Schmutziger Sieg

Türkei Der Ausgang des Referendums hat die türkische Demokratie erheblich geschwächt. Jetzt ist es wichtig, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht sofort abzubrechen
Jede Forderung nach sofortigem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen ist unfair gegenüber denjenigen, die mit nein gestimmt haben
Jede Forderung nach sofortigem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen ist unfair gegenüber denjenigen, die mit nein gestimmt haben

BULENT KILIC/AFP/Getty Images

Rein rechnerisch hat Recep Tayyip Erdogan sein Ziel erreicht. Mit einer hauchdünnen Mehrheit hat das türkische Wahlvolk die Verfassungsänderungen abgesegnet, die ihn in zwei Jahren zum mächtigsten Staatschef der Türkei seit Mustafa Kemal Atatürk machen werden. Der Gründer der Republik hatte aus dem Schutthaufen des Osmanischen Imperiums und des Ersten Weltkriegs einen für damalige Verhältnisse modernen Staat gegen übermächtige Besatzungsmächte erkämpft.

Was Erdogan erreicht hat, ist ein schmutziger Sieg wie beim Fußball mit einer entnervend destruktiven Taktik. Doch beim Sport spricht später kaum noch jemand darüber, wie die Punkte gesammelt worden sind, um dem Abstieg zu entgehen. In der Türkei aber ist zu befürchten, dass Erdogan mit diesem Volksentscheid die Isolation seines Landes und eine wirtschaftliche Talfahrt riskiert. Zudem droht der innere Frieden ab jetzt an einem noch dünneren seidenen Faden zu hängen.

Die Gewinner des Referendums und die Gegner einer Umwandlung der Türkei in eine Präsidialrepublik sind auf dem Papier quantitativ gleich stark. Doch die Pattsituation täuscht darüber hinweg, dass eine Seite mit dem Rückenwind der Macht marschieren wird, die Verlierer aber Berge versetzen müssen, um der Demokratie den mühsamer gewordenen Weg nach vorne ebnen zu können. Erdogan hat schon längst seinen Schafspelz abgelegt und bedroht den Fortbestand moderner Errungenschaften unter dem türkischen Halbmond. In der Europäischen Union wäre dann endgültig kein Platz mehr für die Türkei. In politischen, wirtschaftlichen und auch militärischen Bündnissen wackelt der Stuhl des NATO-Staates bedrohlich.

Viele Fragen bleiben offen

Warum? Warum hat Erdogan nach den ersten beiden Legislaturperioden, in denen er zwischen 2002 und 2011 mit Reformen Befürworter ebenso wie Gegner des Aufstiegs seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) positiv überraschte, seine friedliche Politik nicht fortgesetzt? Hat der internationale Erfolg ihn derart aus dem Gleichgewicht gebracht, dass er jede Bodenhaftung verloren hat? Hätte er nicht mit einer Fortsetzung der damals vielversprechenden Friedenspolitik – der Aussöhnung mit den Kurden – gar eine realistische Nominierung für den Friedensnobelpreis verdient? Warum hat er nicht auf die Überwindung der ethnischen und religiösen Spaltungen in der türkischen Gesellschaft gesetzt und sich stattdessen für mehr Härte beispielsweise in den Kurdengebieten entschieden?

Inzwischen ist die Tatsache offenkundig, dass Erdogan den Prozess des Beitritts zur EU nie ernsthaft fortsetzen wollte, was er aber hervorragend kaschiert hat. Denn die EU-Mitgliedschaft hätte, verbunden mit der Abtretung der Souveränitätsrechte an Brüssel, seine Kreise empfindlich gestört. Von seinem Ziehvater Necmettin Erbakan, vor 20 Jahren erster islamistischer Ministerpräsident der Türkei, ist bekannt, dass er sein Land „als Führungsland in der islamischen Weltgemeinde und nicht als Schlusslicht in Europa“ sehen wollte. Die Türkei als Modell für die Fähigkeit zur Koexistenz von Demokratie und Islam war den streng Gläubigen im Lande ohnehin stets ein Dorn im Auge.

Mitschuld an dem Scherbenhaufen haben aber auch die Kemalisten, die das Reformwerk des Republikgründers stets als Dogma verstanden haben. Sie wollten dabei nicht wahrhaben, dass das Land die nationalistischen Ketten der Vergangenheit sprengen muss. Es gibt in Europa viele Beispiele dafür, dass der fanatische Nationalismus stets ins Verderben geführt hat. Beispiele dafür – allen voran das Nazi-Deutschland – gibt es wahrlich genug auf dem europäischen Kontinent. Dennoch verbreitet sich der Nationalismus nicht nur in Europa wie ein Krebsgeschwür weiter. Es ist ein Phänomen, das sich von der ungerechten Verteilung des Wohlstands begleitet von Korruption und der Machtgier narzisstischen Staats- und Regierungschefs nährt.

Es geht um die Demokratie am Bosporus

Der Selbsterhaltungstrieb der Demokratie in der Türkei ist seit vergangenen Sonntag erheblich geschwächt, aber noch nicht am bitteren Ende. Auch das voraussichtlich nächste Referendum über die Wiedereinführung der 2004 unter internationalem Beifall von Erdogan abgeschafften Todesstrafe dürfte der türkische Herrscher gewinnen. Doch spätestens bei der Frage, ob die Türkei den Beitrittsprozess von sich aus aufgeben soll, wird es eine letzte Chance für den Verbleib auf einem europäischen Weg geben. Deshalb ist jede Forderung nach sofortigem Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei unfair gegenüber denjenigen, die am Sonntag mit fast 50 Prozent gegen Erdogans Willen gestimmt haben. Sie ihrem Schicksal zu überlassen, würde Europa um die letzte Möglichkeit des Rechts auf Mitsprache in der Türkei bringen. Damit würde auch die Hoffnung auf das Überleben der Demokratie am Bosporus begraben.

Unbedingt notwendig ist nicht zuletzt eine neue Oppositionsstruktur. Vor allem die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) braucht charismatische Politiker, nachdem Kemal Kilicdaroglu auf der ganzen Linie versagt hat. Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist nach der Unterstützung Erdogans beim Referendum als Oppositionspartei nicht mehr ernst zu nehmen. Die einzige glaubwürdige Oppositionspartei hätte die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) bleiben können. Doch ihre Vorsitzenden und viele ihrer Abgeordneten sind im Gefängnis. Für Türken ist sie deshalb – anders als noch vor zwei Jahren – keine Alternative mehr, weil sie sich nicht überzeugend von der als Terrororganisation eingestuften PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) distanziert hat.

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