Realpolitisches Drehbuch

Böhmermann vs. Erdoğan Jan Böhmermann ist Schlingensiefs kleiner Bruder im Geiste und sein vielleicht bester Apologet
Ausgabe 15/2016

Bitte, Christoph Schlingensief, steig doch schnell mal herab aus deinem verdammten Krebshimmel, um – nur ganz kurz – Jan Böhmermann in den Arm zu schließen. Klar, man kann Kurt Tucholsky zitieren und behaupten, Satire dürfe alles, aber das hat schon in Weimar nicht funktioniert. Dieser Tage ist es vielleicht besser, an Schlingensief zu erinnern, den Leidensmann der Provokation, der Deutschland veränderte, obwohl die Nation noch lange nicht so weit war wie er. Und viel weiter ist Deutschland auch heute nicht, mit Ausnahme von Jan Böhmermann, Schlingensiefs vielleicht bestem Apologeten.

Ende der 90er, als wir dachten, dass unsere aufgeklärte Gesellschaft keine Tabus mehr habe, belehrte Schlingensief uns eines Besseren: verhaftet auf der Kasseler Documenta, im Anti-Haider-Kampf zum Volksfeind der Österreicher erklärt und dann zum Establishment-Opfer für seine Forderung: „Tötet Helmut Kohl!“ Schlingensief sagte, er sei „Moralist und kein Moralapostel“. Seine Grundnahrungsmittel waren Liebe, Wärme, Angst, Depression und Manie.

All das könnte auch auf Böhmermann zutreffen. Stattdessen interpretieren wir viel Quatsch in ihn hinein: Eifersucht auf die Schunkel-Spaß-Guerilla von Extra 3. Einer, der noch einen draufsetzen will, der Aufmerksamkeit braucht! Und selbst wenn man ihn, wie der Spiegel, als Tänzer an den Grenzen des Mediums Fernsehen verortet, redet man Böhmermann kleiner, als er ist.

Böhmermann ist weiter als viele seiner Kommentatoren. Er macht keine Satire – sondern er legt die Satire unserer Realität offen. Er definiert mit seiner Kunst unsere Wirklichkeit. Er weiß, dass „Tötet Angela Merkel“ keine Provokation mehr wäre (das rufen ja schon die Gestrigen der AfD). Böhmermann spürt, dass es uns mehr wehtut, wenn er Erdoğan ans Bein pinkelt und uns so mitten in unserer eigenen Zerrissenheit trifft.

Mit seinem poetisch scheußlichen Gedicht hat er – in genialer Vorwegnahme des Verbotenen – die Kunst mit der Wirklichkeit verknüpft und ihr zurückgegeben, was ihr an unseren Theatern, in unserem Fernsehen und in unseren Kunsthallen schon lange verloren gegangen ist: ihr Explosionspotenzial! Er führt den Beweis für Guy Debords Diktum von der „Gesellschaft des Spektakels“. Das realpolitische Drehbuch, das Böhmermann losgetreten hat, konnte er sich an einem Stinkefinger abzählen: Während er abtaucht – und mittlerweile unter Polizeischutz steht –, löscht das ZDF seinen Beitrag, Erdoğan klagt, Merkel steckt in der Bredouille, Yanis Varoufakis und Springer-Chef Mathias Döpfner solidarisieren sich, und selbst deutsche Komiker, die in den letzten Jahren eher Honig im Kopf hatten, werden zu Bekennern. Wie in einem Tatort, in dem alle behaupten, der Mörder zu sein, verfassen nun Alt-68er wie Didi Hallervorden Solidaritäts-Schmähgedichte. Einer meiner Facebook-Freunde witzelte: „Solange Bob Geldof kein Benefiz-Konzert macht, kann es nicht so ernst sein.“

Der Fachmann staunt, der Laie wundert sich: Ein großer Teil Deutschlands reagiert in der Böhmermann-Debatte wie die beflissene Putzfrau beim Beuys-Fettfleck. Freuen wir uns, dass Kunst noch diese Kraft hat! Denn nur Gesellschaften, die dem Skandal zwar mit Befremden und Unbehagen, gleichsam aber ohne Furcht und mit Liebe begegnen, sind wahrhaftig menschlich.

Also – ZDF: Stell das Video wieder online! Merkel: Bekenne dich! Bayreuth: Überlasse Böhmermann den nächsten Parsifal! Erdoğan: Verpiss dich! Und Schlingensief: Tröste deinen kleinen Bruder im Geiste, den Böhmermann.

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Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

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