"Ich mache ernst!"

Mensch oder Monster Warum erkennen wir Amokläufer immer erst, wenn es zu spät ist? Weil sie uns zu kompliziert sind. Und weil es leichter ist, Metalldetektoren an Schulen zu fordern

Wenn man folgende Sätze auf eine Postkarte drucken würde, hätten sie gute Chancen auf reißenden Absatz:

„Macht für die, die auf sie scheißen!

Freiheit für die, die darum kämpfen!“

Sex für die, die dafür zahlen!“

Sie stehen allerdings auf keiner Postkarte, sondern in Dylan Klebolds Schulkalender von 1997/98. Dylan Klebold ist vor 10 Jahren gemeinsam mit seinem Freund Eric Harris in die „Columbine Highschool“ in der amerikanischen Stadt Littleton eingedrungen. Gemeinsam haben sie zwölf Schüler und einen Lehrer getötet – danach sich selbst.

Der Satz über die Macht, die Freiheit und den Sex stammt aus einem Buch, das dieser Tage im „Eichborn“-Verlag erscheint. Es trägt den Titel Ich bin voller Hass – und das liebe ich! Joachim Gaertner hat darin alle Aufzeichnungen der Attentäter versammelt: Schulaufsätze, Tagebucheinträge, Internetpostings und Videoszenen.

Auf Kommentierungen hat er verzichtet. Weil sie nicht nötig sind. Die Schriften der beiden Schüler, die über Jahre hinweg verfolgt werden, kommentieren sich selbst: Dylan Klebold und Eric Harris haben immer wieder versucht, ihre Unzufriedenheit mit ihrem Leben, mit ihren Freunden, mit den Lehrern, später mit dem politischen System, mit der Lüge des „amerikanischen Traumes“ und am Ende mit jedem und allem zum Ausdruck zu bringen. Eric Harris schrieb in sein Journal: „Ich hasse die verfickte Welt, zu viele gottverdammte Ficker drin. Zu viele Gedanken über Gesellschaften, alle zusammengepackt an diesem Ort namens AMERIKA.“

Als sie mit Sticheleien von Freunden und mit Schulverweisen von Lehrern auf Distanz gehalten wurden, flohen sie in eine virtuelle Welt. Sie erfanden neue Level im Computerspiel „Doom“, richteten sich ihr Leben in einem blutigen Kosmos ein und probierten die virtuellen Gewaltphantasien zunächst in Nachbargärten und dann in der „Columbine Highschool“ aus.

Noch am Tag des Attentates von Winnenden haben deutsche Medien (und viele private Beobachter in Internet) versucht, mehr über den Täter Tim K. herauszufinden. Sie wurden getrieben vom voyeuristischen Interesse eines Hobby-Detektivs, der Puzzleteile für das zusammensucht, was er nicht versteht – und oft auch gar nicht verstehen will. Es wurden Indizien, aber keine Erklärungen gesucht.

Über die Suche der Hobby-Detekive und die Twitter-Flut lesen Sie mehr im Beitrag Wenn Nachrichten Amok laufen

Schnell waren seine Wunschlisten von Amazon gefunden, Fotos, die Tim K. bei seinen Tischtennissiegen zeigten und ein Schnappschuss von der Schulabschlussfeier. So entstand das Bild eines ganz normalen Kindes. Und der schaudernd schöne Horror stieg: Wie konnte dieses Milchgesicht so etwas anrichten?

Deutschland tat so, als wolle es die Beweggründe des Amokläufers kennenlernen und blieb dabei so desinteressiert an dem Jungen wie seine Mitschüler und Lehrer es stets waren. Das öffentliche Interesse galt kaum dem Menschen Tim K., sondern dem Monster, zu dem er wurde. Heraus kamen lediglich Klischees: Eine gespaltene Persönlichkeit, ein zurückgezogener Junge, ein Waffennarr, ein merkwürdiger Kerl, ein überhebliches Einzelkind.

Innerhalb eines Tages wurde Tim K. medial als ein unrettbarer Irrläufer verortet, als jemand, den man nicht stoppen konnte, dessen Gewaltbereitschaft nicht abzusehen war, als ein unberechenbarer Störfaktor der Gesellschaft. Sogenannte Experten erklärten lakonisch: „Das gibt es immer wieder, daran können wir nichts ändern. Es wird nicht der letzte Amoklauf gewesen sein.“

Es verwundert kaum, dass zahlreiche Twitter-Teilnehmer im Internetforum jubelten, als die Nachricht eintraf, dass der Tim K. tot sei („Zum Glück ist der nun tot.“, „Der Spuk hat ein Ende.“ „Wenigstens hat er sich selbst weggeballert.“). Dass RTL nun auch das Amateurvideo vom Parkplatz zeigt, auf dem Tim K. von einem Polizisten angeschossen wird, ist schon fast ein archaisches Ritual: das gehetzte Tier wird in der Arena beim Sterben bejubelt. Tim K. wird zum Monster, zur Kreatur, zum Märtyrer – aber nicht mehr zum Menschen.

In der medialen Berichterstattung scheint er durch seine Taten sein Recht verwirkt zu haben, als Mensch behandelt zu werden. Aber vielleicht hat genau dieser Umgang mit dem Unverstehbaren erst dazu beigetragen, dass Tim K. sich seine eigenen Wege gesucht hat.
Bei der Lektüre der Aufzeichnungen von Dylan Klebold und Eric Harris wird deutlich, dass sich der Wunsch ihrer Mitmenschen, ihnen aus dem Weg zu gehen, durch ihr Leben gezogen haben. Sie waren zu kompliziert, zu gewaltbereit, zu anders als dass sich Lehrer, Schulleitung, Mitschüler, Eltern oder Psychologen auf sie einlassen wollten.

Wenn sich die Amokläufer still und leise einen Strick auf dem Dachboden genommen hätten, wäre es nicht unwahrscheinlich, dass ihre Freunde am nächsten Tag gesagt hätten: „Das hat man sich ja denken können.“ Wenn sie mit Gewehren in eine Schule gehen, um andere und dann sich selbst zu töten, bleibt ihr Vorgehen unverständlich – wir beginnen, sie zu hassen.

Metalldetektoren statt psychologischer Hilfe

In diesen Momenten fordern Politiker gern radikale Maßnahmen wie Metalldetektoren an Schulen, statt sich ernsthaft um eine systematische Veränderung sozialer und psychologischer Hilfen zu kümmern. Andere fordern ein Verbot von gewalttätigen Computerspielen, ohne zu merken, dass sie nicht am Anfang der Gewalt stehen, sondern ein Ort der Flucht sind.
Wir haben uns angewöhnt, die Ursachen für Gewalt zu unterbinden, statt uns um die Anlässe zu kümmern. Langfristig wird das die Gewalt kaum verhindern. Im Gegenteil: Es wird uns immer schwerer fallen, sie zu verstehen.

Wenn Täter im Vorfeld eines Amoklaufes in Blogs oder Briefen Gewalt verherrlichen, nennen Kriminalpsychologen dieses Vorgehen „Leaking“. Über das „Leaking“ von Tim K. ist noch wenig bekannt – er soll einen Brief an seine Eltern geschrieben haben. Im Internet-Chat krautchan.net soll er laut Staatsanwaltschaft wenige Stunden vor seiner Tat an seinen Freund: „Scheiße Bernd, es reicht mir. Ich habe dieses Lotterleben satt. Immer dasselbe. Alle lachen mich aus, niemand erkennt mein Potential. Ich meine es ernst. Ich habe Waffen hier. Ich werde morgen an meine Schule gehen und so richtig gepflegt grillen. Ihr werdet morgen von mir hören. Merkt euch den Namen des Ortes Winnenden.“ Sein Gesprächpartner reagierte nur mit einem „LOL“. Der Betreiber des Chats behauptet nun, dass dieser Dialog eine Fälschung sei.

Wer trägt Mischuld an dem Amoklauf in Winnenden? Beteiligen Sie sich an der aktuellen Freitag-Debatte

Es lohnt sich, 10 Jahre nach dem Littleton-Amoklauf, die Aufzeichnungen von Dylan Klebold und Eric Harris anzusehen – und die Reaktionen jener Menschen, die mit ihnen konfrontiert wurden. Sie zeigen, wie die beiden Schüler Stück für Stück in eine Welt rutschen, in der sie ihre eigenen Gesetze gestalten konnten – um irgendwann aus ihr aufzutauchen und Ernst zu machen.

Die beiden waren keine dummen Schüler. Sie brauchten auch keine Computerspiele, um sich mit ihren Gewaltphantasien zu identifizieren. In einem Aufsatz über „Medea“ schrieb Eric Harris: „Das Zitat, das ich aus dem Stück gewählt habe, ist: ‚Nein, wie ein gelbäugiges Raubtier, das seine Jäger getötet hat, will ich mich niederlegen auf die Leichen der Jagdhunde und die zerbrochenen Speere.’ Dieses Zitat zeigt, dass Medea kämpfend sterben will, tapfer und mutig, ihre Jäger sollen sie nicht kampflos fangen. (…) Heute sind Leute wie Medea selten oder schwer zu finden.“

Kämpfend sterben wie Medea, zornig strafen wie Zeus

In einem anderen Aufsatz sollte Eric die Figur Zeus’ definieren und zog Parallelen zu sich selbst: „Der griechische Gott Zeus ist mir aus vielen Gründen ähnlich. (…) Zeus und ich haben gern Macht und Kontrolle über das, was geschieht. Wir sind beide gern Anführer einer großen Gruppe von Menschen. Zeus und ich werden leicht zornig und bestrafen Menschen auf außergewöhnliche Weise.“

Eric wird für viele seiner Aufsätze gelobt. Anders ergeht es Dylan, als er eine Kurzgeschichte schreibt, in der ein Mann einen anderen abschießen will: „’Los Mann, schieß auf mich!’, sagte der Kleinste der Gruppe, offensichtlich ein eingebildetes machthungriges Arschloch. ‚Ich will, dass du auf mich schießt! – Hey, du willst nicht? Verdammte Pussy!“ An dieser Stelle schreibt die Lehrerin unter den Aufsatz: „Ich fühle mich beleidigt von Deiner vulgären Ausdrucksweise! Im Unterricht hatten wir über deinen Sprachgebrauch diskutiert. Nimm zur Kenntnis, dass ich ab hier aufgehört habe zu korrigieren.“

Ein anderes Mal sollte Eric für einige Tage von der Schule verwiesen werden. Die Lehrerin besuchte seine Eltern. Besonders der Vater soll sehr gebildet gewesen sein. Er hielt nichts von Schulverweisen, forderte, dass die Lehrer andere Maßnahmen in Erwägung ziehen. Aber Eric wurde suspendiert. Die beiden zogen sich immer weiter in ihre eigenen Welten zurück: „Doom“, böse Streiche in Nachbargärten, erste Experimente mit Bomben, Besuche von Waffenmessen.

Erics Schulkalender von 1998 zeigt das Auseinanderdriften von Schule und dem eigenem Leben:

„Montag, 21. September: Shakespeare lesen

Donnerstag 24. September ‚Erlkönig’ auswendig lernen

Samstag 26. September C.U. football game

Dienstag 29.September Rohrbombe ausprobieren

Problem mit Rauch lösen

2. Bunker finden

Nine Inch Nails Video

Mittwoch 30. September Donuts backen für Oktoberfest.“

Der Hass der Ausgeschlossenen

Über dem Eingang der „Columbia Highschool“ stand der Sinnspruch: „Die besten Kinder Amerikas gehen durch diese Hallen.“ Eric und Dylan wurde ziemlich schnell klar gemacht, dass sie mit diesen Worten nicht gemeint waren. Sie hatten keine Cheerleaderinnen als Freundinnen, waren nicht erfolgreich im Sport – sie waren Außenseiter. Und niemand hatte ein Interesse daran, sie für das Schulleben zu begeistern.

In seinem Journal notierte Eric Harris: „Ich hasse euch dafür, dass ihr mich von so vielem, was Spaß macht, ausgeschlossen habt. Und, nein, sagt jetzt nicht: ‚Naja, das ist dein Fehler’ – denn das ist nicht wahr. Ihr hattet meine Telefonnummer, und ich habe euch gefragt und alles. Aber nein, nein, nein. Lasst diesen gestört aussehenden Eric nicht mitkommen, oh Scheiße, nein.“

Einmal sorgten die beiden für Aufsehen in der Schule. Sie hatten ein Video gedreht, das in allen Klassen zu sehen war. Darin stellen sie eine Szene nach, in der sie einen arroganten Sportlertypen, der einen kleinen Jungen ausnahm, kurzerhand erschossen. Die „Columbia Highschool“ fand dieses Video lustig.

Natürlich wurden auch Harris und Dylan psychologisch betreut und irgendwann mit Antidepressiva vollgestopft. In Umerziehungscamps stellten Erzieher Zeugnisse aus, in denen ihnen „eine gute Zukunft“ prognostiziert wurde. Die beiden haben sich in ihren Tagebüchern darüber lustig gemacht, wie leicht die sozialen Berater auszutricksen sein.

Schulaufsatz über "Waffen an der Schule"

Sie haben das Spiel ihres Lebens gespielt. Sie kannten die Regeln der Menschen, bei denen sie abgeschrieben waren – und spielten mit. In einem Schulaufsatz über „Waffen an der Schule“ schrieb Eric: „Waffen an der Schule sind ein wachsendes, gesellschaftliches Problem. Die Schule ist kein Ort für eine Waffe. Schüler können nicht lernen und sich für den Unterricht motivieren, wenn sie wissen, dass jemand in ihrem Klassenzimmer eine Waffe dabei hat. Metalldetektoren und mehr Polizeibeamte wären ein guter Anfang für den Kampf gegen Waffen in der Schule.“
Der Kommentar des Lehrers: „Gründlich und logisch. Gute Arbeit!“

Unter dem Namen „NBK.doc“ hat Eric Harris im passwortgeschützen Schülerbereich des Schulservers allerdings einen ganz anderen Brief abgelegt: „Ich würde Euch Scheißköpfe gerne alle sterben sehen. Natural Born Killers! Ich liebe es. Irgendwann im April werden ich und Vodka Rache nehmen und die natürlich Selektion ein bisschen beschleunigen. Wir werden ganz schwarz angezogen sein. (…) Wir fangen an, laut Musik zu spielen, eine 50-Dollar-Zigarre anzünden, die ersten Kracher zu werfen, und wenn dann das Chaos ausbricht, eröffnet V das Feuer und ich zünde die ersten Bomben. Wir werden alles einsetzen, was wir können, um zu töten und zu zerstören, so viel wir können. (…) Und wenn wir durch irgendeinen scheiß verrückten Zufall überleben und fliehen können, dann werden wir ein Flugzeug entführen und es über New York abstürzen lassen.“

Eric und Dylan sind nicht geflohen – sie haben sich selbst gerichtet. Und zwölf Schüler mit in den Tod genommen. Nach ihrem Amoklauf hat Amerika die Welt nicht mehr verstanden. Bis heute gelten die beiden als krank, als wahnsinnig, als verrückt.

Ein blasser, verrückter Einzelgänger, den man nicht ernst genommen hat

In Deutschland hat man sich lange Zeit zurück gelehnt und ist davon ausgegangen, dass derartige Taten nur in Amerika passieren können: Wegen des Schulsystems, wegen der sozialen Schieflage, wegen der Waffengesetze – weil die USA eben anders ticken. Dann kam Erfurt. Und spätestens gestern hat Deutschland den Amoklauf von Winnenden live am Fernseher und im Internet verfolgt. Heute ist das Todesvideo des Mörders überall zu sehen, seine letzten Mails sind nachzulesen: ein blasser, verrückter Einzelgänger, den man nicht ernst genommen hat.

Experten in den Talkrunden sind sich einig: Dieses war nicht der letzte Amoklauf an deutschen Schulen.

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Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

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