Scheitern als Chance

Eurovision Die Zeiten sind eiskalt. Da wirkt das lustvolle Versagen vielen wie ein Ausweg. Aber, wie wir an Andreas Kümmert sehen: So siegt wieder nur das System
Ausgabe 11/2015
Zottelbart, wampe, abgerockte Klamotten: Andreas Kümmert
Zottelbart, wampe, abgerockte Klamotten: Andreas Kümmert

Foto: Sven Simon/Imago

Dieser Text ist zum Scheitern verurteilt. Ich habe dem Fall Andreas Kümmert nichts hinzuzufügen und lehne es ab, über den Eurovision Song Contest und dessen Vorentscheid zu schreiben. Darüber, wie sich eine Stimme im Kapuzenpulli weigert, nach Wien zu fahren, sodass Deutschlands Schlagerpublikum sich jetzt verarscht vorkommt. Während Zeit, Spiegel und FAZ intellektuell begründen, dass Kümmert den Pophochglanz ausgehebelt, die Selbstbestimmung des Künstlers behauptet, das System geschockt und sich als Held, ja als Heiliger installiert habe, muss ich sagen: Danke für das Vertrauen, aber ich kann diesen Auftrag nicht annehmen.

Okay, diese Pointe hätte eigentlich am Ende dieses Texts stehen müssen. Ich hätte den geneigten Leser erst begeistern müssen, um ihm dann, in der letzten Zeile, die Zunge meines Scheiterns herauszustrecken. Aber das hier schon vorweggenommene Scheitern illustriert das neue Modephänomen besser: Jedwede Überforderung wird heute allzu gern entschuldigt oder gar überhöht – als Sieg über die eigenen Ansprüche und die Ansprüche von außen.

Kein Wunder, dass das Scheitern in einer Zeit zum Siegen verkommt, da der Arbeitsmarkt kälter, das Neoliberale mächtiger und die Solidarität kleiner wird. Scheitern gilt heute nicht mehr als Kapitulation, sondern als Kampfansage an das Mainstreamsystem. Griechenlands hemdsärmlige Pleite kommt vielen von uns lässiger vor als Deutschlands Spießertum. Der RTL-Dschungel lebt vom gescheiterten Walter Freiwald. Wenn wir erkennen, dass das Gewinnen anstrengend werden könnte, treten wir lieber vorsorglich schon mal zurück. Aber das dann: selbstbestimmt.

Andreas Kümmert hat sich als Gegenentwurf zum Hochglanzmusikgeschäft stilisiert. Zottelbart. Wampe. Abgerockte Klamotten. Sein Aussehen sagt: „Fick dich, Popmarkt!“ Er hat wohl vergessen, dass das Schlagersystem auf Freaks wie ihn wartet – um ihn zu verschlingen. Sein Fehler war es, dem System innerhalb des Systems den Kampf anzusagen, sich über das, was er kritisiert, zu definieren. Wer mit dem Song Contest nach oben fahren will, fährt eben auch mit ihm nach unten. Weil Kümmert ausgestiegen ist, hängt er nun noch viel tiefer drin. Aktuell berichten Zeitungen über eine Anklage gegen ihn wegen sexueller Beleidigung. Irgendwann wird er jedoch vergessen sein. Als Aussteiger ebenso, als wenn er nach Wien gefahren wäre. Die Sieger, die er gemacht hat, heißen Barbara Schöneberger, ARD und Eurovision – they take it all! Der Loser, der das Scheitern zum Stilmittel erhebt, kann nicht gewinnen.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 30% Rabatt lesen

Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

Avatar

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden