Zwar sind die Bilder von den Massendemonstrationen und Repressionen der Sicherheitskräfte aus den internationalen Medien verschwunden, aber die scheinbare Ruhe täuscht. Die akute politische Krise Perus ist keineswegs behoben, von strukturellen Ursachen ganz zu schweigen. Der ehemalige linke Präsident Pedro Castillo sitzt weiterhin in Untersuchungshaft, die jüngst auf 36 Monate verlängert wurde. Bezeichnenderweise liegt seine Zelle im Barbadillo-Gefängnis, wo der rechte Ex-Staatschef Alberto Fujimori (im Amt 1990 – 2000) eine 25-jährige Haftstrafe absitzt.
Als Castillo im Dezember vom Parlament durch einen De-facto-Staatsstreich des Amtes enthoben und verhaftet wird, sorgt das für eine massive, das Land erfassende Protestwelle, die in der indigen geprägten südlichen Andenregion ihren Anfang nimmt. Im Januar erreicht der Aufruhr einen Höhepunkt, als Zehntausende von Demonstranten die Hauptstadt Lima fluten. Im Februar folgt eine zuvor bereits absehbare Pause, als viele wegen des Karnevals und der arbeitsintensiven Ernte in ihre Heimatgebiete zurückkehren.
In Lima wird es ruhiger, im Süden errichten Protestierende dennoch weiter Dutzende von Straßenblockaden auf wichtigen überregionalen Routen. Ebenso erleben Städte wie Puno wieder Protestzüge von mehr als 20.000 Teilnehmern. Im März dann sind die meisten Barrieren abgeräumt, während sich die mediale Aufmerksamkeit verlagert. Sie gilt den durch Starkregen verursachten Überschwemmungen und deren Folgen. Dennoch bleibt der Kampfeswille vielerorts ungebrochen. Unter anderem erklären in Puno indigene Verbände, so lange demonstrieren zu wollen, bis Präsidentin Dina Boluarte zurücktritt.
Ablehnung von 91 Prozent
Was den Widerstand eint, ist die Forderung, Neuwahlen noch in diesem Jahr anzusetzen, was der von Mitte-Rechts-Parteien dominierte Kongress verweigert. Der hat sich mittlerweile bei fünf Abstimmungen gegen eine Auflösung verwahrt und blockiert damit jedwede Chance für einen inneren Dialog. So zerlegt ein Land sich selbst, die von diesem Parlament installierte Regierung beharrt auf ihrer repressiven Strategie. 72 Demonstranten sind seit Dezember um Leben gekommen, zumeist hat sie die Polizei erschossen. Es gab Hunderte von Verletzten, willkürlich Verhafteten, im Arrest Misshandelten. Immer wieder ist auf Straßen und Plätzen zu hören: „Diese Demokratie ist keine Demokratie mehr!“ Tatsächlich häufen sich die Belege für den zunehmend autoritären Charakter des Regimes. Bereits Mitte Dezember, als die Regierung erst eine Woche im Amt war, hat Präsidentin Boluarte den Ausnahmezustand ausgerufen, der die Befugnisse von Polizei und Militär gestärkt hat, während die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt wurde. Für etliche Regionen im Süden ist der Notstand seitdem immer wieder verlängert worden.
Gegenwärtig wird das Strafmaß für Delikte verschärft, die Demonstranten oftmals zur Last gelegt werden, darunter „Aufruhr“, „schwere Sachbeschädigung“ und „Krawall“. Nach wie vor sitzen Peruaner wegen ihrer Teilnahme an den Protesten in Haft, für die Tötung von Demonstranten wird hingegen niemand juristisch belangt, weder bei den unmittelbaren Tätern noch den politisch Verantwortlichen. Dina Boluarte klammert sich schon deshalb an ihr Amt, weil präsidentielle Immunität vor juristischen Konsequenzen wegen der bei den Protesten Getöteten schützt.
In wirtschaftlicher Hinsicht steht Boluartes Koalition für einen Erhalt des Status quo, gar für eine Vertiefung des Extraktivismus, sprich: des rohstoffbasierten Wirtschaftens. Auf einer internationalen Bergbaukonferenz in Toronto versprachen Regierungsvertreter aus Peru jüngst eine erleichterte Vergabe von Bergbaukonzessionen sowie die Schlichtung von sozialen Konflikten. Im südlichen Bergbaukorridor verfestigt sich mit dem Ausnahmezustand die Präsenz des Militärs, das auch ökonomische Interessen absichern hilft.
Allerdings bröckelt der Rückhalt des autoritären Machtbündnisses in der Bevölkerung zusehends. Hatte die Regierung nach dem Castillo-Sturz im Dezember noch eine Zustimmung um die 21 Prozent, liegt diese derzeit nur noch bei 15. Und die Ablehnung des Kongresses erreicht den Rekordwert von 91 Prozent.
Gleichzeitig lassen sich in den vergangenen Monaten auch viele Momente für die Bildung von Gegenmacht und einen progressiven Aufbruch finden. Dazu gehört eine gemeinsame Erklärung von 130 zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich für einen Aktionsplan zum gesellschaftlichen Wandel aussprechen. Bei den Unterzeichnern finden sich indigene Verbände, LGBTQIA+-Aktivisten, Gewerkschaften, kleinbäuerliche und Umweltverbände. Trotz einer teils erfolgreichen Strategie der Einschüchterung zeugt das von einer wichtigen Diskursverschiebung. So betont Jennie Dador, Geschäftsführerin der Nationalen Menschenrechtskoordination: „Die indigene Bewegung mit einem klaren ethnischen Selbstverständnis wird stärker. Peru ist in Lateinamerika das letzte Land, das aufwacht. Jetzt beginnt auch hier die Diskussion über eine neue Verfassung.“
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