Stummes Zelluloid

IM KINO Von Bonn bis Berlin: Renaissance für Dr. Caligari

Sind die Mäuse echt, Mama?" schreit eine Kinderstimme aus den hinteren Reihen. Einige, die sich umdrehen, bemerken im Abendlicht einen blondgelockten Fratz, der gerade mal so zwischen den Sitzreihen emporragt und gebannt auf die Leinwand starrt. Der Ekel auf ihrem Gesicht über die vielen Nagetiere, die aus einem Hut herausspringen, wechselt im nächsten Moment zu einem Lacher, als sie den Anmarsch von uniformierten Männern erblickt, die ungekonnt mit viel zu großen Musikinstrumenten hantieren. Sie weiß noch nicht, dass man das Gezeigte als eine slapstickartige Militärparodie bezeichnen würde und auch nicht, dass sie die komplett neu restaurierten Fassung des Meisterwerks "Die Bergkatze" von Ernst Lubitsch vor Augen hat. Für sie gehört es schon fast zur Familientradition im Sommer mit Mama und Papa unter freiem Himmel schwarzweiße Bildwelten ohne Ton zu genießen. Sie teilt diese cineastische Gewohnheit mit tausend anderen Menschen, die alljährlich zu den Bonner Stummfilmtagen strömen. Was vor 15 Jahren als Studentenidee begann, ist heute zu einem international anerkannten Festival avanciert. Die stumme Ära des Films wird hier aus dem Dunstkreis miefiger Kinosäle mit verstaubten Intellektuellen herausgeholt und vor einem interessierten, aber nicht immer cineastisch versierten Publikum gezeigt. Die mitgebrachten Picknickkörbe und Kinderwagen zeugen von dem Jahrmarktcharakter der ersten Kinos und lassen Assoziationen wach werden, von Schattenspielen in Varieté-Zelten und Seancen mit der Laterna magica.

"Die Intellektuellen um 1900 lehnten ursprünglich den Film als künstlerisches Ausdrucksmittel ab und zählte sie nicht zu den ›Hohen Künsten‹ wie etwa die Musik", sagt Joachim Bärenz. Er ist Deutschlands dienstältester Stummfilmpianist und begleitet schon seit Jahren die visuellen Kostbarkeiten in Bonn. Die Vielfältigkeit der gezeigten Filme reicht von populären Stummfilmklassikern bis zu avantgardistischen Experimenten und stellt selbst für ihn eine Herausforderung dar. Wenn er Murnaus Nosferatu mit Sätzen aus der Symphonie des Grauens von Bach kontrapunktiert oder mit einer frei improvisierten Klangcollage die zeitlose Aktualität von Fritz Langs Metropolis hervorhebt, so verdeutlicht das auch die traditionelle Variabilität der akustischen Dimension von Stummfilmen. Ursprünglich wurden nur zu großen Werken feste Kompositionen vorbereitet, die bei der Erstaufführung von einem Orchester umgesetzt wurden. Kamen die Filme in kleinere Kinos, schrumpfte das Orchester bis zum Pianistin, der aus Geldnot und Notenmangel eine Tugend machte und zu improvisieren begann. Experimentierfreudige Anhänger des Stummfilms versuchten sogar ihre Sehnsucht nach sprechenden Bildern durch aufgestellte Schallplattenspieler mit mehr oder minder synchron aufgenommenen Arien zu stillen. Erst der Tondurchbruch 1930 sollte diesen phantasiereichen Versuchen ein Ende bereiten und den gesteigerten Wirklichkeitshunger befriedigen. Die Bilder begannen zu sprechen und ihre einstigen Götter aus Fleisch und Blut zu verdrängen. Große Stummfilmdiven wurden wegen ihrer Piepsstimme arbeitslos und international gefeierte Stars wie Emil Jannings aufgrund ihrer fehlenden Fremdsprachenkenntnisse nur noch bedingt einsetzbar. Die Universalität des Bildes mußte den Grenzen der Sprache weichen.

Allmählich ist der Hunger nach Realitätssteigerung getilgt und die Rückbesinnung auf scheinbare Wirklichkeiten gefragt. Man hat erkannt, dass Bilder zwar lügen, doch mit Sprache nicht unbedingt wirklicher werden. "Silence sales" lautet das Motto der neuen Chill-Out-Generation. Von Berlin bis Oberhausen sprießen Stummfilmfestivals aus dem Boden, die den lärmgeplagten Menschen eine stille Filmoase versprechen. "Heutzutage läßt man sogar die Tonspur von Filmen weg, um die verblichene Eleganz der schwarzweißen Illusionen heraufzubeschwören." erklärt Stefan Drößler, Leiter des Filmmuseums München und Mitorganisator der Bonner Stummfilmtage. Sein Unbehagen über die Reduktion der alten Klassiker zu Nostalgiespendern ist unüberhörbar. Die Renaissance der Stummfilmästhetik artikuliert möglicherweise mehr als eine Sehnsucht nach vergangenen Kinozeiten - vielleicht die unbewußte Abneigung gegenüber der eisigen Brillanz der Leinwandeffekte im Dolby-Suround-Klang. Farblose Meisterwerke, die schweigen als die letzte Bastion gegen die reizüberflutete Welt der 3-D-Visions und Lasershows.

Internationale Stummfilmtage Bonn. Bis zum 20. August. Innenhof der Universität Bonn.

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