Nur mal kurz reinstecken

Unplugged Im Museum, am Bahnhof – sogar im Theater: Der Handy-Nomade findet seine Steckdose überall
Ausgabe 29/2015
Keine echten Handy-Nomaden: Sie hat der Hurricane Sandy auf dem Gewissen
Keine echten Handy-Nomaden: Sie hat der Hurricane Sandy auf dem Gewissen

Foto: Andrew Burton/Getty Images

Man sitzt im Theater, sagen wir, eingeklemmt auf Platz zehn in Reihe zwölf, neben wildfremden Menschen. Das Licht geht aus und die Show beginnt. Wir sind nun dem ausgeliefert, was uns vorgespielt wird. Die Inszenierung verdrängt das, was wir als Wirklichkeit begreifen.

Die Liebe von Romeo und Julia, der Tod Hamlets und der Sommernachtstraum statt Griechenland-Krise, unsere Job-Probleme oder der Wunsch, mal schnell die wahre Welt zu retten. Im Theater muss die Realität draußen bleiben.

Spätestens die sonoren Lautsprecherstimmen, die aus dem Nirgendwo im Auditorium säuseln, bevor sich der Vorhang hebt, trennen das Draußen vom In-der-Kunst-Sein: „Wir bitten Sie höflich, Ihre Mobiltelefone auszuschalten. Please switch off your mobile devices.“

Neulich am Broadway kam es zu einem Zwischenfall: Kurz vor der Aufführung sprang ein junger Mann auf die Bühne, kroch über den Bühnenboden und steckte sein iPhone in eine der Steckdosen. Er wollte sein Handy während der Vorstellung aufladen. Das sorgte im Netz für allerhand Aufsehen: Was sagt es über unsere Zeit, wenn Mobile-Junkies nicht einmal mehr die Bühne heilig ist? Was, wenn das Leben zum Wettrennen gegen den Akku-Stand wird? Wenn das Dasein durch die Sehnsucht, dauernd online zu sein, definiert wird?

Steckdosen sind das Wasser der vermeintlich zivilisierten Online-Nomaden. Sie krabbeln auf den Marmor-Fußböden unserer Flughäfen wie Verdurstende in der Wüste, um ein bisschen Saft aus den Steckdosen zu pressen. Manche versorgen sich mit ganzen Aktenkoffern voller mobiler Akkus. An Bahnhöfen, in Museen und in Restaurants ist die Frage „Kann ich bei Ihnen kurz mal mein Handy aufladen?“ zum modernen „To be or not to be“ geworden. Ja, nicht mal ein Car2go kann man heute ohne Handy und Strom anmieten, und einige Museen haben ihre Audio-Guides schon durch Smartphone-Guides ersetzt, die den Besucher auf seinem Telefon durch die Ausstellung führen. Sie erwarten vom Publikum, mit vollem Akku anzureisen. Neulich war ich in einem österreichischen Konzerthaus, wo ein Mobiltelefon-Anbieter kleine Schließfächer vor dem Publikumssaal aufgestellt hat: Telefon rein, Stecker rein, Tür zu. Während der Aufführung wird das Handy dann geladen. In den USA gibt es schon Parkbänke, die als Ladestationen fungieren, und offenes W-LAN für die ganze Stadt ist eines der großen politischen Heilsversprechen geworden.

Eigentlich ist so ein Mobiltelefon ja nichts anderes als ein großes Theater im Hosentaschenformat: Facebook und Twitter als Inszenierungsplattformen von Freunden, Politikern und Unternehmen. Auf Bild.de und Spiegel Online werden die größten Dramen geschrieben. Eine aufgeblasene, virtuelle Inszenierungs-Wirklichkeit, die uns – ebenso wie das Theater – verspricht, dass wir die Welt, in der wir leben, besser verstehen. Netflix und ZDF-Mediathek immer zur Hand, dazu jede Musik auf Spotify oder iTunes. Allerdings nur so lange, bis uns der Strom ausgeht. Dann stehen wir plötzlich datennackt in der Wirklichkeit. Ein Horrorszenario!

Der Homo-unplugged ist der moderne Alptraum: der Mensch, der dem Menschen begegnet, ohne ihn vorher googeln zu können. Nur das Theater ist noch ein Raum, in den diese Wirklichkeit nicht eindringen kann. Das musste auch der Broadway-Besucher feststellen: Die Bühnen-Steckdose, die er erobert hatte, war eine Attrappe.

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Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

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