Einer der bedrückendsten Tage meiner Kindheit war der erste Schultag nach den Winterferien 1984. Über Weihnachten hatte die AG Weser ihre Werfttore geschlossen. Damals war ich 12 Jahre alt, und fast die Hälfte der Väter aus meiner Klasse war arbeitslos. Dieses arme Bremen hat trotzdem Spaß gemacht. Weil es nie sexy sein wollte, sondern vom Märchen der Stadtmusikanten lebte. Als die Industrie unterging, hat es verschrobenen Kunstvisionären Spielplätze angeboten. Bremen sagte: „Hier lasset euch nieder. Hier sollt ihr frei sein. Hier könnt ihr ohne den Druck von Besucherzahlen, Umwegrentabilität und Refinanzierung eure Kunst machen!“ Kultur war der größte Stolz in der Not. Sie war kantig wie die Stadt, aufregend und roch nach Schweiß. Nur so konnte ein „Bremer Stil“ entstehen.
Meine erste nackte Frau, die ich mit acht Jahren in der Kunsthalle gesehen habe, stammt von Lucas Cranach und schlief, meine zweite sah ich bei Johann Kresnik auf der Bühne. Der Dirigent Peter Schneider hat mir als 12-Jähriger den Lohengrin erklärt. 1984 stieß der Urbremer Sven Regener zur Band Neue Liebe, danach gründete er Element of Crime. Ich habe Claus Peymann, Bernhard Minetti, August Everding und Dieter Dorn gesehen. Hochkultur war in Bremen eine erstklassige Subkultur, die erst später – und anderenorts – zum Mainstream geworden ist.
Im gallischen Kulturdorf wurde gern debattiert: 1980 hatte Ulrich Kienzle die Nachrichtensendung Buten un Binnen für Radio Bremen entwickelt, die mit ihren Moderatoren Michael Geyer und Jörg Wontorra bissiger war als der Monitor. Ich habe die schrägen Anfänge von Hape Kerkeling erlebt, und mein Traum war es, im Weser-Kurier zu schreiben, einer der damals wenigen national bedeutenden Regionalzeitungen. Die ganz großen Legenden waren bereits gegangen: Loriot, der bei Radio Bremen angefangen hatte, war längst Nationalkomiker, Nikolaus Harnoncourt, der beim gleichen Sender seine ersten Aufnahmen auf historischen Instrumenten hatte einspielen dürfe, setzte seine Arbeit in Wien fort, Kurt Hübner und Peter Zadek waren nach Berlin abgewandert, und auch Bürgermeister Hans Koschnik war schon von Bord gegangen. Aber der Geist der Siebziger wehte in die Achtziger hinüber.
Affirmation statt Provokation
Vor drei Jahren bin ich in meine alte Heimat zurückgekehrt. Ich freute mich auf die neue Begegnung mit der alten hanseatischen Kulturtante. Aber ich fand nur noch einen abgehalfterten Mythos, der damit beschäftigt war, sich selbst zu verwalten. Die neue Kunstwährung scheint nicht mehr die Provokation, sondern die Affirmation zu sein. Intendanten und Künstler werden nicht mehr engagiert, um infrage zu stellen, sondern um die Stadt mit hübschen Bildern und angenehmen Klängen zu tapezieren. Und es ist nur schwer zu verstehen, wie es zu so einer Situation kommt, die eigentlich keiner will.
Es dauerte einige Zeit, bis ich begriffen habe, welches Prinzip dahintersteckt. Es gibt verschiedene Methoden, um an Kultur zu sparen: In den Nullerjahren wurde (gegen zaghaften Protest) in den neuen Bundesländern knallhart fusioniert und gestrichen. In Bremen, Trier oder Sachsen-Anhalt werden derzeit die Kultureinrichtungen lieber finanziell und personalpolitisch in die Bedeutungslosigkeit geführt, um sie am Ende ohne Bürgerprotest abschaffen zu können. Und das Prinzip Bremen ist längst ein nationales Phänomen geworden.
Auch in Bremen beginnt ein Fisch am Kopf zu stinken. Am Kopf der Kulturinstitutionen steht in Bremen der Bürgermeister. Der heißt Jens Böhrnsen. Sein größter Erfolg war es, dass er zwischen Köhler und Wulff kurzweilig Bundespräsident spielen durfte. Ein Mann ohne Entscheidungswillen, einer der nicht auffällt, weil er nicht auffallen will. Ein Politbürokrat. Weil Böhrnsen zwar gern in Premieren sitzt, aber ungern Verantwortung für Kürzungen, Schließungen oder Personalentscheidungen tragen will, hat er das Amt der Kulturstaatsrätin geschaffen. Die heißt Carmen Emigholz und ist ursprünglich Rechts- und Politikwissenschaftlerin mit strammer Bremer Parteikarriere. Und so führt sie auch den Bremer Kulturklüngel: Als Netzwerk unter Freunden, in denen das lokale Mittelmaß zur Staatsräson erhoben wird. Seit 2007 betreibt sie im Namen ihres Bürgermeisters eine provinzialisierte Kulturpolitik, deren Ziel nicht die Debatte, die Kritik, das Außerordentliche ist, sondern die Verlässlichkeit. Das Doppelgespann hat Methode: Böhrnsen und Emigholz schieben die Verantwortungen hin und her.
Die CDU-Opposition hat keinen fähigen Kulturpolitiker, und Carsten Werner von den mitregierenden Grünen, bettelt auf Facebook um neue Konzepte aus der Bevölkerung. Sein Anliegen ist es, die Off-Szene zu stärken. Dabei ist das Haus, das er einst leitete, die Schwankhalle, selbst personell an die Wand gefahren. Was die Grünen nicht wahrhaben wollen: Eine starke Subkultur entsteht nur im Schatten großer Kultur.
Für Emigholz ist Kunst kein gesellschaftliches Korrektiv, sondern Serviceleistung. Sie sagt Dinge wie: „Wir sind gefordert, die Lebenswirklichkeit der Menschen stärker in den Blick zu nehmen“. Damit meint sie nicht die Thematisierung von Armut, gesellschaftlichen Spannungen oder gar revolutionäre Kunstveranstaltungen, sondern das „Afterwork-Angebot der Bremer Philharmoniker“. Emigholz könnte problemlos als Mitautorin des Manifests Der Kulturinfarkt durchgehen. Die Kulturstaatsrätin tut lediglich noch so, als würde sie Spielplätze zur Verfügung stellen, gibt den Schlüssel für ihre Einrichtungen aber nur aus der Hand, wenn sie sicher ist, dass die Kinder keinen Krach und keinen Unsinn machen.
Endlosschleifen
Das Publikum hat gelernt, dass der 80-Millionen-Kulturetat nicht mehr die Freiheit der Stadtmusikanten fördert, sondern als Investition in Marketing verstanden wird. Bremen zeigt exemplarisch, wie Kultur zu einem Teil der Tourismusindustrie verkommt. Sie ist keine Revolutionspolitik mehr, sondern Repräsentationspolitik. Sie schwitzt nicht mehr, sie trägt Schlips. Charakterköpfe wie in meiner Jugend sucht man in Bremen heute vergebens.
Der personelle Abstieg begann mit dem Engagement des windigen Theaterimpresarios Hans-Joachim Frey. Der Putin-Freund und Semper-Opernball-Maestro hat der Bremer Politik mehr Kunst für weniger Geld versprochen. Seine Amtszeit endete in einem Millionenfiasko durch das Musical Marie Antoinette. Seither ist Bremen für ambitionierte Intendanten verbrannt. Inzwischen regiert der Hamburger Kulturwissenschaftler Michael Börgerding das Haus. Ein Intellektueller, der lieber Thesenpapiere entwirft, als die Bühne mit Emotionen zu füllen. Ein Debattentheater ist für ihn ein Haus, das zu Podiumsdiskussionen lädt. Besonders gern mit „Vertretern der Werbewirtschaft und kreativen Designern“. Seither debattiert Börgerding in Endlosschleifen mit den Bremer Inzest-Movern und -Shakern und hat sogar die Chuzpe, für derartiges Nichttheater Hübners altes Logo, den Theaterpfeil, zu reaktivieren. Zu einem kritischen Gespräch über den Publikumsrückgang und das Verschwinden des Theaters aus der Öffentlichkeit mit dem Freitag war er übrigens nicht bereit. Bei all dem vernachlässigt der Intendant die Kernkompetenz seines Hauses. Den Antisemiten Wagner würde er am liebsten gar nicht aufführen. Doch statt das so zu sagen und eine Debatte anzuregen, sucht er Regisseure, die Wagner kaputt machen. Das Marketing ist zur neuen Stadtmusik geworden.
Die Bremer Kunsthalle wurde lange und erfolgreich vom etwas schrulligen Wulf Herzogenrath geleitet. Nach einem millionenschweren (zum großen Teil privat finanzierten) Umbau wurde dann Christoph Grunenberg zum neuen Leiter ernannt, der nun brav das Serviceprinzip von Frau Emigholz umsetzt: Spektakelshows, Kinderprogramm und Volksaufklärung. Das Museum Weserburg stand dagegen für Neue Kunst. Sein Direktor, Carsten Ahrens, ist das letzte Opfer der Bremer Kulturpolitik. Er hatte die Vision, ein neues Gebäude zu errichten. Finanziert werden sollte es unter anderem durch Bilderverkäufe, Eigenkapital, Mäzene und dadurch, dass die Stadt nicht mehr Millionen in die Sanierung des Fundaments der alten Weser-Immobilie investieren muss. Ahrens, der spektakuläre Künstler nach Bremen holte und Sammler anzog, wollte perspektivisch eine administrative Einheit mit der Kunsthalle schaffen: die Weserburg als Tate Modern, die Kunsthalle als Tate. Letztlich haben sich die lokalen Künstler, die alt eingesessenen Galeristen, das eigene Personal und die politischen Entscheidungsträger dem Direktor in den Weg gestellt. Böhrnsen und Emigholz haben gern auf den Privatstiftungscharakter der Weserburg verwiesen und ihre Hände in Unschuld gewaschen. Dass sie immer wieder Einfluss auf das Haus genommen, bei Vernissagen Reden gehalten und den Neubau hinausgeschoben haben, verschweigen sie. Es ist offen, wer Ahrens nun nachfolgt. Nationale Kunstdirektoren werden in dieser Gemengelage kaum „hier!“ schreien.
Die Liste des kulturellen Abstiegs in Bremen ist lang: Unter Ilona Schmiel war die Glocke ein Konzerthaus mit Strahlkraft – heute ist sie zum Tourzirkuszelt verkommen, das Off-Theater Schwankhalle ist führungslos, das Überleben des Focke-Museums steht ebenso auf der Kippe wie das des Überseemuseums. Erfolgreich sind höchstens Privatinitiativen wie die Kammerphilharmonie Bremen oder das Musikfest Bremen – bei ihnen zeigt sich der Bürgermeister übrigens oft und gern.
Stagnation und Inspirationslosigkeit betrifft auch die Bremer Medien: Der Weser-Kurier hat sich eine Radio-Bremen-Journalistin als Chefredakteurin geholt und füllt sein Feuilleton durch freie Schreiber, Lehrer und Hobbyjournalisten. Radio Bremen ist zu einem Nischensender geschrumpft: Die drei Radiosender werden von einem frustrierten Redaktionskollektiv betreut, Buten un Binnen sieht heute aus wie das RTL-Journal, 3 nach 9 plätschert vor sich hin, und der Tatort wird weitgehend vom WDR finanziert. Auch hier wurden alle Grundlagen geschaffen, dass der einstige Querdenkersender, der längst nur noch ein teures Fenster im NDR-Programm ist, perspektivisch verloren geht. Bremen steht stellvertretend für viele andere Städte, in denen die Kultur bis zur Lethargie organisiert wird. Viele Kulturschaffende reiben sich im Kampf mit der Bürokratie auf, ein Großteil des Publikums hat die Lust verloren, die Bedeutungslosigkeit wird schweigend hingenommen. Die Bremer Kulturlandschaft ist schrecklich belanglos und fürchterlich gemütlich geworden. Auf dem Gelände der AG Weser steht heute übrigens das Shoppingparadies „Waterfront“.
Axel Brüggemann lebt in Bremen, wo er auch geboren ist. Zuletzt veröffentlichte er Genie und Wahn. Die Lebensgeschichte des Richard Wagner
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