Kulturbranche in größter Krise seit 1945: Geht wohl auch ohne

Theater, Kino, Oper Nach der Durststrecke in der Coronazeit haben alle geglaubt: Jetzt wird alles wieder so wie früher. Von wegen! Die Gründe für die Krise der Kulturbranche reichen weit tiefer als aktuelle Feuilleton-Debatten suggerieren
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 35/2022
Kulturbranche in größter Krise seit 1945: Geht wohl auch ohne

Illustration: der Freitag, Material: iStock

An deutschen Theatern braucht man keine Kristallkugel, um zu erkennen: Die Auswirkungen von Corona, Ukrainekrieg und Energiekosten-Krise treiben das weltweit einzigartige System regionaler Kulturversorgung an seinen existenziellen Rand. Ein Blick auf die Realität reicht, um zu verstehen, dass viele Häuser den Überlebenskampf kaum noch gewinnen können, wenn nicht ein Wunder passiert oder plötzlich doch noch ein breiter politischer Wille auftaucht, der Deutschland als Kulturnation behaupten will.

Beispiele gefällig? Bitteschön: Der Deutsche Bühnenverein meldete für die vergangene Saison 86 Prozent weniger Zuschauer und Zuschauerinnen sowie 70 Prozent weniger Aufführungen. Eine Studie aus Baltimore zeigt, dass es sich um ein dauerhaftes Problem handelt, 26 Prozent der KonzertbesucherInnen erklärten, dass sie nicht zu Livekonzerten zurückkehren werden. Gleichzeitig wurden die ersten großen Sparmaßnahmen im Zuge der Coronakrise eingeleitet: Der Kulturetat in München wurde bereits 2021 um 6,5 Prozent eingedampft (das sind 15 Millionen Euro weniger), auch in Frankfurt am Main wird gespart, unter anderem auf Kosten von Oper und Schauspiel. Zwischen 2023 und 2025 sollen jährlich rund sieben Millionen Euro weniger an die Häuser fließen. Am Ende werden neun Prozent des gesamten Bühnenetats fehlen. Überall in Deutschland müssen lange geplante Großprojekte dran glauben, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat dem bis ins Detail ausgearbeiteten Neubau des Konzerthauses in München gerade eine „Denkpause“ auf unbestimmte Zeit verordnet – dabei würde selbst der Nicht-Bau Millionen verschlingen. In Nürnberg und in Stuttgart ist die Politik nicht sicher, wie und ob man sich die geplanten Opernsanierungen noch leisten kann.

Das ist nicht alles. Während Subventionen und Einnahmen sinken, reißt die Inflation weitere Löcher. Dabei wäre Geld gerade jetzt besonders wichtig, denn am Horizont lauert einer der längst überfälligen, aber äußerst kostspieligen Tarifverträge für BühnenmitarbeiterInnen. Die Theaterlöhne werden wachsen wie nie zuvor (der Freitag 31/2022). Ganz zu schweigen von den steigenden Energiekosten. Ein mittelgroßes Stadttheater stellt sich derzeit auf jährlich 900.000 Euro Mehrkosten nur für Strom und Heizung ein – das ist das Volumen mehrerer Produktionsetats.

Das Long-Covid der Kultur

Schon jetzt sind an vielen Häusern oft mehr als 80 Prozent der Mittel an Personalkosten gebunden, gespart werden kann also nur an den Produktionen, und die laufen längst auf Sparflamme. „Die kommende Spielzeit haben wir mit allerhand Einsparungen und Coronahilfen noch irgendwie hingebogen“, heißt es in der Geschäftsführung eines großen deutschen Stadttheaters, „aber es ist ein vollkommenes Rätsel, wie wir die Spielzeit 2023/24 überleben sollen“.

Wir haben es mit einer der größten finanziellen und strukturellen Krisen des deutschen Stadttheatersystems zu tun, und ein Großteil des Feuilletons ruft den Theaterleuten zu: „Ihr habt doch selber schuld!“ Der Spiegel titelte: „Viele Theaterchefs stehen plötzlich schlotternd wie nackt im Hemd da“, die Süddeutsche Zeitung fordert den Theaterbetrieb auf, seine Lebenslügen endlich zu hinterfragen, und der Tagesspiegel konstatiert, dass viele Häuser die Nähe zum Publikum verloren hätten und das selbstgefällige Dramaturgietheater niemanden mehr erreichen würde. Die Literatin Thea Dorn argumentierte im Kulturpodcast Alles klar, Klassik?, dass die Häuser sich mit postmoderner Regie, postdramatischer Inszenierung und postmigrantischer Programmatik selbst ins Abseits katapultiert hätten und ihr einziges Heil darin läge, wieder Pathos zu wagen, den Mut zum Erzählen aufzubringen. Theater müssten durch Begeisterung begeistern, sagt Dorn, eine Tugend, die sie zu lange vernachlässigt hätten.

All das mag sein. Aber bevor man sich auf eine inhaltliche Feuilletondebatte einlässt, sollte es eine Antwort auf eine wesentlich pragmatischere Frage geben. Denn Deutschlands Theater kämpfen mit einem weiteren Problem: Sie haben gigantische Nachwuchssorgen und einen eklatanten Fachkräftemangel.

Kaum eine Beleuchter- oder Technikerinnen-Stelle kann an Theatern derzeit neu besetzt werden. Zu gering sind die Verdienstmöglichkeiten, zu unattraktiv die Arbeitszeiten. Der Geschäftsführer der Berliner Rundfunk Orchester Chöre gGmbH, Anselm Rose, sprach ebenfalls im Podcast Alles klar, Klassik von einem „Long-Covid-Effekt“ bei seinen Angestellten. Viele MitarbeiterInnen, gerade in der Administration von Kulturbetrieben, seien nach dem ewigen Absagen, Neuplanen und Verschieben von Projekten ausgebrannt. „Es ist fast unmöglich geworden, MitarbeiterInnen für das künstlerische Betriebsbüro oder das Marketing zu finden“, sagt Rose, „die gehen lieber in die Tourismusbranche oder in die freie Wirtschaft, wo sie klar strukturierte und sichere Arbeitszeitmodelle haben“. Die Zeit sei vorbei, erklärt der Orchesterchef, dass man aufgrund der eigenen Begeisterung einen Beruf in der Kultur ergreift, um sich fortan selber auszubeuten. Roses Fazit: „Wenn wir es nicht schaffen, eine neue Unternehmenskultur in unseren Kulturbetrieben zu etablieren, werden wir es schwer haben, die nächsten Jahre zu überleben.“

Die Frage nach dramaturgischen Konzepten ist spannend, wesentlicher aber scheint eine Debatte darüber zu sein, wie Deutschlands Theater, Opern und Orchester ein Publikum begeistern wollen, wenn sie es nicht einmal schaffen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für sich zu gewinnen.

Denn tatsächlich leben ausgerechnet jene Institutionen, die einen Debattenraum für unser Miteinander und für den Diskurs über humanistische Grundzüge organisieren sollen und dafür mit staatlichen Millionen gefördert werden, in anachronistischen Arbeitsmodellen, die sich kein DAX-Unternehmen mehr leisten könnte: Hierarchische Strukturen, in denen IntendantInnen zuweilen gottgleiche Alleinherrscher sind, ein zuweilen menschenverachtender Umgangston, der durch keine geniale Regie-Idee legitimiert werden kann, ein strukturelles Scheitern von Machtstrukturen. Egal, ob #metoo oder andere Übergriffe – Orchester und Theater scheinen ein Eldorado für DespotInnen, Möchtegern-Machos und andere Arschlöcher zu sein. Wie glaubhaft können diese Etablissements auftreten, wenn sie behaupten, das künstlerisch-moralische Gewissen unseres Landes zu verkörpern? Dabei ist die Kunst in einer ihrer wohl größten Krisen der Nachkriegszeit genau auf diese Glaubhaftigkeit angewiesen. Orchester, Theater und Opern müssen begreifen, dass ihre Zukunft und ihre Finanzierung eben nicht von jenen abhängt, die Karten (oft auch sehr teure) kaufen, sondern vom Verständnis aller, die nicht in die Aufführungen kommen, die Kultureinrichtungen durch ihre Steuern dennoch wesentlich mitfinanzieren. Es geht also um jene SteuerzahlerInnen, die verstehen müssen, dass auch eine 100-Euro-Karte an einem Stadttheater durchaus noch mit 150 oder gar 200 Euro vom Staat bezuschusst wird. Und dass das richtig ist. Kultur darf also kein Amüsement weniger sein, sondern muss Bedeutung für alle haben, selbst für jene, die sie nicht „konsumieren“.

Event und Intimität

In der Coronakrise haben Theater gegen die sogenannte Relevanzdebatte gekämpft. Weil sie gespürt haben, dass ihre Arbeit vielen Deutschen nicht wichtig ist. Kultur musste sich hinten anstellen, und das scheint sie auch heute wieder zu müssen, wenn es um das Einsparen von Energie geht. Wir müssen verstehen, dass Relevanz eben nicht in der Blase jener behauptet werden muss, die eh in die Theater gehen, sondern bei jenen, die Theater nicht besuchen, sie aber mitfinanzieren.

Tatsächlich scheint ein Schlüssel für die Zukunft zu sein, endlich zu begreifen, dass wir es mit dem Ende der Selbstverständlichkeit von Kunst und Kultur zu tun haben. Dass Konzerte (egal, ob Pop oder Klassik) nur noch als Event erfolgreich sind, als Ausnahmezustand, bei dem die Namen wichtig sind, die Location und das Außerordentliche. Wenn diese Komponenten gegeben sind, darf es ruhig auch etwas mehr kosten. Erfolgreich kann aber auch Intimität sein, Vertrauen und Kennerschaft. Wenn kleine Kollektive gemeinsam etwas entdecken. Schon jetzt ist zu beobachten, dass erfolgreiche Veranstaltungen genau diese Extreme bedienen. Sicher ist, dass das alte (und lange sehr erfolgreiche) Modell des Abonnements am Ende ist, ebenso wie die langfristige Kulturplanung. Oper, Schauspiel und Konzert konkurrieren je nach Tag, Wetter und Alternativprogrammen längst auch gegen eine immer größer werdende Freizeitindustrie, gegen Restaurants, Kurzurlaub oder Sport.

Die Zukunft der Bühne liegt im Event oder in der Nähe. Und es geht darum, dass wir gesellschaftlichen Konsens darüber schaffen, warum wir uns Kultur überhaupt leisten. Klar, dass wir die großen Leuchttürme brauchen, die sich selbst durch 250-Euro-Kartenpreise nicht rechnen: Staatsopern, nationale Orchester, große Festivals. Ansonsten steht der Kurs wohl eher auf Schrumpfen: Kaum denkbar, dass jedes mittelgroße Orchester in Zukunft noch auf Asientournee gehen wird. Das wird wirtschaftlich ebenso schwierig, wie es ökologisch sinnvoll erscheint. Das Schrumpfen kann auch durchaus heilsam sein. Denn niemandem ist vermittelbar, dass einige Klassikstars an staatlich subventionierten Häusern Abendgagen von 20.000 bis 40.000 Euro kassieren, während ein Ensemble-Sopran 2.400 Euro pro Monat bekommt.

Wir müssen uns wieder klar darüber werden, dass wir uns als Gesellschaft darauf geeinigt haben, dass wir uns Kultur leisten. Und wir müssen uns fragen, warum wir das wollen. Eventkultur braucht keine Zuschüsse, schließlich müssen auch Musicals allein überleben. Kultur macht nur dann Sinn, wenn sie als Freiraum verstanden wird. Als Ort, an dem gesellschaftliche Fragen unkonventionell und kreativ debattiert werden. Als Orte, an denen Teilhabe Normalität ist, ebenso wie eine moderne Unternehmenskultur. In Theatern und Orchestern muss das Scheitern erlaubt sein, sie müssen jenseits des finanziellen Druckes neu und anders (gern auch mal falsch) denken dürfen. Und, ja, vielleicht könnten Theater jener Raum sein, in dem eine extrem zerstrittene Gesellschaft neu entdecken kann, wie viel Spaß es macht, miteinander statt gegeneinander zu streiten.

Grundlegende Strukturen müssen hinterfragt werden. Der Chefdirigent der Münchner Staatsoper, Vladimir Jurowski, erklärte auf dem Deutschen Orchestertag, dass viele große Orchester veraltet seien: „Wie soll ein Ensemble Menschen begeistern, in dem Menschen seit Jahrzehnten auf den gleichen Positionen sitzen, nur weil sie vor über zehn Jahren ein Vorspiel gewonnen haben?“ Jurowski blickt neidisch nach England, wo man „bei jedem Projekt weiß, warum man an diesen Abend diese Musik vor diesem Publikum spielt“. Er diagnostiziert eine Systemschwäche und träumt von einer neuen Balance aus Sicherheit für Musikerinnen und Musiker und ihrer Eigenverantwortung.

Aber es gibt eben auch positive Beispiele. Während Intendanten wie der Chef des Theaters Bremen, Michael Börgerding, Abonnenten, die sein Konzept nicht verstehen, oberlehrerhaft antwortet, hat die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz trotz Pandemie sogar BesucherInnen dazugewonnen. Weil die MusikerInnen während der Lockdowns sozial aktiv waren, das Orchester sichtbar geblieben ist. Im ersten Konzert nach der Krise haben alle MusikerInnen handschriftliche Karten verfasst und unterschrieben – die Karten lagen auf jedem einzelnen Platz: „Schön, dass Sie wieder da sind“. Kleine Geste mit großer Wirkung.

Natürlich können wir in den Feuilletons große dramaturgische Konzepte debattieren, darüber streiten, welche Ästhetik derzeit das Publikum ansprechen würde. Aber vielleicht ist das eigentliche Problem viel größer. Regietheater und Museumsinszenierungen gehören zur kulturellen Vielfalt und beflügeln die ästhetische Debattenkultur. Wichtiger scheint die grundlegende Frage zu sein, warum wir uns unsere Theater, Opern und Orchester überhaupt noch leisten wollen – sie muss weit über das Feuilleton hinaus diskutiert werden. Denn eines ist sicher: die Selbstverständlichkeit der Existenz unserer Theater und Orchester ist längst nicht mehr gegeben.

Axel Brüggemann arbeitet als Journalist, dreht Filme, schreibt Bücher und ist Moderator, etwa des im Text erwähnten Kulturpodcasts Alles klar, Klassik?. Im Freitag erschien zuletzt seine Rezension der Ring-Inszenierung bei den Bayreuther Festspielen (Ausgabe 32/2022)

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Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

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