Es bringt Vorteile, sich einmal so richtig von einem Bukarester Taxifahrer übers Ohr hauen zu lassen. Der schummerig beleuchtete Nachtbus nach Moldawien kommt einem danach wie eine sichere, gastfreundliche Höhle vor. Jeder Fahrgast kann es sich auf zwei Plätzen für die zehnstündige Reise gemütlich machen.
Gemächlich schaukeln wir erst durch die rumänische, dann die moldawische Nacht. Über den Sitzen hängen Bildschirme. Ein Video läuft mit großer Lautstärke. Zwei Stunden lang werden Frauen gequält und umgebracht. Bei ihren Schreien nützen auch Ohrstöpsel nichts mehr.
Morgens gegen zwei machen wir Pause. Der Imbiss leuchtet im Dunkeln wie ein freundliches Ufo. Durch die Fenster sind karierte Tischdecken und rote Geranien zu sehen. Die Wirtin steht schon mit weißer Kochmütze und Schürze neben ihrem Herd und wartet auf unsere Bestellungen. Hühnersuppe, Pommes, Salat, Fleisch, Frikadellen. „Ich war in Bukarest, um mich bei einer Model-Agentur vorzustellen“, erzählt meine blonde Tischnachbarin und wärmt sich ihre Hände an der Suppenschale. „Ich hoffe, sie nehmen mich. Model oder Hostess, das versuchen hier alle. Ich studiere in Chisinau, aber noch lieber will ich ins Ausland.“ Gespräche mit jungen Moldawiern enden fast zwangsläufig bei diesem Thema: Wo und wie bekommt man ein Visum für den Westen. In Moldawien bleibe einem nichts anderes übrig, als vor Langeweile zu sterben. Man finde keine gute Stelle, sehe keine Zukunft. Fast eine Million Menschen haben in einem Jahrzehnt ihr Land verlassen, um ihr Glück im Ausland zu suchen. In den Dörfern allerdings ist die Gegenbewegung zu erleben. Moldawier kehren zurück und bauen sich ein Existenz auf.
Bei unserer Ankunft schläft Chisinau noch, und die Busfahrer haben Zeit. Sie trödeln durch die Stadt, tanken den Bus auf und halten mal hier mal da. Die Model-Aspirantin winkt zum Abschied, als ich vor meinem Hotel abgeladen werde. Wenn es einen Preis für die stressfreieste Hauptstadt in Europa gäbe – Chisinau könnte ihn beanspruchen oder für die höchste Dichte an Geldautomaten und Wechselstuben prämiert werden. Kaum ein Gespräch, dass sich nicht nach zwei oder drei Sätzen um Geld ausgeben oder Geld verdienen dreht. In der Innenstadt ist die Armut Moldawiens nicht sichtbar. In drei Tagen Aufenthalt stoße ich lediglich auf eine barmende Frau, die Katzenbabys verkaufen will.
Essen muss man immer
Viele ausländische Hilfsorganisationen haben in Chisinau eine Niederlassung. Unglaubliche 3.000 Nichtregierungsorganisationen ließen sich hier registrieren, auch wenn zahlreiche Karteileichen darunter sind. Auf die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) – einen der großen, von der deutschen Regierung finanzierten Entwicklungshelfer – trifft das auf keinen Fall zu. Die GTZ will den Kleinbauern ihres Gastlandes beistehen. Zwei moldawische Mitarbeiter nehmen mich also auf eine Rundtour zu ihren Klienten mit. Sie wollen Höfe besuchen, deren Besitzer einen Investitionszuschuss beantragt haben. Bei Ausgaben bis zu umgerechnet 1.000 Euro werden unter Umständen 50 Prozent übernommen. Als Gegenleistung sollen die Landwirte sich regelmäßig beraten lassen und Kooperativen gründen. In unserem Fahrzeug prangt eine große Deutschlandflagge hinter der Windschutzscheibe.
Eine Autostunde vom Chisinau entfernt liegt in einer hügeligen, nebligen Landschaft das winzige Dorf Cabaiesti. Hier ist der erste Termin bei Victor und Veronica Buju. Sie sehen aus, als hätten sie sich für einen Stadtbummel feingemacht. Frau Buju trägt einen üppigen Pelzkragen, ihr Ehemann steht da mit Lederjacke und Herrenhandtasche. Ihren angespannten Gesichtern ist anzusehen, dass dieser Tag sehr wichtig ist. Sie wollen ihren modernisierten Schweinestall vorführen.
Die Bujus haben einige Zeit in Italien gearbeitet und Geld gespart. Nun stecken 30.000 Euro im Umbau, und sie möchten einen Zuschuss für den Kauf von Zuchtsauen haben. Diese sollen in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Ferkel bekommen. Die werden dann gemästet und bringen ordentlich was ein. Das jedenfalls ist der Plan. Victor Buju hat sich etwas Lockerheit angetrunken und zeigt mit lebhaften Gesten, was schon alles im Stall gemacht worden ist. Die Wasserleitungen funktionieren, die Boxen sind gebaut, es gibt eine Holzheizung und große Propeller, die für frische Luft im Stall sorgen sollen. Man sieht vor dem inneren Auge das Schweinegedrängel auf dem Spaltenboden. Tiergerecht mag etwas anderes sein, aber es könnte wirtschaftlich funktionieren. Zwei Schlachthöfe sind in der Nähe, und die Landwirtschaft ist die Branche in Moldawien, die am wenigsten unter der Finanzkrise leidet. „Essen muss man immer“, sagen die Leute hier.
Victor Buju zeigt noch einen Katalog mit Schweinerassen. Er hat sich beraten lassen und will Schweine mit magerem Fleisch züchten. Einen Monat später sollen der Stall und vier von der GTZ bezuschusste Zuchtsauen vom obersten Geistlichen des Ortes geweiht werden.
Leidenschaft für Wein
Wir fahren weiter. Vorbei an mageren Kühen, Gänseherden und Fohlen, die frei und allein die Dorfstraße herunter trotten. In einem Obstgarten toben Kinder. Sie rennen um die Bäume, kreischen und spielen fangen. Die Mädchen haben weiße Schleifen im Haar. Als sie meine Kamera sehen, laufen sie sofort weg.
Der nächste Bauer ist Agapie Valeriu. Er möchte sich ein Wasserreservoir bauen und beantragt Geld für die Plastikplane. Die Sommer werden immer heißer, und die Tomaten und Gurken leiden unter Trockenheit. Das große Gewächshaus steht auf einer Wiese inmitten von Weinbergen
Mehrere Arbeiter schaufeln in einer riesigen Grube herum. Hier soll die Plane rein, um das Wasser eines nahe gelegenen Baches aufzufangen. Agapie Valeriu hat zu Sowjet-zeiten Landwirtschaft studiert. „Wir können vom Gemüseanbau gut leben“, sagt er, „tun aber alles, so billig wie möglich zu arbeiten. Jeder aus der Familie hilft mit.“
Die beiden GTZ-Leute versuchen gar nicht erst, fachliche Kenntnisse zu offenbaren. Sie versuchen auch nicht, ihre Herablassung der Dorfbevölkerung gegenüber zu verheimlichen. „Ich bin der Jurist“, sagt Andrei Zapanovici immer wieder, „ich bin für die Verträge zuständig.“ Die Frage, ob er vom Lande stammt, weist er empört zurück. „Aus Chisinau“, sagt er mit einer Stimme, die nach „woher sonst?“ klingt.
Unsere nächsten Station ist der Weinbauer Andrei Leon Buza. Seine Leidenschaft für Wein habe er bei diversen Jobs auf Zypern entdeckt, erzählt er. Die Familie muss tagelang gekocht haben und lädt uns zum Essen ein. Ein Nachbar kommt noch dazu. Berge mit Putenfleisch, Hühnerbeinen und eingelegten Tomaten schmelzen dahin. Bevor die Weingläser leer sind, wird nachgeschenkt. Die offizielle Stimmung verschwindet, die Männer lachen und beginnen eine Debatte darüber, dass die Bauern sich nur ungern den GTZ-Beratungen unterwerfen und kaum von dem Gedanken beseelt sind, in Kooperativen vereint zu sein. Mit einem Nachbarn freundschaftlich zusammen arbeiten, das reicht doch! Meint Andrei Leon. Es ist zu spüren, dass sie schon oft darüber gesprochen haben. Es ist auch zu merken, dass dieses „Geld beantragen“ den Stolz der Landwirte kränkt.
Beim Abschied im Hof stehen wir noch eine Weile herum, die Hausfrau hält vorsorglich einen Teller mit Frikadellen in der Hand, die Haushunde hoffen, etwas abzubekommen. Ein letztes Glas Wein gibt es auch.
Abends fahre ich allein mit einem Autobus in Richtung Zabriceni weiter, einem Ort in der Nähe von Edinet in Nordmoldawien. Hier wohnt Nicoleta Voroniuc. Sie hatte mich eingeladen, ein „ganz besonders typisches moldawisches Dorf“ kennenzulernen. In ihrer E-Mail stand: „Hier kannst Du alles ansehen, meine Nachbarin hat Kühe, und eine Molkerei haben wir auch.“
Die Landschaft unterwegs ist nicht eintönig, sie ist sanft. Schwarzer, unbestellter Acker und Alleen mit Walnussbäumen. Ab und zu wird die ruhige Stimmung durch Autos und Lastkraftwagen unterbrochen, die dem Bus auf der falschen Seite entgegenkommen. Diese Geisterfahrer nehmen die Spur, die weniger Schlaglöcher hat und weichen erst in letzter Sekunde aus. Nicoleta Voroniuc holt mich von der Bushaltestelle ab. Wir gehen durch eine Dorfstraße mit bunt gestrichenen Holzhäusern. Lila, knalliges rot, tintenblau und grasgrün. Nicoletas Haus ist nicht gestrichen, ihr Zaun auch nicht. „Ich komme einfach nicht dazu“, sagt sie. Die Eingangsstufen zur Küche sind mit rotem Stoff geschmückt. Es riecht schon von weitem nach dem gebratenen Huhn, das sie im Ofen zubereitet.
Nicoleta hat drei eigene Kinder im Alter von zwei bis acht Jahren und ein Mädchen, das eine Verwandte zurückließ, um im Ausland arbeiten zu können. „Wenn mein Mann hier ist, bin ich glücklich“, sagt sie, „wenn er weg ist, ist es schlimm, wir warten dann die ganze Zeit auf ihn.“ Der Mann arbeitet oft monatelang in Russland, ein Spezialist für den Bau von Hausfassaden. In Moskau gibt es immer etwas zu tun, während in Moldawien die Bauwirtschaft unter der Krise leidet wie kaum sonst eine Branche.
Wachteln züchten
Nach zwei Übernachtungen auf dem Wohnzimmersofa bin ich auch soweit, dass ich auf den Mann warte. Es herrscht eine Stimmung wie eine Woche vor Weihnachten, wenn die Kinder die Spannung nicht mehr aushalten, wann kommt er endlich? Verzögert sich die Ankunft? Wenn Nicoleta eine Minute Ruhe hat, steht sie mit dem Rücken am warmen Kachelofen und starrt ins Leere. Sie ist Englischlehrerin, arbeitet aber nicht, weil das jüngste Kind noch zu klein für den Kindergarten ist. Das älteste Kind – es heißt Paula – hat eine Krankheit, die seine Muskeln und Gewebe verknöchern lässt. Paula kann ihre Arme und den Kopf nicht mehr bewegen. Wenn sie vor dem Tisch steht, kann sie noch allein essen. Sonst kaum.
Es gibt vieles, was Nicoleta nicht hat. Sie hat kein fließendes Wasser im Haus, keine Zentralheizung, kein Auto, keine Zeit, nicht genug Schlaf, nicht genug Abwechslung. Sie hat Pläne. Sie will ihr Dorf weltbekannt machen und hat einen Blog eingerichtet, der frei übersetzt Zabriceni, Dorf meiner Träume heißt. Im Moment sind nur Fotos ihrer Kinder zu sehen, aber das kommt alles noch, sagt sie. Eine Straße weiter gibt es eine gerade eröffnete Molkerei, für die hat sie auch schon eine Seite im Internet eingerichtet. Nicoleta möchte auf ihrem Grundstück Wachteln züchten und die Eier verkaufen. „Das kann doch klappen“, sagt sie optimistisch. „In der Stadt wollen die Leute solche Eier.“
Die Familie hat auch schon in Moskau und in Chisinau gelebt. Nun aber wollen sie endgültig hier bleiben. Nicoleta guckt entsetzt, als ich ihr erzähle, dass es in Deutschland viele Menschen gibt, die noch nie von ihrem Land gehört haben. „Was findest du so außergewöhnlich an Zabriceni“, frage ich sie. „Ich bin hier geboren“, so die Antwort. „Aber seit wann braucht man für Liebe eine Erklärung?“ Abends führen wir uns im Internet gegenseitig unsere Lieblingsmusik vor. Paula tanzt, ihre Augen lachen, und sie macht elegante Bewegungen mit den Händen.
Dieser Text erschien in der Print-Ausgabe des Freitag vom 18.3. unter dem Titel "Paula tanzt, ihre Augen lachen".
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