Die erste Investition meines Großvaters, als er von der Ostfront kam, war ein grauer VW Käfer. Er ist ihn noch gefahren, als ich 1971 geboren wurde. Und ich erinnere mich daran, dass man kaum durch das kleine Rückfenster schauen konnte, weil da eine dieser großen, gelben ADAC-Plaketten mit dem stolzen preußischen Adler klebte. Später, als ich mit meinen Eltern im Opel Kadett von Bremen in den Skiurlaub gefahren bin (natürlich unangeschnallt auf der Rückbank), sah mein Vater, wenn er auf die Autobahn guckte unten rechts in der Windschutzscheibe ebenfalls den Aufkleber der „Gelben Engel“. Und nachdem ich dann meinen Führerschein gemacht hatte und mit meinem Polo zum Studium nach Freiburg fuhr, bestanden meine Eltern darauf, dass ich in den ADAC eintrete.
Ich habe auf den Aufkleber verzichtet, weil es mir peinlich war. Wir waren doch die Generation der Unabhängigkeit, der großen Freiheit, die das Sicherheitsbedürfnis unserer Eltern milde lächelnd im Rückspiegel beobachtet hat. Inzwischen habe ich auf Grund meiner Treue (die einfach darin bestand, nie zu kündigen) sogar eine hübsch glitzernde goldene Club-Karte bekommen. Und, Hand aufs Herz, Rot sein schließt das gelbe Fahren nicht aus, oder? Klar, die Aktion „Freie Fahrt für freie Bürger“ war Scheiße. Aber man muss schon sehr ideologisch sein, wenn man dafür bei Schnee und Sturm lieber allein auf der Autobahn steht. Und ein bisschen Nostalgie gehört ja auch dazu. Wenn man so will, ist der ADAC Deutschlands größte freiwillige Solidargemeinschaft: fast 19 Millionen Mitglieder – viele davon haben eine Doppelkarte für die ganze Familie.
Linke und Rechtsradikale, Fahranfänger und Auto-Greise, Ärzte und Bauarbeiter, Skoda- und Porsche-Fahrer zahlen ein, um einander im Fall der Fälle zu helfen. Die Krankenversicherung und die Altersvorsorge bröckeln, aber noch im letzten Jahr hat der ADAC 143.000 neue Mitglieder begrüßt. Vielleicht, weil das Verständnis von „Wenn-was-passiert-sind-wir-da“ ein nationales Ur-Gen ist. Und so flattert der Gelbe Engel noch immer als Mythos über die Autobahnen, während Ariels Klementine und Meister Proper längst tot sind, aus Raider Twix wurde und die Pril-Blumen den Renovierungsabeiten in den Küchen unserer Großeltern zum Opfer gefallen sind. Die Bahn ist eine AG, die Post ebenfalls. Höchstens Nutella, Brandt-Zwieback und das Überraschungsei (quasi der Gegenentwurf zur Sicherheits-Veranstaltung des ADAC) haben den deutschen Wandel überlebt.
Der ADAC ist Überbleibsel der guten, alten 60er- und 70er-Jahre-BRD. Er ist jener Teil von Deutschland, auf den wir nicht wirklich stolz sind, den wir aber im Blut haben – so wie den röhrenden Hirschen oder das Benzin: Schwarz-Rot-ADAC-Gelb. Auch deshalb, weil das Auto lange per se unpolitisch war, weil es sich nicht um Dutschke, RAF und NATO-Doppelbeschluss gekümmert hat, sondern um meine Mama, meinen Papa, meine Oma, meinen Opa und mich.
Man rutscht so rein
Klar, es ist heute nicht wirklich sexy, mit der Clubmitgliedschaft zu antichambrieren. Während ich in meinem Leben zwei Mal glücklich war, dass mir auf der Straße geholfen wurde, sind meine Eltern noch immer echte Motorclub-Fans: Sie wedeln bei jedem Tankvorgang mit der ADAC-Vorteilscard an der Kasse, buchen die Reiserücktrittsversicherung, schwärmen noch immer, wenn sie einen der 45 gelben Hubschrauber am Himmel sehen, lassen sich vom ADAC ihre Reisekarten ausdrucken, treffen ihre Kaufentscheidungen nach der Pannenstatistik, stöbern im Kulturreiseangebot und fahren: natürlich VW Golf. Der ADAC gehört – wenn auch als entfernter Verwandter – zu unserer Familie. Und obwohl ich inzwischen 42 Jahre alt bin, fragt mich meine Mutter, ungelogen, jedes Jahr, ob ich den Mitgliedsbeitrag bezahlt hätte. Ja, Mama, habe ich: Ich vertraue denen so sehr, dass sie eine Einzugsermächtigung haben. Irgendwie rutscht man so in den ADAC rein, weil man sich nie gefragt hat, was es anderes gäbe. Und es gab ja auch nie Probleme.
Und nun soll das alles vorbei sein? Nur weil irgend so ein PR-Fuzzi die Wahlbeteiligung zum beliebtesten Auto des Jahres manipuliert hat? Nur weil Kommunikationschef Michael Ramstetter von 34.299 Stimmen geredet hat, satt die Wahrheit von 3.409 Stimmzetteln zu publizieren, stottert Geschäftsführer Karl Obermair nun wie ein Staatsanwalt in eigener Sache von „umfänglichen Geständnissen“ und „alleiniger Verantwortung“ seines direkten Untergebenen und kämpft um seinen Kopf? Ja, genau deshalb! Denn der ADAC war eine der letzten verlässlichen Institutionen unseres Landes. Offiziell kein Unternehmen, sondern ein gemeinnütziger Verein, der nur 10 Prozent Mehrwertsteuern zahlt. Man nannte sich nicht Versicherung, sondern „Club“ – das hört sich sympathischer an.
In den letzten 20 Jahren haben die Deutschen akzeptiert, dass die Rente alles andere als sicher ist, dass sie den Banken nicht trauen können, dass selbst Bundespräsidenten fehlbar sind, sogar das Image der Stiftung Warentest bröckelt. Ja, wir glauben sogar immer weniger an Gott und verlassen die Kirchen. Der ADAC ist zu einer Ersatzreligion geworden, deren Priester im gelben Gewand heimliche Helden sind. In einer Welt, in der wir verlernt haben, irgendjemandem zu trauen, vertraut der Deutsche noch immer seinem Automobilclub, erhofft wenigstens Erlösung auf der Autobahn, wenn die im Himmel schon unsicher geworden ist. Die Aufregung um die Manipulation zeigt deshalb vor allen Dingen eines: das irrationale Verhältnis des Landes zum ADAC. Er ist mehr als eine Versicherung gewesen. Er war ein letzter Halt in einer veränderten Welt.
Wir sind es gewohnt, dass Zeitungen und Zeitschriften ihre Auflagen manipulieren und gegen ihre eigenen Einladungs-Richtlinien verstoßen. Wir wissen, dass Politiker ihre Bonus-Meilen privat verbuchen, wir wissen, dass Priester heimliche Affären haben, und uns ist klar, dass der Bankberater Boni bekommt. Aber wenn wir für 49 Euro im Jahr einen Deutschland-Schutzbrief abschließen, ohne dass Herr Kaiser wie ein Staubsaugervertreter an unserer Haustür klingeln muss, und wir auf den Straßen tatsächlich immer Hilfe bekommen, vermuten wir nicht, dass unser Club eventuell korrupt ist. Geschweige denn eines dieser gigantischen Wirtschaftsunternehmen, ein machtpolitischer Lobbyistenverein, ein kommerziell ausgerichtetes Weltunternehmen, ja, eine Versicherung wie alle anderen auch ist! Warum wir das nicht glauben? Weil wir es nicht glauben wollen!
Wir haben geschmunzelt, als der ADAC 2005 Bilder vom Elchtest des Dacia Logan ins Netz stellte und verschwieg, dass er auf einem Ersatzrad fuhr. Wir haben Berichte des WDR unwillig zur Kenntnis genommen, nach denen der Lobbyismus gegen die Interessen der Mitglieder überhand nimmt und die Arbeitsverhältnisse beim ADAC grenzwertig seien. Wir staunen ein bisschen, wenn unser Autohändler uns erklärt, wie die Unfallstatistik zustande kommt. Und wir haben den Wirtschftsteil überblättert, als die Wirtschaftswoche schon 2004 den „Moloch ADAC“ vorstellte und das Bild eines ganz normalen Konzerns zeichnete: Expansion nach China, Kooperation mit Autoherstellern, Übernahmegeschäfte mit dem Post-Bus und so weiter. Fakt ist, dass der ADAC mit über 1,6 Milliarden Jahresumsatz, einem Kapital von 713 Millionen Euro und 6.800 Angestellten längst ein Weltunternehmen ist. Aber all das war uns egal, weil auch wir zu Egoisten geworden sind: Hauptsache die Gelben Engel kamen, wenn wir sie riefen. Und darin waren sie gut.
Unromantische Wirklichkeit
Ramstetters Manipulation ist der hilflose Versuch, die Aura des ADAC als Club zu behaupten, der von seinen Mitgliedern geliebt wird. Dass ein Großteil der 13-Millionen-Auflage der ADAC-Zeitschrift im Altmüll landet, dass der moderne Deutsche sich längst keine gelben Sticker mehr an die Windschutzscheibe klebt, dass wir von dem Verein nur noch eine Dienstleistung gegen Geld erwarten, wollte der ADAC nicht wahrhaben. Weil er weiß, dass die emotionale Bindung an einen Weltkonzern ein gigantisches Kapital ist. Deshalb wird in der Konzernzentrale nun wegen einer Lappalie geschwitzt. Der ADAC hat als Deutschland-Gen versagt, er ist dem Virus des total globalisierten Konzerns erlegen. Es wird wahrscheinlich nicht lange dauern, bis die 10-Prozent-Mehrwertsteuer-Regelung fallen und die Konkurrenz Chancengleichheit bekommen wird. Dann ist Deutschland um einen Mythos ärmer, aber vielleicht endlich in der Wirklichkeit angekommen.
Zum Glück bekommt mein Opa all das nicht mehr mit. Sein VW Käfer existiert übrigens noch – mit ADAC-Plakette in der Garage.
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