Vom Winde angeweht

Spektakel Wladimir Putin hat nach der gewonnenen Präsidentschaftswahl geweint. Wie kann das sein? War es höhere Naturgewalt, die eigene Überwältigung oder echtes Theater?

Gibt es lupenreine Tränen? Grundsätzlich: ja! Vor einiger Zeit haben Wissenschaftler herausgefunden, dass Tränen, die aus Trauer oder echter Ergriffenheit vergossen werden, mehr Adrenalin enthalten als Tränen, die fließen, wenn der Fahrtwind weht oder die Augen beim Zwiebeln schneiden Wasser treiben. Man könnte diese Erkenntnis auch unter dem Titel „Im Weinen veritas“ zusammenfassen.

Seit Tagen diskutiert die Welt, wie lupenrein Wladimir Putins Tränen nach der gewonnenen Präsidentschaftswahl waren. Kann ein Mann, der sich ansonsten als unbesiegbarer Judoka, als muskelprotzender Angler oder als Freischwimmer mit Adler-Armen inszeniert, bewusst auf die Tränendrüse drücken? Sicher ist: Eigentlich weinen Männer wie Wladimir Putin nicht. Weil es nicht ins Bild passt.

Jahrzehntelang hat er daran gearbeitet, dass die Russen nicht zu glauben wagen, er würde bei Vom Winde verweht oder Doktor Schiwago weinen. George W. Bush, Barack Obama, Helmut Kohl – alles Heulsusen. Sie haben mit Tränen Politik gemacht: nach Soldatenbesuchen oder an Soldatengräbern. Nicht aber Wladimir Wladimirowitsch Putin! Dieser Mann weint nicht. Niemals. Basta.

Hartes Macho-Holz

Putins Pipeline-Genosse Gerhard Schröder war aus ähnlich hartem Macho-Holz geschnitzt. Der Buddel-leer-Kanzler hat auch nie geweint. Außer einmal, als er aus dem Film Das Wunder von Bern kam. Und dann, als alles vorbei war und die Bundeswehr ihm den Zapfenstreich blies. Zumindest beim zweiten Mal haben wir ihm das Adrenalin in den Augen abgenommen. Dass nun ausgerechnet Wladimir Putin weint, wohlgemerkt, nicht über eine Niederlage, sondern über einen sicheren Sieg – wer hätte das gedacht?

Wohl niemand. Und deshalb hat die Weltöffentlichkeit ihm seine Tränen auch nicht abgenommen. Für einen tränen-wissenschaftlichen Adrenalin-Check war der designierte Präsident nicht zu haben, aber sein Sprecher erklärte sofort: Ja, es waren echte Tränen, es handelte sich allerdings nicht um Ergriffenheit, sondern um einen „scharfen Ostwind“, der Putin die Feuchtigkeit in die Augen trieb. Der Staatspräsident sei weder geschüttelt noch gerührt gewesen, wie Spiegel Online schrieb. Seine Tränen waren echt – aber eben ohne Adrenalin.

Ein emotionales Wunder

Perfekter kann das Tränen-Spektakel nicht durch die Mittel des Spektakels der Emotionslosigkeit behauptet werden. Putin weint Tränen mit doppeltem Boden. Als das Volk dachte, der Präsident würde schauspielern, erklärte sein Sprecher: nein, und schränkte ein, dass Putin nicht auf Grund von Emotionen, sondern wegen höherer Naturgewalten weinen würde. Und plötzlich schienen die Tränen beim Präsidenten aus Eis so echt zu sein wie bei der weinenden Maria in Santiago de Chile. Die Entemotionalisierung wirkte als emotionales Wunder!

Die Anfangs erwähnten Forscher haben übrigens auch herausgefunden, dass Tränen – egal, ob sie über den Tod der Mutter oder bei Pretty Woman vergossen werden, über das echte Leben oder über das inszeniertes Theater – die gleichen Adrenalin-Anteile haben. Und so erklärt sich auch der politisch-chemische Prozess in Putins Tränenshow: Die Kunst der Bühne sorgt für echte Gefühle, das Spektakel für Wahrhaftigkeit – gerade, weil sie durch Theaterblut und Theatertränen hervorgerufen werden. Putin heult ohne Adrenalin, aber sein Publikum weint aus echter Ergriffenheit. Und so verdrückt Mütterchen Russland Tränen der Rührung, während dem Präsidenten lediglich der Ostwind um die Nase weht.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Axel Brüggemann

Journalist und Autor in Wien und Bremen.

Avatar

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden