Imagina isso na Copa – man stelle sich das während der Weltmeisterschaft vor: Obdachlose blockieren zu Zehntausenden die Zugänge zu den Stadien, streikende Lehrer setzen Mannschaften schon an den Flughäfen fest. Die Metro fährt nicht, und in den Straßen türmt sich der Abfall, weil auch Schaffner und Müllmänner ihre Arbeit niedergelegt haben. Frustrierte Fans schließen sich dem Schwarzen Block an und schlagen die Scheiben von Banken ein. An den Bankautomaten gibt es kein Bargeld mehr, seit auch die Wachleute der Sicherheitsfirmen, die die Scheine in ihren gepanzerten Wagen anliefern, in Ausstand getreten sind.
Für all das gab es in den vergangenen Wochen und Monaten überall in Brasilien Ansätze und Aufrufe. Aber die Proteste haben sich nicht zu einem wirkungsmächtigen Showdown verdichtet. Anders als im vergangenen Jahr, als während des Konföderationenpokals Millionen auf die Straße gingen, um gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, die grassierende Korruption und den schlechten Service im öffentlichen Dienst zu demonstrieren, bleiben die meisten Brasilianer jetzt zu Hause und schauen im Fernsehen die WM.
Im Gänsemarsch
Lehrer, Busfahrer, die Angestellten der Metros, sogar die Bundespolizei, alle nutzten bis kurz vor dem Beginn des Turniers noch den Moment, um ihren Forderungen nach mehr Lohn und besseren Arbeitsbedingungen Nachdruck zu verleihen. Im März, während des Karnevals, hatten es die Müllmänner von Rio de Janeiro vorgemacht: 40 Grad Hitze, die Stadt voller Touristen, und auf den Straßen türmte sich der Abfall. Nach wenigen Tagen hatten sie zehn Prozent Lohnerhöhung durchgesetzt. Doch jetzt, während der WM-Wochen, schafft das nur die Bundespolizei, die anderen werden mit einer Mischung aus Verhandlung und Repression hingehalten.
Imagina isso na Copa: Das war eigentlich ein zynisch-resignierter Seufzer der Einwohner von Rio, wenn im Alltag mal wieder etwas schiefging. Doch dann begannen im Juni 2013 die größten Massenproteste seit der Militärdiktatur. In Rio zogen sie sich bis in den November. Übrig blieb ein Slogan: Não vai ter Copa – es wird keine WM geben. Wer sich jetzt noch zu so einer Demo wagt, steht schnell Tausenden von hochgerüsteten Polizisten in Robocop-Uniformen gegenüber. Viele Demonstranten werden willkürlich verhaftet und erst nach Stunden freigelassen. Hauptsache, sie sind erst einmal von der Straße. Die Regierung muss beweisen: Vai ter Copa – die WM findet statt.
Dabei spielen sich bizarre Szenen ab. In Rio de Janeiro sprang während einer solchen Veranstaltung in der vergangenen Woche ein Polizist in Zivil aus einem Privatwagen, zog eine Pistole und brüllte: „Ich bin Polizist!“ – als würde das alles erklären. Die Aktivisten verlangten, dass er sich auswies, aber er beschimpfte sie nur wüst. Endlich stieg er wieder in sein Auto und fuhr davon, nicht ohne noch ein paar Schüsse in die Luft abzufeuern. Bei einer anderen Demonstration wies ein Kommandant seine Truppe an, sich doch bitte vorbildlich zu verhalten, schließlich seien internationale Presseleute in der Stadt und alle Augen auf Brasilien gerichtet. Tatsächlich versuchten die Polizisten dann aber, es den friedlichen Protestierenden so schwer wie möglich zu machen. Videoaufnahmen zeigen, wie sie durch eine Demonstrantenmenge schlendern und immer mal wieder, halb versteckt, Pfefferspray versprühen, als sei es ein Insektizid und als seien die Protestierenden lästige Moskitos.
Die Polizei hat gelernt, im Gänsemarsch bei einer Demo mitzulaufen und die Menschen bei Gelegenheit einzukesseln. Sie definiert Bannmeilen und verwehrt Aktivisten den Zugang zu bestimmten Zonen in der Stadt. In Deutschland ist das alles ein alter Hut. Aber hier in Rio konnte sich ein Protestzug im vergangenen Jahr noch relativ frei auf der Straße bewegen. Griff die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen an, kam es regelmäßig zu Schlachten. Innerhalb weniger Wochen eigneten sich Tausende die Taktik des Schwarzen Blocks an: Schwarz gekleidet und mit vermummtem Gesicht setzt ein Teil seither bewusst auf Konfrontation und Eskalation. Manchmal trug das zum Erfolg bei, inzwischen ist diese Methode aber vor allem ein perfekter Vorwand für Unterdrückung.
Nur Verkehrschaos
Und so sind kleinere Proteste zwar allgegenwärtig, aber niemand lässt es gerade auf das ganz große Kräftemessen ankommen. Der Punkt ist ja eigentlich auch schon gemacht: Den meisten Brasilianern ist längst klar, dass nur wenige an dem Mega-Event verdient haben – während alle zusammen die enormen finanziellen und sozialen Folgekosten werden tragen müssen. Über die Hälfte der Brasilianer gab kürzlich in einer Umfrage an, die WM schade dem Land eher, als dass sie ihm nutze. Im Oktober sind Wahlen, die Umfragewerte für die Präsidentin Dilma Rousseff schlecht. Das Land ist nicht symbolisch im Fußballjubel vereint, sondern gespaltener denn je.
Auch wenn es im Fernsehen nicht so wirken mag: Für brasilianische Verhältnisse ist bei dieser WM bislang ziemlich die Luft raus. Hier und da haben die Leute in den Straßen ein paar grün-gelbe Flatterbänder aufgespannt oder Fahnen gehisst. Aber die meisten verschwinden nach der Arbeit schnell nach Hause, statt sich in den Bars oder auf den Fanmeilen zu vergnügen. Sie haben keine Lust auf Menschenmassen, sondern Angst vor dem Verkehrschaos. Die Regierung hat sogar Sonderfeiertage ausgerufen, damit die Angestellten im öffentlichen Dienst früher ihre Büros verlassen oder erst gar nicht bei der Arbeit erscheinen. Auch ohne Demonstrationen ist gerade offensichtlich, dass sich ein Großereignis wie die WM nicht einfach in den ohnehin angespannten Alltag von Brasiliens Großstädten integrieren lässt. Es bringt sie zum Stillstand.
Astrid Kusser ist Historikerin und Sachbuchautorin. Sie lebt seit längerem in Rio de Janeiro
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