Das Bild zeigt eine Kassette und einen Bleistift. Darunter wird gefragt: „Bist du alt genug, um das zu verstehen?“ In der Regel löst so etwas Nostalgie aus. Klar, Bandsalat war bescheuert, aber immerhin konnten wir eine kaputte Kassette früher selbst reparieren – mit einem Bleistift, oder im Notfall auch mit einem Stück Tesafilm. Die Kassette gehört in jene Zeit, in der man mit den Eltern, natürlich unangeschnallt, im Opel oder im Volkswagen über die Alpen fuhr und Die drei ??? hörte. Mit dabei: der ADAC-Auslandsschutz. Es war eine Zeit, in der man sein Geld, wenn man eine sichere Rendite wollte, zur Deutschen Bank trug und seinen Grundig-Fernseher bei Karstadt kaufte.
Wir reden von den Spätausläufern des deutschen Wirtschaftswu
schen Wirtschaftswunders, als Deutschland begann, sich von seiner Geschichte zu lösen und seine Gegenwart und Zukunft zu feiern. Das „1.000-jährige Reich“ galt als abgehakt und wurde vom Glauben an die 1.000-jährige Vormachtstellung der deutschen Wirtschaft ersetzt: „Made in Germany“ bedeutete Präzision, Dauerhaftigkeit, Zuverlässigkeit und Vertrauen.Und dieses Versprechen wirkte in zwei Richtungen: Die großen Marken prägten nicht nur im Ausland das Image des neuen, guten, wenn auch etwas biederen Deutschlands. Nein, sie sorgten auch zu Hause für Sicherheit und Kontinuität. Familien waren in mehreren Generationen bei VW oder Opel beschäftigt, eine Lehre bei der Deutschen Bank galt als Jobgarantie bis zur Pension – und wem diese Sicherheit nicht reichte, der schloss noch eine ADAC-Police ab, denn die gelben Engel waren das gute Gewissen dieser Nation.Der Glaube an die deutsche Wirtschaft wurde zum Hauptmythos der Nation und löste damit vergangene Identitätsstifter ab. Noch zur Revolution von 1848/49 sollten die Einzelstaaten durch einen kulturellen Rekurs auf das deutsche Mittelalter, deutschen Legenden und deutsche Märchen vereint werden. 20 Jahre später diente der gemeinsame Feind Frankreich als nationaler Kitt, im Nationalsozialismus wurde dann der Glaube an den biologisch deutschen Arier als Übermenschen installiert. Nachdem all diese Mythen 1945 kollabiert waren, brauchte es neue Sinnstifter.Ziemlich abgetakeltNun erhob man die großen Unternehmen zu neuen Trägern der Identität des Landes: Lufthansa, AEG, VW, Siemens oder eben die Deutsche Bank sorgten bei vielen für Selbstbewusstsein, Selbstbestätigung, internationale Anerkennung und Stolz. Hinzu kamen der ADAC als Verschmelzung von deutscher Automobilisierungslust, Vereinsmeierei und Versicherungsmanie. Und der DFB, der mit der Fußballnationalmannschaft nicht nur das wichtigste Produkt nationaler Sinnstiftung vermarktete, sondern auch die eigene Bedeutung ständig mit dem Hinweis vor sich hertrug, mit sieben Millionen Mitgliedern der größte Sport-Fachverband der Welt zu sein.Eine Reihe von tiefgehenden Skandalen und Fehlentscheidungen hat von diesem Bild verlässlicher Marken wenig bis nichts übrig gelassen. Ein Großteil der Helden der Post-Wirtschaftswunder-Jahre sind heute so abgetakelt wie eine Kassette mit den besten Songs der Neuen Deutschen Welle. Die Deutsche Bank – seit Jahrzehnten Garant für vielleicht nicht ganz saubere, wohl aber rentable Geschäfte, schließt 188 von 723 Filialen, streicht 3.000 Stellen, verzeichnet einen Jahresverlust von 6,8 Milliarden Euro und hofft, dem US-Fiskus wegen fauler Hypothekenpapiere „nur“ 5,5 Milliarden US-Dollar zahlen zu müssen.Placeholder infobox-1Auch bei VW läuft und läuft und läuft es nicht mehr rund: Mindestens 15,3 Milliarden US-Dollar gehen für den Vergleich im US-Diesel-Skandal drauf, Leiharbeiter werden nicht mehr automatisch nach drei Jahren übernommen, und die Stadt Wolfsburg muss sparen, weil ihr massiv Gewerbesteuereinnahmen wegbrechen. Selbst der emotionale Rückhalt des Landes liegt am Boden: Der ADAC manipulierte seine eigenen Umfragen, und welche Millionen Franz Beckenbauer bei der WM 2006 wohin getragen hat, scheint beim DFB auch nach monatelangen Ermittlungen immer noch keiner so genau zu wissen.Der aktuelle Niedergang der deutschen Wirtschafts-Mythen beschäftigt nicht nur die Wirtschaftsressorts und besorgte Anleger. Er ist längst in unserem Alltag angekommen: Kaum jemand, der nicht jemanden kennt, der von Stellenabbau oder Umstrukturierungen der einstigen deutschen Wirtschafts-Flaggschiffe betroffen ist.Bedeutet das, dass früher alles besser war? Natürlich nicht. Heute gelten in vielen Bereichen andere Ansprüche in Sachen Transparenz, Skandale werden mit einer größeren Akribie aufgedeckt – und mit den Abgründen mancher Sportverbände beschäftigen Journalisten sich erst jetzt intensiv. Für die gesellschaftliche Wirkung macht es aber keinen Unterschied, ob die einstigen Helden früher genauso viel Dreck hinter der glänzenden Fassade versteckten. Die Wahrnehmung heute ist – so oder so – die eines beispiellosen Niedergangs.Was genau bedeutet dieser aber für die deutsche Seele? Wir befinden uns in einer Ära der ausgehöhlten nationalen Identitäten. Nicht nur in Deutschland. Die Grande Nation Frankreich zehrte Jahrzehnte von ihrem ökonomischen, demokratischen und kolonialen Mythos – heute ist sie ein Schatten ihrer selbst. Die Konsequenz: ein Erstarken des Front National, der ein Zurück-in-alte-Zeiten verspricht. Ähnlich verhält es sich in Großbritannien: Das Empire ist längst verloren, die Kolonien aufgegeben, das Pfund schwächelt und die Monarchie hat sich in die Klatschblätter verabschiedet. Das Brexit-Votum ist da auch die verzweifelte Hoffnung, irgendwie an alte Zeiten anknüpfen zu können.In Deutschland liegt die Krise des Einzelnen zeitlich vor der Krise der Großunternehmen und Institutionen. Bereits mit der Agenda 2010 haben wir im privaten Mikrokosmos schmerzhaft erkennen müssen, dass die alte staatliche Sicherheit – auch sie lang Teil der deutschen Identität – nicht mehr greift. Sichere Rente? Eine Rundum-Krankenversicherung? Ausreichendes Arbeitslosengeld? Vertrauen in ein soziales Netz, das Kranke, Erschöpfte oder Alleinerziehende auffängt? All diese Werte gehörten einst ebenfalls zum Mythos der Nach-Wirtschaftswunder-Nation Deutschland.Heute ist der Einzelne auf sich zurückgeworfen. Umso erstaunter haben viele beobachtet, dass unsere Unternehmen trotz der vielen Entlassungen und Optimierungen, trotz des Verzichts ihrer Arbeiter, immer größere Renditen erwirtschaftet haben. Inzwischen ist die Eruption aber auch hier angekommen. Wie konnte es passieren, dass so viele Firmen, an die wir früher geglaubt haben, plötzliche in der Krise stecken? Klar, die globale Nachfrage lässt nach, der Boom in den Schwellenländern stagniert, die Digitalisierung zerstört uralte Wertschöpfungsketten. Doch das sind nur die wirtschaftlichen Eckdaten.Von Zwergen und RiesenAuffällig ist, dass viele Marken an das gekoppelt waren, was wir im Fußball „deutsche Tugenden“ nennen. Wie konnten ausgerechnet diese Erfolgswerte unter die Räder kommen? Vielleicht, weil nur noch wenige bereit sind, den Preis für sie zu zahlen? Vielleicht, weil einige Unternehmen der eigenen Hybris oder der globalen Konkurrenz zum Opfer fielen? Aber hat sich nicht auch das Spiel der Nationalmannschaft verändert und globalisiert? Und wurde sie dafür nicht mit dem WM-Titel belohnt? Was also geht in der Wirtschaft gerade schief?Die Deutsche Bank hielt auch dann an der Idee fest, sich als Big Player am globalen Kapitalmarkt zu positionieren, als anderswo die Riesenbanken längst zurückgestutzt wurden. Mit der Übernahme von Bankers Trust wollte man an der Seite von JP Morgan und Goldman Sachs das ganz große Rad drehen. Auch VW plante erst kürzlich neue Werke in allen Teilen der Welt, bis man über den Abgasskandal stolperte. Und selbst dem DFB war es nicht mehr genug, sich darauf auszuruhen, in gewissen Abständen Weltmeister zu werden: Schillernde Figuren wie Franz Beckenbauer, deren Bodenständigkeit als Teil des Mythos gepflegt wurde, fanden sich plötzlich als „Mover and Shaker“ im globalen und verrotteten System der FIFA wieder und übernahmen deren Mauschel-Standards.Placeholder infobox-2Auch beim Chemie-Riesen Bayer bindet man den Glauben an ein Überleben auf dem Weltmarkt jetzt daran, Konkurrenten wie Monsanto zu schlucken. Vielen Unternehmen scheint der deutsche Gartenzwerg zu klein, um in der großen Welt zu bestehen – er soll zum Welt-Riesen aufgepumpt werden, koste es, was es wolle. Notfalls auch das Vertrauen.Derweil schaut das Land seinen Vorzeigemarken zu und versteht die Welt nicht mehr. Der Imageschaden für das deutsche Selbstverständnis ist mindestens so groß wie die Milliarden-Forderungen an VW und Deutsche Bank. Dabei passt der Niedergang der ökonomischen Leuchttürme zur allgemeinen Weltuntergangsstimmung. Die Krise unserer Vorzeigewirtschaft scheint eine Welt im Wandel zu bestätigen, in der die Gewichte sich von einer kollektiven Mitte an die Ränder verschieben. Ist es nicht logisch, dass in einer Welt, in der Volkswagen ums Überleben kämpft, auch die alten Volksparteien um ihre Rolle kämpfen müssen? Und was ist mit dem Einzelnen? Welche Sicherheit habe ich, wenn nicht einmal mehr die Existenz der Deutschen Bank sicher ist? Die Agenda 2010, das massive Wackeln der deutschen Großunternehmen und die Labilität der Parteien – all das fügt sich zu einem Bild, in dem derzeit nur eines als sicher gilt: die Unsicherheit.Auch in Deutschland haben wir es also damit zu tun, dass Mythen, auf denen das Selbstverständnis aufbaut, bröckeln. Neben dem Einbruch des Sozialstaats und der Angst vor Fremdem treten in der aktuellen Situation noch Parteien hinzu, die umso einfachere Parolen anbieten, je komplexer die Welt wird. Die AfD spielt mit der allgemeinen Unsicherheit und verspricht, dass alles gut wird, sobald wir wieder zu Gartenzwergen schrumpfen. Wenn wir die Welt da draußen ausschließen und die Türen dicht machen. Doch ein Zurück hat es in der Geschichte noch nie gegeben.Wir haben – auch ohne globale Konkurrenz – viel zu lang ein Gefühl der Sättigung und der moralischen Selbstgefälligkeit gepflegt, die alles unter den Teppich kehrte, was nicht ins Bild des ach so erfolgreichen und aufrichtigen Landes passte. Eine Mentalität, die irgendwann zum Bestandteil der Firmenkultur der Deutschland AG wurde und dort bis heute verankert ist.Im Zweifelsfall wird einfach weitergemacht wie bisher: Vertrauen wir dem ADAC heute wieder? Glauben wir, dass der Führungswechsel beim DFB wirklich etwas ändert? Wird VW jetzt Ernst machen und auf E-Mobilität setzen? Das Absurde ist, dass es uns oft einfach egal ist. Wir haben weder unser Girokonto noch unsere Automarke gewechselt, den ADAC-Schutzbrief haben wir auch nicht gekündigt. Und die Bundesliga, die Europameisterschaft und die WM wollen wir uns durch ein paar Skandale nicht vermiesen lassen.Wir sind eben nicht nur Beobachter eines gigantischen Umbruchs, sondern Teil des Prozesses. Wo sich Bestehendes auflöst, ist jeder gefragt, am Neuen mitzuwirken. Und die erzwungene Neuerfindung deutscher Unternehmen zwingt auch uns zur Neujustierung unseres Selbstverständnisses.Während wir es im Zeitalter der Musikkassette genossen haben, das Traditionelle zu pflegen und uns das genaue Hinschauen abgewöhnt haben, geht es nun darum, das Neue so zu definieren, dass es auf die Prinzipien der Transparenz, der Gerechtigkeit und des allgemeinen Konsenses aufgebaut ist. Wenn das Girokonto und der Autokauf kein reflexhaften Automatismen mehr darstellen, bedeutet das, dass wir mitentscheiden, welche Autobauer und welche Bank in Zukunft erfolgreich sein werden.Heute haben wir einen nationalen Bandsalat und suchen nach dem richtigen Bleistift, um ihn aufzudröseln. Es geht nicht mehr, sich weiter auf „Made in Germany“ auszuruhen. Ein zu langer Blick in den Rückspiegel kann vorn zum Auffahrunfall führen. Das Gestern bröckelt, das deutsche Nachkriegsweltbild wankt. Die Frage ist, ob uns das Angst machen muss oder ob es uns dazu inspiriert, den Mut zu echten Veränderungen und das Ausloten neuer und besserer Regeln zu deutschen Tugenden des 21. Jahrhunderts zu erheben.
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