Jakob Augstein und Nikolaus Blome liefern sich seit Januar 2011 immer freitags in der Phoenix-Sendung Der Tag einen Schlagabtausch über das Thema der Woche. Wiederholt wird die Diskussion sonntags vor dem Presseclub
Wie herzlos ist Hartz IV?
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Kommentare 6
Liebe Grüße an den Kollegen Blome,
verbunden mit dem gütigen Hinweis, dass er für sein grundgütiges SGBII ALG2 Almosen eben doch etwas sehr wertvolles zurückbekommt, nämlich "Sozialen Frieden".
Natürlich kann man selbst so eine Grundleistung nach bester Feudalherrenmanier ersatzlos streichen, verwirkt dadurch jedoch den Anspruch der persönlichen Verwunderung, falls ein liebgewonnenes Familienmitglied dann doch mal wegen einer läppischen Schachtel Zigaretten oder einer Dose Billigravioli überfallen wird.
Das mag zwar geisteswissenschaftlich recht unmoralisch erscheinen, entspricht gemäß der Gesetzen der echten Naturwissenschaften dann aber doch der Feynman'schen Aussage "...for nature cannot be fooled.", respektive der Binsenweisheit, dass Blödheit nicht vor Schaden schützt.
Alternativ darf man sich natürlich gerne auch der hemmungslosen Naivität hingeben, dass so ein frustrierter und überforderter 22jähriger - um 75% Leistung sanktionierter - ALG2 Empfänger aus reiner Philantropie und Respekt vor der konservativen Mitte a priori lieber obdachlos verhungert, als sich am Eigentum Dritter zu bereichern, und sich damit auf tugendhafteste Art und Weise vom durchschnittlichen Cum Fake Ex Phantompapier Paradise Papers Investmentbääänker moralisch distanziert, oder man wird einfach erwachsen.
Und da sind wir dann auch bei des Pudels Kern. Zum Erwachsenwerden gehören bedauerlicherweise auch differenzierte Betrachtungsweisen. Beispielsweise die Akzeptanz von sehr unglücklichen Biografien, der Verschiedenheit von Menschen, und dass die Welt eben nicht am egozentrischen Wesen zu genesen hat.
Glück für die, welche harte Schicksalschläge gut wegstecken. Mancher schafft es nunmal nicht.
Oft ist es ja nicht einmal eine reine Lohnfrage, sondern eine Frage von immateriellen Dingen, wie Kritikunfähigkeit aufgrund traumatischer Erfahrungen, dem Nichtkennens von Gefühlen wie Respekt, Anerkennung oder Wertschätzung, welche zur Entwicklung eines gesunden Selbstbildes zwingend notwendig sind, oder aber schlicht eine generelle Überforderung aufgrund mangelnder intellektueller Ressourcen.
Seien wir ehrlich: Die Sanktionen treffen doch nahezu ausschließlich eine Gruppe von Menschen, welche sich geistig überhaupt nicht erwehren kann. Und das ist nun wahrhaft keine Zierde für eine aufgeklärte Gesellschaft, und erst recht kein Grund zum Stolz sein, dass man es einem hilflosen Charakter jetzt aber mal so richtig gegeben hat.
Vielmehr stellt sich hier eine andere interessante Frage: Wie stark muss eigentlich die eigene innere Anspannung, wie mächtig der empfundene Frust sein, damit sich ein Mensch lieber an solchen Personen abarbeitet, als den eigenen Wohlstand und die persönliche Lebensgestaltung einfach genießen zu können?
Die neoliberale Lebenslüge des Strebens nach Chancengleichheit wirkt seit jeher unglaubwürdig, da sie im vollen Bewußtsein der Tatsache formuliert wird, dass Menschen eben nicht automatisch gleich werden. Keine Vorstellung würde einen Patek Philippe Connaisseur auch mehr zu gruseln vermögen, benötigt er aufgrund ureigenster Minderwertigkeitsempfindungen doch gerade die starke statusfixierte Unterscheidbarkeit.
Nicht minder uninspiriert wirkt die ewige Forderung der Sozialidealisten nach einer Erhöhung von Mindestlöhnen und/oder Sozialleistungen. Die dadurch erwirkte Teuerungsrate würde die gut gemeinte finanzielle Bevorteilung ganz schnell pulverisieren. Im übrigen wirkt dieses ständig wütend-mitleidig-larmoyante Kopfgetätschel von oben auch ziemlich enervierend.
Ein erster Schritt in die richtige Richtung läge darin, zumindest das in der Öffentlichkeit häufig diskriminierende Bild des genuinen Leistungsempfängers zu korrigieren, und Sendeformate wie das - durchaus die Mittel des "Ewigen Juden" einschließlich der Fokussierung auf Hygienemängel, sprich Nazipropagandafilmmethoden verwendende - "Armes Deutschland" zu unterbinden.
Lernen wir andere Menschen und deren Lebensläufe nicht nur zu tolerieren, sondern sogar zu akzeptieren, und - noch besser - zu respektieren.
Und vielleicht lernen wir dann sogar noch, uns mehr mit uns selber zu beschäftigen, und das eigene Leben ganz bewußt zu genießen, statt den Dachholzbalken vor dem eigenen Auge unserem Nächsten permanent in die Fresse hauen zu müssen.
In diesem Sinne: Fliegt meine kleinen Küken, fliegt. Wetten würde ich aber nicht auf Euch...
Liebe Grüße
Papa
@Blome
Es gibt auf dem Planeten kaum ein krummes Geschäft, bei dem die Deutschen, namentlich die Deutsche Bank und VW, nicht prominent mitgemischt haben. Und da frage ich mich schon, wer dem Land größeren Schaden zufügt: ein Mensch der nichts arbeitet, vielleicht weil er nicht kann, oder ein Lump mit weißem Kragen, der sich auf Kosten Anderer bereichert, dass die Schwarte kracht. M.a.W: Man muss genau hinsehen, wen man schurigelt. Der Sachbearbeiter beim Jobcenter ist dazu gewiss nicht in der Lage.
Nachbemerkung:
Nur damit niemand meint, das sei ja gaaanz etwas anderes; der Lump im weißen Kragen werde selbstverständlich belangt. Das wird er eben nicht, oder sitzen Ackermann, Jain, Fitschen oder Winterkorn ein? Und selbst wenn sie den lieben langen Tag auf der faulen Haut lägen, würden sie von keinem Sachbearbeiter beim Jobcenter geschurigelt. Grund: Sie haben es nicht nötig, weil sie von ihrem ergaunerten Geld in Saus und Braus leben können, ohne sich verantworten zu müssen. Und sie leben gewiss besser davon, als jeder HartzIV-Empfänger von der Stütze. Ergo: Wenn man schon die Moral bemüht, dann bitte nicht nur gegenüber einem faulen HartzIV-Empfänger, sondern auch gegenüber den Gaunern mit den ersten Adressen. Aber es ist wie so oft: Gegenüber dem kleinen Hühnerdieb greifen wir hart durch und nehmen ihm womöglich noch das bisschen Stütze ab, wenn er nicht pariert - und gegenüber den großen Lumpen sind wir nachsichtig.
>>... oder sitzen Ackermann, Jain, Fitschen oder Winterkorn ein?<<
Und die sind noch nicht mal die Eigentümer des wirklich grossen Reichtums, sondern nur deren hochdotierte Funktionäre.
Fakten prüfen, Herr Blome!
Entgegen landläufiger Meinung halte ich Sie nicht für einen MeinungsBILDner oder Hofpoeten der Kanzlerin, sondern zunächst einmal für einen Journalisten, der sein Handwerk gelernt hat und nach den Regeln der Kunst ausübt.
Deshalb verwundert mich Ihre Aussage, dass man von jungen armen Erwachsenen doch durchaus verlangen könne, zu Terminen zu erscheinen oder sich weiterbilden zu lassen, um nicht sanktioniert zu werden. Leider ist auch Ihr Counterpart, Herr Augstein, nicht auf diese Vorlage eingegangen, sodass ich einmal für die geneigte community und Sie die Fakten präsentiere:
Von Sanktionen
1. Das Verpassen eines Jobcenter-Termins wird tatsächlich sanktioniert, aber nur mit zehn Prozent des Regelsatzes und auch dabei gibt es - eng auszulegende - Ausnahmen und Milderungen (SGB II, § 32). In aller Regel führt das auch bei armen Erwachsenen unter 25 Jahren nicht zum Totalverlust des Alg II.
2. Die von Ihnen genannten "Weiterbildungen" heißen im Sozialgesetzbuch II "Maßnahmen", was deren Inhalt auch besser umschreibt: Zwar sind die aus den Nachbeitrittsjahren in Ostdeutschland berüchtigten Verwahrmaßnahmen mit Papierfigurenausschneidetherapie wohl Vergangenheit, allerdings lebt eine ganze Industrie von zumeist für die Erwerbslosen nutzlosen Bereinigungsprogrammen für die AL-Statistik. Umschulungen oder Ausbildungen fallen übrigens nicht unter den Begriff.
Jahreserwerbslose können sich die Bemaßnahmung weder aussuchen noch sich dagegen wehren: Ein im Zweifel an der Erfüllung von Zielvorgaben interessierter Arbeits(maßnahmen)vermittler teilt sie diesen zu, ein Nichtantreten führt für drei Monate zum Verlust von dreißig Prozent des Regelsatzes; wird jetzt z.B. binnen Jahresfrist noch ein zugewiesener Ein-Euro-Job abgelehnt, sind es bereits sechzig Prozent des Regelsatzes, schließlich erlischt der Anspruch bei einer dritten gleichrangigen Pflichtverletzung vollständig (SGB II, §§ 31, 31a, 31b).
Kleine Nebenfolge der kompletten Streichung: Es werden auch keine Beiträge zur Krankenversicherung mehr gezahlt.Ist der sanktionierte Jahreserwerbslose noch unter 25 Jahre alt, so werden bereits bei Nichtantreten der Maßnahme nur noch Unterkunftskosten gezahlt. - Zumindest besteht der Anspruch. Da die meisten armen jungen Erwachsenen bei ihren Eltern wohnen dürften, die ihrem Sprößling in der Regel keine vertraglich festzulegenden Miet- oder Heizkosten berechnen und die Kinder noch über die Eltern krankenversichert sind, zahlt der Staat einfach mal nix mehr. Deshalb wirkt sich der Wegfall des Anspruchs bei einer zweiten gleichrangigen Pflichtverletzung nur für die Minderheit der armen jungen Erwachsenen aus, die bereits eine eigene Wohnung haben.
Selbstverständlich müssen stark sanktionierte Jahreserwerbslose auch nicht verhungern: Wird der jeweilige Regelsatz um mehr als dreißig Prozent gekürzt, sollen bzw. müssen Lebensmittelgutscheine ausgestellt werden.
Des Staates Potentatchen
Soweit die technical terms des Zuweisens und Strafens, euphemistisch gerne als "Fördern und Fordern" umschrieben. Das meines Erachtens politisch Relevante - neben der Funktion, den Niedriglöhnern noch eine Gruppe zu geben, auf die sie angstvoll herabschauen können: (noch) ist man ja kein "Hartzer" und lässt sich daher alles von seinem Arbeitgeber bieten - ist die uneingeschränkte und kaum rechtlich überprüfbare Machtfülle, die dieses System den so genannten "Arbeitsvermittlern" einräumt.
Man mag tatsächlich noch auf Vermittler des Typs Inge Hannemann treffen, die ihre Arbeit als soziale sehen, um individuell angepasste Ansprüche des Jahreserwerbslosen gegenüber dem Staat einzulösen. Gefragt und verbreitet sind aber wohl eher die Wirtschaftlichkeit beachtenden Kennziffernerfüller, gerne mit betriebswirtschaftlicher Vorbildung und Letztere vor allem in Leitungsfunktionen.
Und wenn die Bundesarbeit für Arbeit nun mal Maßnahmenplätze von Privatanbietern en gros eingekauft hat, dann müssen Jahreserwerbslose dahin vermittelt werden ...
Und wenn für eine umfassen Beratung zu Rechten und Pflichten in einer halben Stunde keine Zeit ist und sowieso nur das unterbreitete Stellenangebot dokumentiert wird, dann unterbleibt diese eben ...
Und wenn es für den Jahreserwerbslosen keine passenden Stellenangebote gibt, dann nimmt man eben das, was man hat - schließlich weiß der typische Alg-II-Bezieher nicht, dass eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt gemäß Sozialgesetzbuch nach individuellem Maß erfolgen muss ...
Und falls der aufgeweckte "Kunde" doch einmal seine Rechte kennt und darauf aufmerksam macht, dann leugnet man diese eben: vor der Klage steht der Widerspruch und davor die Anhörung und nichts davon hat aufschiebende Wirkung und welcher "Kunde" steht das schon durch ...
Und wenn man sich als tariflich beschäftigter Arbeitsvermittler von seinen Kunden abgrenzt und eventuell sogar im Zuge schwarzer Pädagogik nahegelegt bekommt, es dem Jahreserwerbslosen nur ja nicht zu angenehm "beim Amt" zu machen, dann bildet sich eben ein Umgangsklima, welches von beiderseitigem Misstrauen geprägt ist und Verachtung einerseits sowie Aggressivität oder Depressivität andererseits produziert ...
Und all dieses lässt sich nicht durch ein bisschen mehr Zuverdienst hier und ein bisschen weniger Arbeitsbelastung dort ändern, sondern nur durch eine Abwicklung des Systems Hartz I-IV!
Dazu eine kleine Anekdote aus meiner eigenen Zeit als "dummer" und "fauler" Arbeitsloser.
In dieser Zeit erhielt ich einmal drei Vermittlungsvorschläge des Arbeitsamtes (neudeutsch bzw. neoliberal: Arbeitsagentur).
Im ersten Vorschlag wurde ein privater Pkw vorausgesetzt, obwohl ich mir zu diesem Zeitpunkt keinen Pkw leisten konnte und ich dies bei der Arbeitslosenmeldung auch ausdrücklich angegeben habe.
Beim zweiten Vermittlungsvorschlag (gesucht wurde laut Vorschlag ein "Tischlerhelfer") stellte sich heraus, dass die Firma keinen (un)gelernten Tischlerhelfer haben wollte, sondern auf der Suche nach einem "Tischlermeister" war. Das ist jetzt zwar nur ein kleiner, aber doch entscheidender Unterschied. Einen Meisterbrief des Tischlerhandwerks konnte ich leider nicht vorweisen.
Was den dritten Vorschlag angeht: Hier habe ich mehrmals zu unterschiedlichen Tageszeiten bei der angegebenen Telefonnummer angerufen. Es meldete sich aber immer nur der AB: Unser Büro ist zur Zeit nicht besetzt. Bitte rufen Sie später wieder an ... Nach ungefähr zwei Wochen habe ich dann aufgehört, dort anzurufen.
Reiner Zufall oder was sollte das? Nun gut, Fehler können mal passieren.
Aber die Pointe kommt noch. Nach einiger Zeit erhielt ich eine Aufforderung des Arbeitsamtes, in dem ich darlegen sollte, warum aus diesen drei Vermittlungsvorschlägen nichts geworden ist.
Da ist der Blutdruck dann bei mir ganz leicht angestiegen und ich habe dem Arbeitsamt schriftlich mitgeteilt, dass mein Ferrari Testarossa seit einem halben Jahr zur Reparatur in der Werkstatt stehen würde, weil die Ersatzteile nicht lieferbar wären, den 7er BWM würde meine Lebensgefährtin für ihre tägliche Fahrt zur Arbeitsstelle benötigen und einen dritten Pkw könnten wir uns zur Zeit einfach nicht leisten usw.
Jedenfalls bin ich bei meinem nächsten Besuch im Büro des Arbeitsvermittlers beinahe ausgerutscht, so glitschig und schleimig war der Fußboden.
Wer sich gegen die herrschende Nomenklatura wehrt, kann verlieren. Wer sich nicht wehrt, hat bereits verloren.