Die Biedermann-Karte

Autobrände Anstatt die soziale Schieflage zu diskutieren, drischt das bürgerliche Lager mit dem Straßen-Knigge auf die Brandstifter ein. Doch wer Benehmen erwartet, muss es vorleben

Die bürgerliche Argumentation gegenüber brennenden Autos in Berlin und den Krawallen in London ist erschreckend schlicht. Man könnte sie so auf den Punkt bringen: Logisch, dass ein Mensch, der nicht mit Messer und Gabel essen kann, zum Brandstifter wird. Oder: Wer Autos ansteckt, hat schlichtweg kein Benehmen.

Während bei den Randalen in den Pariser Banlieues vor zwei Jahren noch über die soziale Schieflage der Metropolen, Integrationsfehler und gesellschaftliche Verantwortung debattiert wurde, wird heute lieber mit dem Straßen-Knigge gewedelt. Das bürgerliche Lager will unter keinen Umständen als Gottfried Biedermann enden. Max Frischs Theaterfigur, der Hausbesitzer und Haarwasserfabrikant, war zu nett zu den Leuten, die sein Hab und Gut angezündet haben. Statt zaghaft und freundlich zu sein, hauen viele Medien und Politiker nun lieber auf die Moral-Pauke. Sie definieren die Grenzen des Benehmens und stellen sich auf die richtige Seite.

Dummerweise ist Benehmen keine Sache, auf die man mit dem Finger zeigt. Als in Charlottenburg Autos brannten, genossen viele Kulturbürger gerade die Sommer-Festspiele in Bayreuth und Salzburg. Dort haben sie in Sebastian Baumgartens Tannhäuser zur Kenntnis genommen, dass im Reich der archaischen Venus Kot anfällt, der auf der Wartburg in Gas verwandelt und das dann wieder zum Kochen und für die Zubereitung neuer, koterzeugender Nahrungsmittel verwendet wird. Zugegeben, auch das ist von erschreckender Einfalt. Aber es gehört irgendwie zum Verständnis dessen, was wir Gesellschaft nennen.

Einem proletarischen Journalisten ist noch etwas anderes aufgefallen: In unseren Theatern sind es schon lange nicht mehr die jungen Menschen, die den Kultur-Knigge vergessen, sondern die gutbürgerlichen Greise und die Nouveau Rich, die mit dem Bonbonpapier rascheln, während der Ouvertüre noch eine Mail absenden und in der Pause im Kommando-Ton bei der Festspiel-Bedienung einen Champagner bestellen.

Benehmen ist Produkt eines evolutionären Prozesses, in dem die Menschheit begriffen hat, dass es produktiver ist, ein­ander in Respekt zu begegnen als in archaischen Ritualen. Das sollte wissen, wer darüber spricht. Wenn sich so etwas wie Moral nun auflöst, tut sie das nicht einseitig: prekäre Neuköllner Jugendliche zünden Autos an, bürgerliche Charlottenburger Jugendliche üben sich im Komasaufen. Sich nicht zu benehmen, ist in der Literatur oft eine Reaktion auf andere, die sich nicht benehmen. Hamlets Respektlosigkeit ist lediglich dem Umstand geschuldet, dass sich der Hof von Helsingör längst von der Moral gesellschaftlicher Verantwortung entfernt hat.

Wenn wir über Benehmen reden, könnten wir auch über die Börsen, den Kapitalmarkt, über das Bildungssystem und die Politik an sich sprechen. Dabei geht es noch gar nicht um ideologische Grabenkämpfe, sondern um die Grundregeln von Moral: Benehmen braucht Vorbilder. Wer einen Benimm-Codex erwartet, muss ihn auch leben. Es hat nicht viel mit Souveränität oder Kultiviertheit zu tun, sich zu empören. Benehmen kann schnell zum Teufelskreis werden: Wem es nicht entgegengebracht wird, wird es auch nicht zurückgeben. In dieser Frage sind sich Auto-Brandstifter und Moralapostel ähnlicher, als sie meinen. Vielleicht sollten wir etwas weniger Angst vor dem Biedermeier in uns haben, um die Brandstifter zu stoppen.

Axel Brüggemann ist freier Publizist. Unlängst erschien von ihm das Buch Landfrust Ein Blick in die deutsche Provinz

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Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

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