Zum ersten Mal ganz oben zu stehen, bejubelt von der Kritik, gefragt von den großen Orchestern der Welt – das ist vielleicht der gefährlichste Moment einer Dirigentenkarriere. Bei Joana Mallwitz kam dieser Punkt mitten in der Pandemie. Alle Aufführungen waren abgesagt, einzig die Salzburger Festspiele hatten ein Sicherheitskonzept entwickelt, das den Spielbetrieb zuließ. Auf dem Programm: Mozarts Oper Così fan tutte. Nach den ersten beiden Lockdowns waren die Menschen kulturell ausgehungert, alle Ohren lauschten nach Salzburg. Die Produktion wurde im Fernsehen übertragen. Und war ein riesiger Erfolg (der Freitag 34/2020)! Mallwitz selbst überflog die Kritiken nur. Aber ihr Mann, der Opernsänger Simon Bode, hatte sie sorgfältig studiert und am Frühstückstisch Entwarnung gegeben: „Alles ist gut.“
Irgendwann klingelte das Telefon bei Joana Mallwitz. Auf der anderen Seite war ihr Manager Michael Lewin. Ein Haifisch im Klassik-Becken. Einer, der es vermag, den Intendanten eines Weltklassehauses eine ganze Besetzung mit eigenen Künstlerinnen und Künstlern unterzujubeln. Wie es denn aussehe, wollte er von Mallwitz wissen, sie könne kurzfristig bei den Berliner Philharmonikern einspringen, ein Kollege habe abgesagt, der Weg nach ganz oben sei frei. Aber die Dirigentin lehnte ab. Wenn man bei den Berlinern zusage, müsse alles stimmen. Später gerne. Wenn es passe.
Nun muss man wissen, dass Orchester Monster mit 100 Mäulern sein können, die einen neuen Dirigenten in Bausch und Bogen, mit Pauken und Trompeten verschlingen und verdauen können. Es gehört allerhand Selbstbewusstsein dazu, sich dem zu stellen.
Am Anfang der Karriere von Joana Mallwitz stand ein Sprung ins kalte Orchester-Wasser. Die Tochter einer Lehrerin und eines Lehrers aus Hildesheim war schon früh musikbesessen, lernte mit fünf Jahren Geige und Klavier und besuchte bereits mit 13 Jahren die Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Mit 19 Jahren trat sie ihr erstes Engagement als Solorepetitorin in Heidelberg an. Als der Dirigent für Puccinis Oper Madame Butterfly ausfiel, bat Heidelbergs Chefdirigent Cornelius Meister die Neue, das Dirigat zu übernehmen. „Iss was, trink was, stell das Pult auf die richtige Höhe ein“, gab ihr der Chef mit auf den Weg, „dann wird es schon gehen.“ Mallwitz selbst guckt so auf diesen Moment zurück: „Es gab keinen Plan B mehr. Es gab nur noch einen Plan A. Es gab keine Zeit, darüber nachzudenken, was passiert, wenn dieses oder jenes nicht klappt. Es musste klappen.“ Und es hat geklappt.
Klassik ohne Dünkel
Mallwitz wurde zweite Kapellmeisterin und Assistentin des Generalmusikdirektors. Im Jahr 2014 wurde sie dann selbst jüngste Generalmusikdirektorin am Theater in Erfurt, drei Jahre später folgte der Ruf aus Nürnberg – als Nachfolgerin von Christian Thielemann und Marcus Bosch. Spätestens hier konnte man sehen (und hören), wofür Mallwitz als Musikerin steht. Sie ist keine Spezialistin, keine eingefleischte Wagner-, Strauss- oder Mozartexpertin, keine Fetischistin der historischen Aufführungspraxis oder besonders festgelegt auf das Repertoire der Moderne. Und vielleicht macht genau das ihr durchlässiges Musizieren aus.
Selbst als Nichtmusiker kann man sich ein Bild davon machen, wie die 35-Jährige sich den großen Werken der Musikgeschichte nähert. Der Bayerische Rundfunk hat ihre Videorundgänge durch Beethoven-Symphonien als 30-minütige Formate ins Internet gestellt. Mehr als eine halbe Million Klicks haben diese Einführungen, in denen Mallwitz am Klavier sitzt, die Trunkenheit des Komponisten in torkelnden Noten am Klavier nachvollzieht und einzelne Passagen mit ihrem Orchester, den Nürnberger Staatsphilharmonikern, anstimmt. Dabei wird schnell klar, dass Musik für Mallwitz kein Selbstzweck ist, sondern mitten im Leben steht, inspiriert von den großen menschlichen Gefühlen, von Sehnsüchten, Leidenschaften, von Hass und Wut. Und für genau diese Zustände scheint Musik ihr eine geeignete Sprache zu sein, in der sie mit den Menschen, mit ihrem Publikum und ihrem Orchester kommuniziert.
Mit Klassik verbindet Joana Mallwitz keinen Dünkel, in Nürnberg hat sie Gassenhauer und Musicals ebenso in das Programm genommen wie Musik, die sich einer schnellen Eingängigkeit verweigert. Und sie hat gekämpft. Dass Nürnberg soweit war, eine neue Philharmonie für 1.500 Menschen und 200 Millionen Euro neben der Meistersingerhalle am Luitpoldhain zu errichten, hatte auch mit dem politischen Engagement der Chefdirigentin zu tun. Dementsprechend dürfte es für Joana Mallwitz eine herbe Enttäuschung gewesen sein, als die Stadt die hohen Coronaausgaben als Vorwand nahm, um das bereits abgesegnete Projekt nun doch wieder auf Halde zu legen und auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben.
Das allein dürfte jedoch nicht dafür gesorgt haben, dass Mallwitz bereits vor einiger Zeit angekündigt hatte, ihren Vertrag in Nürnberg nicht über 2023 hinaus zu verlängern. Damals gab sie an, nach der Geburt ihres Kindes neue Perspektiven zu suchen. Aber es schwang auch immer mit, dass der kulturpolitische Kampf in der Provinz immer kräftezehrender wird: Politische und gesellschaftliche Lobbyarbeit fressen Zeit, die jemand wie Joana Mallwitz besser mit Proben verbringen könnte. Spätestens seit sie 2019 von der Zeitschrift Opernwelt zur Dirigentin des Jahres gewählt wurde, sich vor Angeboten nicht retten konnte und sich bei jedem Orchester der Welt als willkommener Gast voll und ganz auf die Musik hätte konzentrieren können. Um so erstaunlicher ist es, dass sie nun doch wieder einen festen Job annehmen wird. Und das nicht bei einem der ersten Orchester im Land, sondern beim Konzerthausorchester in Berlin, das hinter Philharmonikern, Staatskapelle und vielleicht auch anderen Hauptstadtorchestern rangiert.
Doch Mallwitz freut sich auf die konzeptionellen Offenheiten des Konzerthauses, dem sie ab 2023 als Chefdirigentin und künstlerische Leiterin dienen wird. Und darauf, zum ersten Mal einem Orchester vorzustehen, das keine Opern auf dem Programm hat. Die dpa vermeldete, dass die Dirigentin die Wunschkandidatin des Orchesters als Nachfolgerin seines derzeitigen Chefs, Christoph Eschenbach, gewesen sei. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Zwar stimmt es, dass die erste Zusammenarbeit ziemlich gut lief, Joana Mallwitz als Chefin wollte aber hauptsächlich der Intendant Sebastian Nordmann installieren. Teile des Orchesters sollen darüber nicht sonderlich erfreut gewesen sein. Aber Mallwitz hat ja gelernt, wie man 100-mäulige Monster in 200-händige zahme Musikkraken verwandelt.
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