Der unmögliche Garten

Gartengeschichten Eine Geschichte von zwei Gärten - einem in Deutschland und einem in Australien -, von einem griechischen Nachbarn und vielen verschlungenen Wegen

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Dieser Garten begann an einem kalten, dunklen Novembertag aus einem Reflex heraus. Draußen, mit dem Bedürfnis allein zu sein, mich zu vergraben, Streit aus dem Weg zu gehen, einfach nur frische Luft zu schnappen. Raus, bloß raus vor die Tür, um nicht zu platzen. Die Situation war aussichtslos, festgefahren, jedes Wort wäre zu viel gewesen und alles war vergeblich schon unzählige Mal gesagt worden. Innen wie Außen löste die Welt sich auf. Mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Verzweiflung begann ich erst Erde umzugraben; dann tiefer, immer tiefer grub ich ein Loch.

Der Boden war noch nicht gefroren und die Luft roch feucht und modrig. Je tiefer ich kam desto mehr änderte sich die Beschaffenheit der Erde. Den wenigen Zentimetern dunklen feuchten Humus' folgte eine graue Sandschicht, die kein Ende nehmen wollte. Dann, sehr viel später kam Schutt; kein Sand, kein Humus, nur Scherben, Brocken von Mauerwerk, Ruß. Dabei hatte ich nicht mal einen halben Meter tief gegraben. Die schönsten der Tonscherben sammelte ich auf. Der Rest wurde in die Mülltonne geschüttet, zum Abtransport am nächsten Morgen. Anschliessend besorgte ich frische Erde und ein paar Blumenzwiebeln (Iris latifolia). Dann versenkte ich alles, statt meiner, in dem Loch. Eine Freundin brachte wenig später Tulpenzwiebeln (Tulipa viridiflora) vorbei. Auch die blauen Hyazinthen (Hyacinthus orientalis) wurden draussen ausgesetzt, nachdem sie wochenlang mit ihrem Duft die Wohnung belebt hatten. Danach folgte im Januar der Weihnachtsbaum.

Es gab keinen Pflanzplan, keine Vision, keinen Gedanken an die Zukunft, geschweige denn das nächste Jahr. Die Pflanzen fanden ihren Weg ins Beet nur, weil Topfpflanzen – in welcher Form auch immer – ein schwer zu lösendes ästhetisches Problem darstellten, sie allesamt für die Mülltonne aber noch zu lebendig waren. Besonders im Winter haben Topfpflanzen etwas Morbides. Bei ihrem Anblick schnürt mir die berechenbare Ausweglosigkeit, mit der sie Pflege einfordern, jedes mal die die Kehle zu. Das dachte ich zumindest, damals, vor sechs Jahren. Deshalb alles raus, “The Universe Provides”. Das Beet als Versuchslabor, Testfeld, mit offenem Ausgang.

Einen Garten anzulegen war also anfangs gar nicht die Idee. Ich hatte gehört Gärten sind zeitaufwendig. Auch, dass man einen grünen Daumen braucht, um sich um Pflanzen zu kümmern. Ein Garten war zu “high-maintenance”. Zu viel Verantwortung, eher etwas für satte, behäbige Existenzen. Nichts für Menschen mit existenziellen Lebenswirklichkeiten. Nichts für flüchtige, hypergalaktische Sprinter der Superlative, die von der Hand in den Mund leben, permanent Grenzen ausloten und nicht wissen wovon sie die nächste Miete zahlen. Der Garten und ich, das war ein diametral entgegengesezter Komplementärkontrast. Das eine schloss das andere unweigerlich aus; und das war gut so. Bis zu jenem Tag im November. Plötzlich war da nur die Neugier, der Drang nach Erkenntnis: Was wohl passiert, wie's wohl weitergeht mit den Pflanzen? Was machen die aus dem bisschen Erde und Wasser und Sonne? Das wollte ich sehen.

Der Garten der Pfade, die sich verzweigen

Genau genommen ist dies mein zweiter ‘eigener’ Garten. Der Garten meiner Kindheit zählt nicht, dort stellten andere die Regeln auf.

Mein erster Garten befand sich nicht in Deutschland, nicht in Europa, sondern lag 12.000 km entfernt von hier in den Subtropen der Südhalbkugel, inmitten eines Vulkankraters im Outback der Great Dividing Ranges an der Australischen Ostküste. Die nächste Ortschaft hiess Murwillumbah. Dort arbeitete ich als Graphikerin für einen Verlag an Büchern über Permaculture Pflanztechniken. Die täglichen Layouts und Scans der Pflanzpläne im Kopf begann ich abends und an Wochenenden einen eigenen Garten anzulegen. “Mulching” war hier das Schlüsselwort, denn Humus gab es so gut wie nicht. Alles wuchs auf einer dünnen Schicht von Rinde und Blättern in atemberaubender Geschwindigleit zu riesenhafter Grösse heran.

"The Day of the Triffids" – Kultur inmitten feindlicher Natur

Es gab wild wachsende Strelizien (Strelitzia reginae), Funkien (Funkia Spreng.), Ingwerblüten (Zingiber officinale) und Waratahs (Telopea), Passionfruitranken (Passiflora edulis), Kiwi- (Actinidia deliciosa) und Feigenbäume, Mangos, Avocados, Bananen, Pawpaws, monumentale Kürbisse und Mammut Zucchinis. Schwärme von Papageien flogen durch den Garten, Kookaburras weckten einen früh morgens mit ihrem lauten Geschrei und Carpet-Snakes – grosse, dicke bis zu 3 Meter lange Pythonschlangen – durchkreuzten den Garten auf Nahrungssuche. Mittags versperrte einem manchmal urplötzlich eine Riesenechse den Weg und abends hüpfte das ein oder andere Känguru auch mal zwischen den Beeten herum. Wenn man beim Ernten unaufmerksam war kamen öfter als einem lieb war, – wie aus dem Nichts – auch mal kleine Schlange geschossen, die man beim täglichen Sonnenbaden gestört hatte. Wirklich respekteinflössend aber waren die dicken, haarigen Spinnen, die sich ihre Nester in den Pflanzen bauten. Gärtnern in den Subtropen bestand im Wesentlichen aus Wegschneiden ungewollter Pflanzen und Triebe. Das, und vielleicht noch aus gelegentlichem Wässern. In der Hauptsache war die Aufgabe dort aber einfach nur so etwas, das sich am besten als “aktive Selektion’ beschreiben lässt.

Als ich später, ein Jahr nach meiner Abreise, ein letztes Mal zurückkehrte war von meinem Garten so gut wie nichts mehr zu sehen. Die Natur hatte ihn sich einverleibt. Mein Garten war verschwunden, einfach weg. So wie ich das Land verlassen hatte, so waren die Überreste meines Gartens jetzt nur noch ein schmerzliches, doch stimmiges Bild meiner Abwesenheit. So wie es war, war es gut. Das Kapitel war abgeschlossen. Es gab keinen Weg zurück.

Natur inmitten von Kultur

Die Geschichte meines zweiten Gartens handelt von Unmöglichkeit, vom Pflanzen am falschen Ort. Kurz, vom Leben in all seinen Widersprüchen. Denn es ist eigentlich gar kein Garten, es gibt keinen Zaun, es ist kein stilles Refugium, sondern nichts als pflanzegewordener Wille auf 10 x 10 Metern Asphalt im Hinterhof eines Mehrfamilienhauses. Geografisch gelegen in einem “sich im Wandel befindenden” Stadtteil im dicht besiedelten, urbanen Zentrum einer deutschen Metropole, die sich einzig durch die Nähe zu einem internationalen Flughafen und der Europäischen Zentralbank auszeichnet.

Begonnen hat dieses zweite Kapitel des Gärtnerns für mich mit einem Streit. Streitpunkt war ein 2 x 2 Meter kleiner Anteil einer nicht betonierten Fläche, die "Vitrine", wie mein Nachbar diesen von meiner Wohnung aus einzig sichtbaren Teil des Hinterhofs nennt. In einem Anflug von blindem Aktionismus hätte ich "ohne Genehmigung" gegraben und so “die Vitrine widerrechtlich beschlagnahmt", so der Vorwurf. Dieses wollte mir nicht einleuchten, ich wurde eines besseren belehrt, versäumte es aber die gewünschten Korrekturen vorzunehmen um den alten Status quo wieder herzustellen.

Irgendwie ging es bei dem Streit mit meinem tomatenpflanzenden, griechischen Nachbarn vor allem um zwei Dinge: Um Raum und um Alleinherrschaft. Ohne es zu wissen hatte ich die Grenzen seines Imperiums sozusagen überrannt. Wie gesagt, es gab weder Zäune - zu dem Zeitpunkt jedenfalls noch nicht - noch Konturen. Nur Ansprüche, die schwer und schwanger in der Luft lagen, wie die Feuchtigkeit nach einem heissen Sommergewitter. Letztlich ging es wohl darum, wer die Regeln bestimmen darf, wer der Chef im Hinterhof ist. Vordergründig wurde der Konflikt als einer um Licht und Raum ausgetragen. Und ich hatte – ohne es zu wollen – Fakten geschaffen, während mein sich napoleonisch gebärdender Nachbar noch wild am Gestikulieren war.

Hätte er weniger Lärm gemacht, wäre er weniger aggressiv und etwas netter gewesen, ich hätte mich schuldig gefühlt und eingelenkt. So aber wurde aus dem “Pflanzen am falschen Ort” eine existenzielle Frage, eine des Selbstrespekts. Mein Nachbar liess mir keine Wahl, es blieb nur die Flucht nach vorn. In dem Moment, in dem ich dann das ganze Gewicht meiner über Jahre angestauten, hinausgeschobenen Konflikte erdrutschartig auf ihn niederprasseln liess, wussten wir beide schlagartig, dass er keine Chance hatte. Um danach jede weitere Ausdehnung meines Beetes zu verhindern baute er am folgenden Tag vorausschauend einen schweren, massiven Zaun. “Du wirst dich nicht daran halten, aber ich baue das, um dir zu zeigen wo die Grenze ist” sagte er drohend und flehend zugleich. Wir beide wussten, dass kein Garten gross genug sein kann, kein Zaun hoch genug; dass Grenzen diese Gärtnerin nicht interessieren.

Und so kam der Garten zu mir; mehr aus Reflex denn aus Vorsatz. Seitdem grüsst man sich, zwar distanziert aber doch respektvoll. Das “Du” durfte er behalten. Die Tomaten werden jetzt im grösseren, hinteren Teil des Hofes angebaut. Vorne wachsen Tulpen, Pfingstrosen und alte Rosen und Himbeeren, Äpfel und Pfirsiche. Es rankt der Wein und die Wisteria und der Jasmin, ein Mandelbaum blüht sowie der Rittersporn und die Iris. Eigentlich ist alles sogar wieder wie in meinem ersten Garten, in den Subtropen: Ich wässere, schneide was zu viel ist. Ansonsten aber schaue ich den Pflanzen bewundernd bei ihrer Arbeit zu. Sie belohnen mich mit ihrem herrlichen Duft und den süssen Früchten. Die vielen überraschenden Variationen ihrer Schönheit lassen mich immer aufs neue sprachlos vor Bewunderung inne halten und alles andere vergessen. Der Garten als Gral. Fast könnte man meinen der verloren geglaubte erste Garten sei zu neuem Leben erwacht. Wenn wir Zeit nicht als kausales Absolut begreifen, dann hat es vielleicht sogar immer nur diesen einen richtigen Garten gegeben, all die Jahre hindurch. Unmögliche Gärten an 'falschen' Orten sind das Allerschönste.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

silvio spottiswoode

»Ohne Griechenland kann man Europa umbenennen, etwa in Horst.« (Nils Minkmar)

silvio spottiswoode

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