Selbstversuch Glücklich ist man, wenn das Verhältnis von positiven und negativen Gefühlen 3:1 ist, behauptet die „positive Psychologie“. Stimmt das? Ein Selbstversuch
Es ist Herbst, draußen fallen die Blätter von den Bäumen, drinnen blühen die Neurosen. Wer jetzt noch ein Haus bauen will, muss sich sputen. Und wem plötzlich die Hexe ins Kreuz schießt, weil der Urlaubskoffer zu schwer war, tut sich nicht eben leicht, doch einfach mal positiv zu denken. Ausgerechnet jetzt, wo der Sohn in die Kita kommt, die Frau wieder in den Beruf einsteigen will und zu allem Überfluss auch noch das Auto kaputtgegangen ist. Wie soll man da nicht verzweifeln? Psyche und Körper tun sich zusammen, rufen den Störfall aus und fahren den Meiler erst mal runter. Nichts geht mehr. Zwei Wochen lang. Werde ich jetzt zum Krüppel? Werde ich je wieder schöne Sachen machen können? Meinen Sohn durch die Gegend schleudern, lach
achen, ohne dass es wehtut. War's das jetzt? Berufsunfähig mit 40?Gut, Lesen geht auch im Liegen. Alles, wozu man sonst nicht kommt, die dicken Sachen: Die Zeit, Brand eins, Dummy, Psychologie heute. Letztere lockt mit „Strategien für mehr Zufriedenheit“. Na dann, schauen wir doch mal rein. „Auf der Suche nach dem Geheimnis des erfüllten Lebens sind Psychologen fündig geworden“, heißt es im Vorspann. „Flourishing (Aufblühen) heißt die neue harte Währung der Positiven Psychologie.“ Positive Psychologie? Ist das nicht so, wie wenn man Gesundheitsprämie statt Kopfpauschale sagt? Es klingt zwar schöner, aber am Ende geht es doch um Unerfreuliches.Jeder kann sich selbst zum Erblühen bringenDie richtige Balance zwischen positiven und negativen Gefühlen, sagt die Psychologin Barbara Fredrickson, erweitert unsere Wahrnehmung und unser Denken und macht uns so langfristig zu glücklicheren Menschen. In Ihrer Open-Heart-Studie konnte sie angeblich zeigen, dass Menschen, die sich mehr mit ihren positiven als mit ihre negativen Emotionen beschäftigen, konzentrierter, leistungsfähiger und kreativer sind als andere.Dabei gehe es keineswegs darum, unerfreuliche Gefühle völlig auszublenden, sondern um das richtige Mischungsverhältnis: Ab einem Spielstand von 3:1 für die Guten fängt der Mensch laut Fredrickson nämlich zu blühen an. Bei einem Verhältnis von 1:1 kann man hingegen von einem depressiven Zustand sprechen.Portfolio der guten GefühleAber wie dominiert man den Gegner FC Schlechte Laune 09 so, dass man jedes Gegentor mit drei eigenen Treffern beantworten kann? Den Sturm verstärken, ohne die Defensive zu vernachlässigen! Aber bräuchte man da nicht mindestens noch einen zwölften Mann auf dem Platz oder wenigstens einen Schiedsrichter (das Schicksal), der einem gewogen ist? Auf Gott würde ich mich mal nicht verlassen – der guckt, wenn überhaupt, bestimmt nur Champions League.Das alles denke ich einwendungshalber, während ich weiterlese. Doch es scheint da noch diverse Tricks zu geben. Man kann sich zum Beispiel so genannte „Erinnerungsmappen“ zusammenstellen, mit Dingen, die einen an glückliche Momente erinnern, und sich so ein „Fotoalbum des Glücks“ basteln, auf das man bei Bedarf zurückgreifen kann. Oder man notiert einfach am Abend fünf Ereignisse, die an diesem Tag besonders schön waren – wofür die englische Sprache den hübschen Ausdruck count your blessings geprägt hat. Das soll man aber nur einmal in der Woche machen. Erhöht man nämlich die Frequenz, „verringert sich der positive Effekt“. Aha. Probieren wir es doch einfach mal aus.Danke, IKEA!Also, erstens... ich überlege und bringe meine Beine... autsch! wieder in Stufenlagerung... bin ich total froh, dass IKEA diese großen roten Filzwürfel im Programm hat, eine prima Alternative zu den ewig wegrollenden Medizinbällen. Zweitens... ist eigentlich erstens, denn bei erstens habe ich noch geübt – also, Punkt eins, der größte Segen ist mein Sohn. Wie er mich heute wieder angelächelt hat, mit seiner unnachahmlichen Mischung aus Nachsicht und Erstaunen. „Also, Papa, in diesem Zustand kannst du mich aber nicht tragen...“ – „Kann ich auch nicht. Ich kann mir ja nicht mal selber die Socken anziehen.“Zweitens... Zweitens. Habe ich in seitlicher Liegeposition einen kleinen Text geschrieben, den ich meiner Redaktion versprochen hatte. Drittens... äh... ja, was denn. Ach ja, ich habe mich sehr über die Anrufe meiner Freunde M. und H. gefreut, die sich mehrmals nach meinem Befinden erkundet haben. Ganz reizend. Der Kollege P. hat auch angerufen. (Die anderen denken wahrscheinlich, ich simuliere...) Viertens bin ich bei schönem Wetter spazieren gegangen, Na ja: geschlichen würde es besser treffen. Und fünftens... kann man ja heutzutage froh sein, wenn man einen halbwegs anständigen Job hat und seine Miete bezahlen kann. Also zähle ich auch das zu meinen blessings. Fertig! Und nun?Besser gelaunt bin ich schon. Aber der Rücken tut immer noch weh. Und ich frage mich, was macht jemand, der – rein vom Verhältnis her – fünfmal mehr Dinge erlebt, die es bringen, als Dinge, die es nicht so bringen – bei dem aber das eine blöde Ding so gravierend ist, dass es das ganze Leben bestimmt? Muss der sich einfach glücklich rechnen? Und was heißt das alles für das therapeutische Handeln? Gilt es nicht, konkrete Konflikte zu bearbeiten? Wenn man immer nur das Gute sieht, macht einen das vielleicht zufriedener, bringt einen aber vielleicht auch nicht weiter. Wenn wir als Menschen immer mit dem zufrieden gewesen wären, was wir haben, säßen wir heute noch auf den Bäumen – hätten dann aber vermutlich auch weniger Rückenprobleme.PS. Dass mir dieser Text so gut geglückt ist, macht mich so richtig happy. Leider darf ich mir das aber erst nächste Woche vorsagen.
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