Demokratie am Gartenzaun

Wahlkampf Der Stadtrand von Bremen ist kein vergessenes Territorium mehr, seit die Spitzenkandidaten Plakate bei unserem Autor aufhängten
Ausgabe 37/2017

Mein Gartenzaun steht vor meinem Haus. Mein Haus steht am Rande von Bremen. Und der Rand von Bremen, an dem ich lebe, war früher ein eigenes Dorf. Heute ist er eine Art Vorort mit einigen Wohnblocks und sehr vielen Einfamilienhäusern; Kirche, Marktplatz, ein Rewe, ein Lidl, zwei Apotheken und viele Friseure. Die meisten Bewohner fahren früh am Morgen zur Arbeit, kehren acht Stunden später zurück und schließen am Abend ihre Jalousien. Am Wochenende wird begeistert Rasen gemäht. Das Haus mit meinem Gartenzaun steht also irgendwo in Deutschlands demografischer Mitte, umgeben von der so oft zitierten Mittelschicht. Bei Wahlen siegen hier in der Regel knapp die Sozialdemokraten, kurz vor der CDU, etwas erfolgreicher als im Bremer Stadt-Durchschnitt ist die AfD.

Im Grunde genommen kümmert sich niemand um das kleine Randgebiet, das von der A1 und den beiden Zuglinien nach Hannover und Hamburg eingegrenzt wird und nach oben hin durch die Einflugschneise des Bremer Flughafens. Die Straßen sind mehr Loch als Asphalt, statt sie zu sanieren, werden einfach Zone-30-Schilder aufgestellt. Aber bei uns meckert niemand darüber. Das Schulzentrum ist nicht wirklich gut, aber auch das stört keinen. Die Straßenbahn fährt nicht raus, man muss den Bus ins sieben Kilometer entfernte Stadtzentrum nehmen. Das dauert knapp 45 Minuten. Macht aber nichts, weil bei uns eh alle mit dem Auto fahren. Wir haben uns daran gewöhnt, keine Lobby zu haben und organisieren unser Leben deshalb lieber selbst, ohne auf die Politik zu warten.

Politik der Peripherie

Den aktuellen Wahlkampf bekommen wir kaum mit. Einige Plakate der SPD-Spitzenkandidatin hängen am Marktplatz und sind bereits abgerissen, die wenigen Poster der CDU hängen noch, weil sie nicht auf Holz geklebt, sondern auf Plastik gedruckt sind.

Wenn man unseren Vorort Richtung Stadt verlässt, fällt auf, dass der Wahlkampf überall in Bremen vollkommen anders aussieht. Zunächst passiert man das Arbeiterviertel Hemelingen, hier verändert sich nicht nur das Stadtbild, die Dichte von türkischen Supermärkten nimmt zu, ein grünes Containerlager für Asylbewerber steht am Straßenrand, und plötzlich hängen an den Laternenpfeilern nur noch Plakate der Linken. Etwas weiter stadteinwärts, man kommt durch das sogenannte „Viertel“, Bremens Alternativbezirk, haben die Grünen das Rennen um die besten Plätze gewonnen, und in der Nobelgegend Schwachhausen streiten sich CDU und FDP um die Plakat-Pole-Position. In diesem Wahlkampf scheint es nicht darum zu gehen, neue Wähler für eine Partei zu begeistern, sondern die eigene Stammklientel zu motivieren.

Vor knapp einem Monat habe ich eine Podiumsdiskussion mit den Spitzenkandidatinnen aus Bremen geleitet. Das Besondere: Alle größeren Parteien haben bei uns Frauen aufgestellt. Im Bundesdurchschnitt stehen dagegen nur 30 Prozent Frauen als Spitzenkandidatinnen zur Wahl. Sarah Ryglewski tritt bei uns für die SPD an, Elisabeth Motschmann für die CDU, Lencke Steiner für die FDP, Doris Achelwilm für die Linke und Kirsten Kappert-Gonther für die Grünen. Nach der Debatte habe ich die Grünen-Kandidatin angesprochen und mich gewundert, dass wir bei uns am Stadtrand nichts von ihrer Partei mitbekommen. Klar, wir tun uns schwer, das Auto gegen das Fahrrad einzutauschen (wie denn auch: Kinder müssen in die Krippe gefahren, Einkäufe getätigt werden), und Bioläden gibt es bei uns auch nicht. Aber trotzdem: Hat man uns etwa schon abgeschrieben?

Am nächsten Morgen grüßte mich von der Laterne vor meinem Haus das Foto von Kirsten Kappert-Gonther. Es ist bis heute das einzige Grünen-Plakat in unserem Vorort. Ich fand das lustig. Immerhin hat Kappert-Gonther reagiert. Da ich aber zu den unentschlossenen Wählern gehöre, habe ich das Plakat auf Facebook gepostet und um mehr Auswahl gebeten. Unter dem Motto #demokratieanmeinemgartenzaun habe ich – nach französischem Vorbild – meinen Gartenzaun als Wahlwand angeboten. Was dann passierte, hat mich erstaunt: Jede Spitzenkandidatin kam im Laufe der Woche vorbei, Plakat und Kabelbinder im Gepäck und mit Zeit für ein Gespräch. Schnell sah mein Gartenzaun aus wie der Stimmzettel. Und die Wahlwerbung bringt tatsächlich etwas: Wenn ich aus meinem Büro auf die Straße schaue, sehe ich, wie die Leute stehen bleiben, sich die Gesichter und die Slogans der Kandidatinnen anschauen und zu diskutieren beginnen. Wann immer ich das Haus verlasse, werde ich in spannende Gespräche verwickelt.

Und fehlt da nicht jemand? Doch: die AfD. „Was, wenn die auch ein Plakat aufhängen?“, werde ich gefragt. Wahrscheinlich würde ich es hängen lassen und mich – ganz öffentlich-rechtlich – mit einem Hinweis distanzieren: „Der Besitzer des Gartenzauns ist kein Freund dieser Partei, aber die Demokratie verlangt, diese Partei auszuhalten.“ Derzeit hängen aber nirgendwo in Bremen Plakate der Rechten, sie beginnen den aktiven Wahlkampf erst zwei Wochen vor dem Wahltermin.

Und so wurde #demokratieanmeinemgartenzaun zum Selbstläufer. Das Projekt zeigt, dass viele Menschen im Angesicht der Plakate begreifen, wie groß die Wahl in Deutschland ist, und durchaus debattieren wollen, bevor sie ihr Kreuz machen. Aber #demokratieanmeinemgartenzaun zeigt auch, dass die Kandidaten, die sich um den Einzug in den Bundestag bemühen, durchaus Interesse an Kontakt zu ihren Wählern haben. Mehr noch: Sie haben Spaß daran, gemeinsam mit der Konkurrenz am Gartenzaun in der Provinz um ihre Positionen zu kämpfen. Spaß daran, ihre Argumente zu vertreten und zuzuhören. Viele meiner Nachbarn haben den Politikern das nicht zugetraut.

Am besten Umzug in WG

Apropos: Die Spaßpartei „Die Partei“ wollte natürlich auch an meinen Zaun. Ihr Chef Marco Manfredini schleppte das einzige Plakat der „Partei“ in Bremen persönlich an. Darauf schrieb er den Slogan: „Ehrliche Politik für ehrliche Bürger.“ Darunter tackerte er einen echten 20-Euro-Schein. Immerhin: Er hielt 23 Stunden und 39 Minuten. Die Täter schlugen ausgerechnet zu, als ich auf dem Bremer Marktplatz war, um Martin Schulz zu sehen. Da bekam ich eine SMS von meinem Nachbarn: „16:39 Uhr, ciao 20er!“ Mit den ehrlichen Bürgern in meinem Vorort war es also nicht weit her.

Nicht einmal die von der „Partei“ eingebaute Diebstahlsicherung hat funktioniert: „Du bist gemein und doof“, stand unter dem Geldschein. Wer ist nur derart gewissenlos? Zum Glück gibt es bei uns viele Fenster und viele Nachbarn. Und so war der aktuelle Kriminalfall bereits abgeschlossen, bevor ich vom Marktplatz nach Hause kam. Mich erreichte eine neue SMS: „Bonnie & Clyde: Täterin ca. 1,00 m, blond, 6 Jahre alt. Mitwisser einen Kopf größer. Die Tat dauerte ca. 5 Minuten, die Flucht 5 Sekunden.“

„Die Partei“ reagierte sofort mit einer Pressemitteilung: Unbekannte hätten das einzige und teuerste Wahlplakat der „Partei“ in Bremen beschädigt – ein weiterer Wahlkampf sei unter diesen Umständen unmöglich, man würde schon jetzt eine Neuwahl beantragen. Mit grimmigem Gesicht äußerte sich auch Spitzenkandidat Serdar Somuncu: „Tatort Straße: Plakate zerstört! Und die Täter sind wieder ‚nicht strafmündig‘!“

Fast alle Spitzenkandidatinnen in Bremen haben den Bericht über die 20 Euro – ich schreibe inzwischen einen Blog über meinen Gartenzaun – gepostet. Überhaupt scheint an meinem Gartenzaun das Parteigezänk ausgesetzt. Jede der Spitzenkandidatinnen fühlt sich als demokratische Alternative, und so wird auch miteinander umgegangen: fair im Ton, in der Sache hart, aber getragen von gegenseitigem Respekt. Fast wünscht man sich alle Bremer Kandidatinnen in Berlin, am besten in einer gemeinsamen WG irgendwo vor dem Reichstag. Und mehr noch: Wieder auf Initiative der Grünen-Kandidatin Kirsten Kappert-Gonther planen wir nun ein großes Wahlfest von #demokratieanmeinemgartenzaun für den Ort. Eine Woche vor der Wahl werden die Spitzenkandidatinnen oder ihre Vertreter noch einmal über die löchrigen Straßen unseres Vorortes fahren. Meine Nachbarn und ich werden Kuchen backen und Kaffee kochen. Wer in diesen Tagen vor der Wahl mit unserer Demokratie hadert, sollte vor seinen eigenen Gartenzaun schauen. Dort gibt es viele Menschen, Politiker und Wähler, die mehr als dankbar sind, dass es Orte gibt, an denen wir gemeinsam über die Zukunft streiten können. Meine Wahl steht noch immer nicht fest – aber der Sieg der Demokratie, den können wir am Gartenzaun schon mal feiern.

Axel Brüggemann scheibt unter demokratieanmeinemgartenzaun.blogspot.de über sein Experiment vor der Wahl

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Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

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