Guardian Witness

Open Journalism "Taking the bricks down between your readers and the people you want to reach."

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
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Die Presselandschaft ist im Umbruch. Etablierte Erlösquellen – Anzeigen und Abos –, bröseln oder brechen ganz weg. Neue Modelle sind noch nicht erfunden. Große, populistische Akteure, wie Murdoch oder Springer, sorgen für Verlust medialer Vielfalt und experimentieren mit an analogen, predigitalen Zeiten ausgerichteten Paywallsystemen.

Nur ein einziger der Big Player wagt wirklich was Neues: Auf der Suche nach zeitgemässen Formen des Journalismus veröffentlicht der Guardian jetzt seine „Witness“-Seite. Dem augsteinschen Konzept der Freitags-Community durchaus verwandt: Eine Platform für die Verschränkung traditioneller journalistischer Themen mit Leserbeiträgen zum aktuellen Tagesgeschehen. Alan Rusbridger, Herausgeber des Guardian, spricht von „Mutual Journalism“ auf einer Offenen Platform.

WAN Bangkok. Letzte Woche fand in Bangkok der 65. Kongress des Weltverbands der Zeitungen und Nachrichtenmedien (WAN-IFRA ) statt. In Vorträgen und Diskussionen präsentierten 1.400 Delegierte ihre Erkenntnisse zum beschleunigten Wandel der Zeitungsbranche.

Um den Übergang in die Digitalisierung zu finanzieren nutzen Verleger in Latein-Amerika und Asien beispielsweise immer noch das relativ stabile Print-Geschäft vor Ort. Viele gleichzeitige Veränderungen führen allerdings auch dort mehr und mehr zu der Entstehung riesiger Informationsfabriken, in denen Print, Web und mobile Inhalte gleichzeitig entwickelt werden. In diesen neuen Strukturen vermischen sich Tätigkeiten der Journalisten mit denen von Medien Produzenten und Entwicklern. Allen gemeinsam ist, dass sie eine kritische Form des Journalismus betreiben. Der Fokus liegt auf der dringlichsten aller journalistischen Aufgaben: Der Enthüllung von Machtmissbrauch, öffentlichen und privaten Verfehlungen und der Verteidigung demokratischer Grundrechte.

Um diese Aufgabe auch langfristig noch erfüllen zu können haben sich Herausgeber und Verleger in einen Transformationsprozess begeben. Die Architektur der Redaktionen wird dabei neu erfunden. Wände – buchstäbliche ebenso, wie mentale – werden entfernt, etablierte Hierarchien und Tischpositionen überarbeitet.

Zahlen. In Europa und den USA konsumiert eine steigende Leserschaft ihre Nachrichten online, jedoch mehr oder weniger unkoordiniert. Kenntnis der Zielgruppe wird als einer der besten Wege gesehen, um die Leserschaft einzubinden. Laut Medienexperten wie Jim Chisholm stellen Zeitungen – in absoluten Zahlen – „50.4% des Internetkonsums dar. Jedoch nur 6.8% in tatsächlichen Seitenaufrufen, 1.3% in Verweildauer“. Deshalb sagt denn auch WAN-IFRAs Vincent Peyregne:“The whole battle is therefore about engagement".

Paywalls waren ein zentrales Thema in Bangkok. Man ist sich bewusst, dass sie nicht die Lösung aller Probleme darstellen. Andererseits weiss man inzwischen auch, Leser sind bereit für Qualität ebenso wie für gut recherchierte Artikel zu zahlen. Umso nachdenklicher machen dann diese Statistiken: Während der Guardian, der nach wie vor das Offene System favorisiert 1 Mio. Pfund pro Woche verliert macht der Telegraph ungefähr genau soviel Gewinn durch die digitalen Abos. (50 Mio Pfund pro Jahr). Wobei dies eigene Zahlen der Verlage sind, keine offiziellen Erhebungen. Jedenfalls hält man sich in der Industrie offensichtlich bedeckt, was die Zahlen und Gewinne des Paywallgeschäfts anbelangt.


Im Interview mit Mathew Ingram von Gigaom bedauert Alan Rusbridger, dass es keine verlässlichen Zahlen für die Einkünfte aus Paywalls in der Zeitungsbranche gibt.

Neben den USA, Europa und England sitzt in Australien die viertgrößte Leserschaft des Londoner Guardian. Angesichts der dominanten, konservativen Mediengesellschaften, Murdoch und Fairfax Limited, initiierte der Internet-Entrepreneur Graeme Wood (wotif) 2012 zusammen mit dem linksliberalen Guardian ein Venture-Capital/Spenden Modell, um Medienvielfalt in Australien langfristig zu sichern. Wie in den USA wird auch in Australien beim Guardian auf eine Offene Platform gesetzt.

Journalismus als dialogisches Werkzeug einer einzigartigen Informationsrevolution. Journalismus, der nicht nur einfach aus dem Elfenbeinturm heraus Fakten verkündet, sondern als investigatives, Reaktionen und Interaktionen provozierendes Medium, das dem breiten, z.T. hochspezialisierten Wissen seiner Leserschaft Rechnung trägt und sogar versucht dieses in den Nachrichtenprozess miteinzubinden.

Eine Platform für die gemeinsame Erstellung von Nachrichten und Meldungen zum Tagesgeschehen; gemeinsam von Lesern und Journalisten, Menschen, die zusammen alle mehr wissen, als jeder für sich allein. Eine neue Form des Journalismus, die vereinnahmend alle in den Nachrichtenprozess miteinbezieht. Leser helfen dabei, sozusagen als eingebautes Korrektiv. Geschichten können so jederzeit von allen kritisch hinterfragt, und Nachrichten – unserer von Veränderungen und Umbrüchen geprägten Welt – in unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Zusammen mit dem Leser gestaltet sich der Journalismus des 21. Jahrhundert als vielschichtiger Artikulationsprozess einer demokratischen, offenen Gesellschaft, um so die best mögliche Arbeit zu leisteten und den vielen unterschiedlichen Stimmen einer pluralistischen Welt Gehör zu verschaffen.

„The big question for me is: What is better journalistically? And there is no question, that journalistically we can do so much better reporting everything, from music to climate change to politics, international affairs ... using these techniques of openness. (…) As newsrooms get smaller, we are going to need these techniques more. You can do a better job of describing the world, using all that“, sagt Rusbridger.



Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

silvio spottiswoode

»Ohne Griechenland kann man Europa umbenennen, etwa in Horst.« (Nils Minkmar)

silvio spottiswoode

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