuvor noch wider besseres Wissen rosig ausgemalt hatte. Und was hatte sie als Antwort anzubieten? Sozialabbau und die Flexibilisierung von Arbeitnehmerrechten.

Noch 2014 wäre die PT einfach als jene Partei in die Geschichte eingegangen, die wie keine andere gegen Hunger und Armut vorgegangen ist; die viel Geld in Schulen und Krankenhäuser gesteckt hat, um das in der Verfassung festgeschriebene Recht auf Bildung und Gesundheit endlich praktisch umzusetzen; als Partei der rudimentären Sozialhilfe Bolsa Família, die ohne großen bürokratischen Aufwand auskommt; als Partei, die den Analphabetismus endgültig besiegte, als Partei der Quotenregelungen für Arme und Schwarze, damit die kostenlosen staatlichen Eliteuniversitäten endlich nicht mehr nur der weißen Oberschicht zugutekommen, und so weiter und so fort. Diese Liste der Errungenschaften in der jüngeren brasilianischen Geschichte ist längst nicht vollständig. Doch einmal an der Macht, ordnete die Partei mehr und mehr Themen und Konfliktfelder dem Imperativ von governabilidade unter. Sie wollte vor allem wählbar sein und ihre Regierungsfähigkeit erhalten.

Das Ergebnis ist die Katastrophe von 2015, als Dilma Rousseff praktisch nicht mehr regierungsfähig war. Ihre Popularität in der Bevölkerung war eingebrochen, die Opposition, aber auch Parteien wie die ideologisch schwer einzuordnende „Catch-all“-Partei PMDB, die mit ihr die Regierung bildete, witterten ihre Chance und blockierten systematisch ihre Reformvorschläge im Parlament. Parlamentspräsident Eduardo Cunha, ebenfalls von der PMDB, trieb maßgeblich ihr Impeachment voran. In einer turbulenten Parlamentssitzung enthoben die Parlamentarier sie im April vorläufig ihres Amts. Übergangspräsident Michel Temer stellt sich nun als Retter der Nation dar. Aber er ist für die Krise so verantwortlich wie Rousseff und ihre PT.

Offiziell werfen die Parlamentarier der Präsidentin vor, im Wahljahr den Haushalt geschönt und sich dadurch Vorteile bei der Wahl verschafft zu haben. Doch tatsächlich handeln sie aus politischem Kalkül und haben oft auch persönliche Beweggründe. Politiker, die seit Jahrzehnten in Brasília Macht und Einfluss besitzen, sind tief in den Sumpf der Korruption verstrickt. Sie wollen Lava Jato ausbremsen, den gigantischen Korruptionsskandal rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras, den die Justiz „Waschstraße“ genannt hat. Fast wäre die Entscheidung im Senat über Rousseffs politisches Schicksal mitten in die Olympischen Spiele gefallen. Doch der Senat hat seine Entscheidung auf Ende August verschoben. Die Zukunft des Landes muss warten, bis die Spiele vorbei sind.

Doch auch die PT ist in diesen Skandal verstrickt. Sie hat ihn mit ihrem Pakt zur Förderung des Wirtschaftswachstums und den daraus finanzierten gigantischen Großprojekten sogar noch ausgeweitet. Die Brasilianer wussten längst, dass Korruption verbreitet war. Doch Lava Jato zeigt nun auf, wie ein Parteiensystem den Staat als Beute regelrecht unter sich aufgeteilt hat. Raffinerien, Staudammprojekte, Fußballstadien, die Erschließung der neuen Ölfelder auf dem hohen Meer, kurz: Alle großen Staatsaufträge werden erst überteuert abgerechnet, dann fließen die abgezweigten Gelder in die schwarzen Kassen von Parteien und Politikern aller mächtigen Fraktionen. Weil Ermittlungen früher meist nach kurzer Zeit im Sand verliefen, zeigt sich erst jetzt das ganze Ausmaß dieses Systems. Das ist auch ein Erfolg der Regierungen von Lula und Dilma Rousseff, weil sie Richter und Staatsanwälte beriefen, die nun wirklich unabhängig arbeiten.

Baulöwen wie Marcelo Odebrecht haben Parteien geschmiert

Fotos: Heuler Andrey/AFP/Getty Images

Lava Jato hat sich auch deshalb in eine derartige Lawine verwandelt, weil Rousseff unter dem Eindruck der ersten Massenproteste 2013 eine neue Kronzeugenregelung durchs Parlament brachte. Verurteilte müssen neuerdings schon nach der ersten Instanz ins Gefängnis und dürfen nicht mehr wie vorher üblich in Freiheit Revision einlegen. Und so sitzt nun erstmals in der brasilianischen Geschichte ein ultrareicher Bauunternehmer wie Marcelo Odebrecht in Haft. Alle warten gespannt auf seine Aussage als Kronzeuge.

2013 hatte Präsidentin Rousseff eine Reform des politischen Systems vorgeschlagen, dafür aber keine Mehrheit bekommen. Doch was war ihr Plan gewesen, als sie sich 2014 zur Wiederwahl stellte? Einfach so weiterzumachen? Sie hat sich über Jahre hinweg als Kämpferin gegen Korruption dargestellt und sie doch in den eigenen Reihen einfach weiter geschehen lassen. Wie sonst hätte die PT die immensen Wahlkampfkosten stemmen können? In kaum einem anderen Land der Welt ist es so teuer wie in Brasilien, eine Wahl zu gewinnen. Doch schon 2013 hatte sich ein Stimmungswandel in der Bevölkerung abgezeichnet, den die Arbeiterpartei nicht zu interpretieren verstand. Verbissen kämpfte sie noch einmal um ihre Wiederwahl.

Der Preis der Macht

Ihre derzeitige politische Schwäche hat sie über Jahre hinweg selbst mit vorbereitet. Anstatt die Zeit an der Regierung zu nutzen, um gesellschaftlich notwendige Debatten und Konflikte zu führen, hat sie viele Themen vernachlässigt, die sie nicht für mehrheitsfähig hielt. Dem derzeitigen Rechtsruck hat sie dadurch selbst Vorschub geleistet. Nur ein Beispiel: Obwohl sie einst für eine Liberalisierung des Rechts auf Abtreibung war, weigerte sich Rousseff, einmal gewählt, das Thema überhaupt anzuschneiden. Wer sie in einem Interview darauf ansprach, erhielt die merkwürdige Antwort, dass sie die Präsidentin aller Brasilianer sein wolle und deshalb als Präsidentin dazu keine Meinung habe.

Seit langem nutzten rechtspopulistische und rechtskonservative Politiker dieses Vakuum und gingen in die Offensive. Sie hetzten im Parlament gegen Abtreibung und Homosexualität, die PT kooperierte dennoch weiter mit jenen Parteien, die ihnen Stimme und Legitimität verliehen. Ähnlich ging es mit Umweltschutz, den Rechten der Indios, dem immer haarsträubender werdenden Problem der Polizeigewalt, das besonders arme schwarze Jugendliche betrifft. Auch in Sachen Stadtpolitik, sozialer Wohnungsbau und Gesundheitspolitik fiel die PT immer weiter hinter die kreativen Ideen zurück, die sie selbst in den 1980er und 1990er Jahre mit entwickelt hatte.

2013 waren plötzlich zur Überraschung aller Millionen von Brasilianern auf die Straße gegangen. Es hatte mit Protesten gegen die Erhöhung der Buspreise begonnen, doch bald ging es um das große Ganze des brasilianischen Alltags: Die Menschen brachten zum Ausdruck, dass ihnen die ganze Richtung nicht passte, weil das Leben immer teurer und hektischer wurde, ohne dass sich die Lebensqualität in den Städten wirklich verbesserte. Zwei Jahre später flammten die Proteste wieder auf, doch nun waren die Gegner der PT besser vorbereitet. Es gelang ihnen, die Angst vor der Wirtschaftskrise, die Wut über korrupte Politiker, die enttäuschten Hoffnungen zu kanalisieren und allein auf Rousseff zu richten. Dies machte das Verfahren zur Amtsenthebung erst möglich.

Seit Mai ist nun Michel Temer von der PMDB Interimspräsident, doch seine Übergangsregierung repräsentiert die Interessen der Menschen nicht. Umfragen während der Proteste im März belegen, dass sich mehr als 90 Prozent der Demonstranten für freien Zugang zu Bildung und Gesundheit aussprachen. Doch genau diese Rechte stellt Temers neue Regierung jetzt in Frage. Sie wird nicht das staatliche Gesundheitssystem, sondern die private Gesundheitsvorsorge ausbauen. Sie wird privatisieren, nicht Steuern erhöhen, wie Rousseff es eigentlich vorhatte. Und sie wird möglicherweise auf die Korruptionsprozesse Einfluss nehmen. In einem heimlich abgehörten Gespräch sagten einige Spitzenpolitiker der PMDB, dass man Rousseff absetzen müsse, um „die Blutung“ zu stoppen. Mit dieser Metapher meinten sie die vielen Politiker, die wegen Lava Jato schon zurücktreten mussten.

Proteste gegen den Interimspräsidenten Michel Temer

Foto: Mario Tama/Getty Images

Die PT freilich hatte sich ihrerseits an das herrschende politische System angepasst. 2005 kam ans Licht, dass sie Abgeordnete anderer Parteien mit monatlichen Zahlungen versorgt hatte, damit sie im Kongress in ihrem Sinn abstimmten. Irgendwann wurde daraus ein Selbstläufer, der die eigene Macht absichern sollte. Anstatt die Seilschaften zu entmachten, verhalf ihnen das zum zweiten Frühling.

Die vergangenen Monate haben Brasilien verändert. Auf den Demonstrationen griffen bisweilen rechte Schläger Menschen in roten T-Shirts der PT an, während die große Masse recht einheitlich in Gelb und Grün, den Farben der Nationalflagge, auf die Straße ging. Wie ein Riss teilte die Debatte um Rousseffs politische Zukunft selbst die sozialen Medien. Brasilianer kündigten sich gegenseitig ihre Freundschaft auf Facebook.

Opfer einer Verschwörung

Weil sie Angst vor einem Rechtsruck haben und die Geschichte der Militärdiktatur noch wenig aufgearbeitet ist, sehen sich viele Linke als Opfer einer Verschwörung. Sie graben tief in der Mottenkiste des linken Nationalismus. Hinter allem steckten die USA und der FBI, weil sie es auf Brasiliens reiche Erdölschätze abgesehen haben, behauptet selbst eine angesehene Philosophin wie Marilena Chauí. Tatsächlich will Temers Regierung eine Klausel lockern, nach der bislang nur Petrobras die tief unter der Erde gefundenen neuen Ölquellen auf hoher See erschließen darf und an allen Projekten mit mindestens 30 Prozent beteiligt sein muss.

Das Öl gehört uns! – kontern die Gewerkschaften, die der PT nahestehen. Auch mit diesem alten Antiamerikanismus bringen sie die Massen nicht zurück auf die Straße. Schon macht sich eine gewisse Politikverdrossenheit breit. Das ist eine Dynamik, die Rechtspopulisten den Weg bereiten kann, wie einst in Italien nach der großen Kampagne gegen Korruption, die den alten Parteien den Garaus gemacht und Berlusconis Aufstieg ermöglicht hat.

Doch es gibt auch Lichtblicke. Rousseffs Widersacher im Parlament, Eduardo Cunha von der PMDB, musste mittlerweile selbst von seinem Amt zurücktreten, weil er sein Amt missbrauchte, um Einfluss auf laufende Untersuchungen zu nehmen. Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage zeigt, dass die Mehrheit der Brasilianer Neuwahlen will. Die Menschen wollen weder von Rousseff noch von Temer regiert werden. Sie wollen etwas anderes, das zu erfinden und zu organisieren allerdings Zeit brauchen wird.

Vielleicht hilft eine neue Form von Humor, die in den letzten Monaten ungemein populär geworden ist. Virtuelle Satirezeitschriften wie der Sensacionalista fabrizieren fiktive Headlines und verzeichnen Millionen von Besuchern. Auch der 2013 gegründete Youtube-Kanal Porta dos Fundos (Hintertür) erreicht mit Videosketchen ein Millionenpublikum. Ihr Erfolgsrezept: Sie machen sich über die politische Klasse als solche lustig, egal auf welcher Seite des politischen Spektrums. Dabei ist hier Humor oft analytischer und schlauer als viele der ernst gemeinten Kommentare. Das liegt auch an einer neuen ethischen Haltung. Der Sensacionalista bezeichnet sich beispielsweise als strikt politisch korrekt. „Über die Armen und Schwachen zu lachen ist einfach“, erklärt einer ihrer Gründer in einem Interview. „Wir lachen über die Reichen und Mächtigen. Das ist viel schwieriger, macht aber mehr Spaß.“

Fährt man vom internationalen Flughafen in die Stadt, kommt man unweigerlich an großen Armenvierteln vorbei. Einige sind durch eine durchsichtige Schallschutzmauer von der Schnellstraße getrennt. Die wurde jetzt in bunten Farben im Olympia-Look beklebt. Nur dort, wo gerade eine neue Schule eingeweiht wurde, ist die Mauer weiter durchsichtig. Das wollte man dann doch herzeigen.

Die Realität ist eine andere: Die Regierung hat in den letzten Jahren doppelt so viel für Sicherheit ausgegeben wie für Schulen und Krankenhäuser. 2013, im Jahr vor der Fußball-WM, war hier das Militär einmarschiert und über ein Jahr lang geblieben. Alles, um eine Stadtautobahn für ein sportliches Großereignis zu sichern.

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