Arii ist 18 Jahre alt, hat lange, dunkle Haare und stellt gern Bilder von sich ins Netz. Über zwei Millionen Follower hat Arii, das ist auch für bekannte Influencer ziemlich viel. Nun wollte sie sich einen Traum erfüllen: eine eigene Modelinie namens „Era“. Um die Produktion beginnen zu können, musste Arii für sieben Kleidungsstücke, die sie verkaufen wollte, je 36 Abnehmer finden. Einer von 80.000 Followern hätte Interesse zeigen müssen, nicht einmal 0,001 Prozent. Ihre Kollektion ging aber nie in Produktion.
Die Geschichte von Arii ist vielleicht hilfreich dafür, das Youtube-Video von Rezo einigermaßen realistisch einzuschätzen, mit dem er CDU und SPD ein paar Tage vor der Europawahl „zerstören“ wollte (wobei damit nicht das Vernichten, sondern das Entlarven gemeint war!). Das Video brachte besonders die CDU-Spitze um Annegret Kramp-Karrenbauer ins Schlingern. Tagelang fiel der Partei keine Reaktion ein, dann erntete die Parteivorsitzende Spott, als sie andeutete, Influencer einschränken zu wollen, und davon schwafelte, dass die journalistischen Regeln analoger Medien auch für digitale Medien zu gelten hätten. Am Ende war es weniger Rezo, der die CDU zerstörte, als die CDU-Führung selbst, da sie keine Antwort auf Sprache, Argumente, Stil und Tonlage von Youtube-Bloggern hatte. Dabei hat Angela Merkel bei der letzten Bundestagswahl doch gezeigt, wie einfach es sein kann, Influencer einzuladen und sie dann durch rhetorische Stoik zu zerstören. Niemand erinnert sich heute mehr an die damaligen Jugendstars.
„Emma“, Grass, Stefan Raab
Für Grüne zu „voten“ und gegen CDU oder SPD, ist sicherlich billiger als ein T-Shirt von Arii. Zumal man davon ausgehen kann, dass junge Wähler ihr Kreuz eh eher im linken Spektrum gesetzt hätten, auch ohne Rezos Intervention. Dennoch hat die Debatte das routinierte Spiel von Medien und Politik in Frage gestellt. Die große Aufregung ist allerdings auch heute noch nicht wirklich zu verstehen. Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass Jugendliche sich eigene Informationswege schaffen, dass sie sich jenseits der Medien ihrer Eltern informieren. Legendär war der Kampf gegen die Springer-Presse in den 60er Jahren, als Demonstrationen und Aktionen Gegenöffentlichkeit geschaffen haben. 1976 entstand der Pflasterstrand, 1977 die Emma. Publikationen, die besonders bei der Jugend Meinung machten und das Establishment irritierten. 1978 gründete der Tunix-Kongress in Westberlin das alternative und selbstverwaltete Medium taz. Sogar die Etablierung des Fernsehsenders MTV Anfang der 80er schuf eine neue Öffentlichkeit. Die deutsche Antwort, der Fernsehsender VIVA, wurde 1983 gegründet und verstand sich als „Jugendmusiksender für Pop und Fun“ (auch Rezo fungiert übrigens in der Rubrik „Unterhaltung“ und nicht unter „Politik“). VIVA schockte die deutschen Mainstream-Medien, und die Moderatoren Daniel Hartwig, Sarah Kuttner, Matthias Opdenhövel, Oliver Pocher oder Stefan Raab waren für die Jugend, was Rezo heute auch ist: Stellvertreter ihrer Generation, die mit neuer Sprache und neuen Formaten Mediengeschichte schrieben. Die meisten sind Künstler geworden, als Moderatoren und Showmaster etabliert, bei manch einem ist der Lack schon wieder ab. Ihr Geburtssender wurde 2018 als abgelaufenes Zeitgeistphänomen dichtgemacht.
Das Phänomen des Influencers ist ja nicht neu, es funktionierte nur vor allem zuerst analog. Einst waren es die Alphamännchen an den Stammtischen. Und wir kennen die intellektuellen Influencer wie Dieter Hildebrandt im Kabarett oder als Schriftsteller, die SPD-Ikone Günter Grass, die linke Ideale in einer aufbruchsbegeisterten Jugend verbreiteten. Provokation, Subversion und Fakten, gemischt mit medialer Innovation – all das gab auch ihnen den Habitus der moralischen Überlegenheit. Aber es wäre idiotisch, das Phänomen Rezo als „groteske Überschätzung“ zur Seite zu wischen, wie Jan Fleischhauer es in seiner Spiegel-Kolumne getan hat. Es mag sein, dass Deutschlands Journalisten zum großen Teil eher links oder grün denken. Wahr ist aber auch, dass jeder Journalist, der selbst Kinder hat, längst begriffen hat, dass sein Medium nicht einmal mehr die eigene Familie erreicht. Während ältere Journalisten inzwischen im Senioren-Medium Facebook Screenshots ihrer eigenen Artikel posten, weil sie Angst haben, dass sie hinter den Bezahlschranken der Zeitungen nicht mehr gelesen werden, sind ihre Kinder längst abgewandert. Für Parteienforscher Karl-Rudolf Korte ein Paradigmenwechsel: „Wir haben unterschiedliche Generationen von Öffentlichkeit, die sich auch unterschiedlicher Formate des Politischen bedienen wollen. Sie formen eine Volksparteien-Demokratie in eine Bewegungsdemokratie.“
Ein Phänomen, an dem das eigentliche Dilemma des Journalismus abzulesen ist. Wenn wir ehrlich sind, hat in den letzten 15 Jahren kaum ein Verlag eine Antwort auf die neuen Kommunikationsformen gefunden. Gleichzeitig gibt es immer mehr Leute wie Rezo, die gar nicht erst fragen, was sie mit einer „Zerstörung der CDU“ verdienen – sondern sie einfach ins Netz stellen. Übrigens mit jenen Mitteln, auf die sich die altehrwürdigen Medien berufen: Faktenchecks, Quellenangaben und eine Mischung aus Fakten und emotionaler Erzählweise, die bekanntlich zuletzt für den Spiegel zu einem massiven Glaubwürdigkeitsproblem geriet.
In Wahrheit sind Influencer inzwischen eine beachtliche wirtschaftliche Größe. Der „Bundesverband Influencer Marketing“ geht davon aus, dass der Branchenumsatz in Deutschland, Österreich und der Schweiz im kommenden Jahr bei rund 990 Millionen Euro liegen wird. Schon jetzt verdienen 165.000 Menschen Geld mit Instagram, Blogs oder Youtube-Videos im deutschsprachigen Raum.
Aber wie hilflos wirken die Versuche, die Welt der Influencer auf Dinosaurier-Medien zu übertragen? So kaufte sich der Bauer-Verlag den Namen der 24-jährigen Fitness-Influencerin Sophia Thiel für ein neues Magazin. Aber Thiel zog sich schnell zurück: Burnout. Der Bauer-Verlag musste die zweite Ausgabe seines Sophia Thiel Magazins auf Eis legen. Die Strategie, neue Medientrends in alte Medienformate zu übersetzen, scheitert in der Regel – allein wegen der Street Credibility.
Nicht weniger verklemmt, hilflos und peinlich ist der mediale Aktivismus von Politikern. Die meisten Online-Auftritte etablierter Parteien sind oft peinlicher als Großeltern, die sich bei Snapchat anmelden, obwohl die wenigstens authentisch am Enkel dranbleiben wollen. Fast schon süß, dass ausgerechnet der so alt wirkende Philipp Amthor den Gegenschlag gegen Rezo vorbereiten sollte. Wenn der CDU-nahe Verein „Cnetz“ nun den Aufbau konservativer CDU-Youtube-Stars fördern will, kann man sich ungefähr vorstellen, wie das ausgehen wird. Dann lieber die wöchentliche Video-Ansage von Angela Merkel – die ist in sich wenigstens glaubhaft.
Mehr Follower als die „Krone“
Tatsächlich sind es derzeit nicht linke Parteien, die in der neuen Medienwelt zu Hause sind, sie profitieren höchstens von der Solidarität junger Leute wie Rezo. Es sind die Rechten, die erfolgreich sind. Donald Trump macht es mit seinem Twitter-Account vor, und in Österreich übertrifft die Zahl der Facebook-Follower von Ex-Vizekanzler HC Strache die Auflage des Boulevardblatts Kronen Zeitung. Trotz Ibiza-Skandal konnte er so viele Vorzugsstimmen seiner Follower generieren, dass er mit Leichtigkeit ins EU-Parlament einzog. Während die AfD-Führungsriege um Alt-Politiker Gauland in Strache noch einen Schuldigen für das eigene miese Abschneiden sucht, haben die wirklich gefährlichen Rechten längst gelernt, dass sie selbst die besten Influencer in eigener Sache sind.
Genau hier muss die medienpolitische Debatte ansetzen. Es geht darum, dass Politiker selbst keine medialen Übersetzer und Einordner für ihre Botschaften mehr brauchen. Und dass Politiker, die noch immer glauben, dass man allein mit Glotze und Bild Wahlen gewinnt, mittelfristig kaum eine Chance haben werden. Politik und Medien sind sich näher, als sie glauben. Ihr Ziel muss es sein, eine unabhängige Medienlandschaft aufrechtzuerhalten, die nicht in Blasen abdriftet und Glaubwürdigkeit über Interessen- und Parteiengrenzen hinaus zurückgewinnt. Dafür wird es nötig sein, die alten Grundsätze möglichst schnell in neue Medien und Formate zu übersetzen. Sonst droht uns nicht nur das Ende der Volksparteien, sondern auch das der allgemeinen, öffentlichen Notwendigkeit von Medien, die mitten in der Gesellschaft stehen – ungeachtet der politischen Einstellung und des Alters ihrer Nutzer.
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