Ein guter Demokrat muss nicht unbedingt ein Meistermathematiker sein – in der Regel reichen rudimentäre Kenntnisse der Grundrechenarten und der Teilmengenrechnung. Grundsätzlich gilt: Eine oder mehrere Parteien brauchen mehr als die Hälfte aller Parlamentsmandate um zu regieren. Für eine Regierungsbildung spielt es keine Rolle, ob man mehr oder weniger Stimmen als bei der letzten Wahl auf sich vereinen konnte. Ebenso egal sind bei demokratischen Wahlen der Koeffizient aus Pi der Buchstaben des Wahlslogans und der wahrscheinlichen Möglichkeit eines Zugewinns durch die Addition möglicher Stimmen von Nichtwählern. Aber die Grundrechenarten der Demokratie scheinen nach der NRW-Wahl kurzfristig außer Kraft gesetzt worden zu sein.
Noch am Wahlabend ka
hlabend kamen einem die Parteichefs vor wie Pennäler vor, die das Ergebnis einer Matheaufgabe nicht lösen konnten und versucht haben, wenigstens mit wortreichen Erklärungen den einen oder anderen Punkt herauszuholen. Da war zum einen die SPD: Hannelore Kraft und ihre Genossen feierten ausgelassen ihren Wahlsieg. Und das, obwohl sie Stimmen verloren hatten und die CDU rein rechnerisch 6.000 Wähler mehr verbuchte. Die Grünen frohlockten über ihre Zugewinne und freuten sich über eine Rot-Grüne Regierungskoalition, obwohl diese auf Grund der Verhältnisse einfach nicht zu Stande kommen konnte. Die CDU blies Trübsal, obwohl sie die Wahl gewonnen hatte, aber die Koalition mit der FDP rechnerisch nicht fortzusetzen war. Die Linke freute sich, überhaupt im Landtag zu sitzen, und die FDP rechnete vor, dass sie eh draußen sei, weil ihr die Mehrheit gemeinsam mit der CDU fehle und sie gar nicht daran denke, in anderen Konstellationen Verantwortung zu übernehmen. Der geneigte Fernsehzuschauer saß vor der Glotze und zweifelte an Pythagoras und Adam Riese.Auch mit den Grundlagen der Gemeinschaftskunde kam man an diesem Abend nicht weiter. Dort lernt man, dass es die grundgesetzliche Pflicht der Parteien ist, aus den Stimmen der Bürger eine Regierungsmehrheit zu bilden – notfalls auch mit Kompromissen gegenüber dem eigenen Wahlprogramm. Schließlich gehören Kompromisse zum Kern einer Demokratie. Bereits in Hessen haben wir gesehen, dass es vielen Politikern anscheinend nicht nur an mathematischen sondern auch an gemeinschaftskundlichen Grundkenntnissen fehlt. Nachdem sie begriffen hatten, dass die Wahlstimmen nicht mit ihren eigenen Vorstellungen der Regierungsbildung übereinstimmten, suchten sie nicht etwa nach Kompromissen, sondern haben Neuwahlen in Angriff genommen – bis das Volk so abstimmte, wie es die Politiker gern wollten. So weit ist es in NRW noch nicht gekommen. Hier haben die Parteien lieber erst einmal eine Theater-AG gegründet und den Wählern das Stück von der Kompromissbereitschaft vorgespielt: Rot-Rot-Grün, klar sei das denkbar, wenn die Linke nicht so behämmert wäre, sagte die SPD! Ampel? Logisch, eine Alternative, wenn die FDP nur reden würde! Jamaika – vorstellbar, wenn die Grünen sich nicht verweigert hätten!Parteien in der Theater-AGIn diesem einwöchigen Koalitions-Vorgesprächs-Geplänkel hat sich einmal mehr gezeigt, wie krank unsere Demokratie wirklich ist! Alle amtierenden Parteien haben sich im Wahlkampf bereits auf ihre Traumkonstellationen festgelegt. Sie haben den Wählern bereits vor der Wahl mehr oder weniger deutlich klar gemacht: „Wir werden aber nur regieren, wenn ihr die richtigen Stimm-Verhältnisse schafft.“ Dummerweise haben die Wähler die Parteien enttäuscht. Die Bürger von NRW haben keine klaren Mehrheiten gewählt, sondern ihre Parteien aufgefordert, auch ungewohnte, neue – vielleicht sogar kreative – Bündnisse einzugehen. Die Zahlen waren klar wie Kloßbrühe! Aber die Parteichefs wollten sie einfach nicht zur Kenntnis nehmen, haben sich ihre Lage schöngeredet und die Stimmzahlen schlichtweg ignoriert. Das Votum des Volkes forderte nach den Regeln der Mathematik und der Gemeinschaftskunde: politischen Dialog!FDP, Grüne, SPD und Linke haben diesen Wählerwillen nur halbherzig verfolgt. Dabei war das die einzige Chance, den rechnerischen Wahlsieger, die CDU, von der Macht zu verdrängen. Und das war letztlich Wahlziel aller Oppositions-Parteien! Nun sollte sich niemand wundern, wenn Jürgen Rüttgers Ministerpräsident bleibt. Er hat schon am Wahlabend ein Interview in den Tagesthemen verweigert und sich auch im Nachhinein rar gemacht und gewartet, bis die Mathe- und Gemeinschaftskunde-Versager der anderen Parteien wieder auf ihn zukommen.Alle Parteien, die sich am Abend der Wahl das Wahlergebnis schöngeredet und auch in der folgenden Woche ihre Chance verpasst haben, durch kreative Wege den Willen der Wähler in uneitler Kompromissfähigkeit einzulösen, sollten sich nun nicht beim Wähler beschweren, dass es in NRW wieder zur unkreativsten aller politischen Lösungen kommen wird: zur großen Koalition.