Stammkneipen haben den großen Vorteil, dass man hier immer jemanden trifft, den man kennt, vor allen Dingen aber sind sie deshalb so ungeheuer angenehm, weil man nur selten überrascht wird. Jeder spielt seine Rolle: der provozierende Salon-AfDler, der renitente Revoluzzer, die im Suff überreflektierende Künstlerin, das welterklärende Muttersöhnchen – man hat sie auch deshalb lieb und erträgt sie Abend für Abend auf ein oder zwei, manchmal auch nur mit drei Bier, weil sie uns nicht verunsichern. Egal, was in der Welt passiert, eigentlich muss man gar nicht rausgehen, um zu hören, was die anderen denken – man ahnt es eh. An der Bar mag einem die Welt vielleicht aus den Fugen vorkommen, das eigentliche Ordnungskriterium der Stammkneipe aber, der Mikrokosmos vor der Haustür, den erschüttert nichts – er hat auf alles die immer gleichen Antworten. Die Talkshows unserer öffentlich-rechtlichen Programme mögen eine ähnliche Selbstvergewisserungs-Funktion wie unsere Stammkneipen haben. Vielleicht handelt es sich nicht um die Eckkneipe mit Gardinen in Köln-Nippes, nicht um die „Trinkschleuder“ in Essen oder um „Greti’s Bierklause“ in Posemuckel.
Wenn wir die Glotze einschalten, holen wir uns eher das, was wir für das Hinterzimmer des Café Einstein in Berlin halten, in unsere Wohnzimmer. Da wird dann Politik gespielt. Einst hat Oswald Spengler die Frankfurter Nationalversammlung als „Quasselbude“ beschimpft, aber ehrlich gesagt, in der letzten Legislaturperiode haben wir festgestellt, dass Debatten im Parlament eher mau waren und Talkshows die einzigen Quasselbuden, in denen die Opposition gehört wurde und die Große Koalition Widerstand erfahren hat. Am Ende konnte man allerdings schon Mitleid mit den Jamaika-Protagonisten bekommen, die simultan bei Plasberg, Maischberger oder Will auftauchen mussten, um zu erklären, was Fakt ist. Und wenn ihnen dann noch Leute wie Hans-Ulrich Jörges, Michael Spreng, Serdar Somuncu oder Claus Strunz erklärten, wie Politik wirklich geht und warum Politiker am Ende eben doch doofer als Journalisten und Spaßmacher sind, ja, spätestens dann haben wir förmlich gespürt, wie demütigend das Politiker-Leben im medialen Talk-Kosmos sein kann. Ähnlich mag es nun auch der neue ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm sehen. Er hat angekündigt, dass die ARD in Sachen Talkshow abrüsten soll. Er will mehr Reportagen, Themenabende oder „große Themenkomplexe ausleuchten“.
Das klingt gut – aber heißt das am Ende weniger Frank Plasberg und mehr Tim Mälzer? Weniger Polit-Talk und mehr Reality-Trash? Weniger Hauptstadt und mehr Landlust-Kitsch? Wie wäre es damit: Warum erfindet die ARD nicht einfach ihre kleine Fernsehkneipe neu? Nicht mit aufgesetzten Bürger-Talks (die funktionieren nur selten), sondern mit vollkommen neuen, unvorhersehbaren Protagonisten? Wäre es nicht auch eine Möglichkeit, in einer unsicheren Welt für noch mehr Verunsicherung zu sorgen, statt die Zuschauer jeden Abend mit der gleichen Gutenachtgeschichte ins Bett zu schicken, dass, egal, wie schräg die Welt gerade ist, sie mal wieder von den Talk-Stammgästen, die brav ihre Rollen spielen, glattgebügelt wird? Warum wird die Talkshow nicht zu einer echten Alternative zur Stammkneipe, zu einer Art „Beunruhigungsgaststätte“? Zu einem Talk, der uns regelmäßig Angst macht? Trost kann man dann ja immer noch in der echten kleinen Kneipe an seiner Ecke finden.
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