Da war was, 1968. Barrikaden und so. Geschossen wurde auch. Es war die Zeit der Nikihemden, in Prag, auch im Chodenland, im nordöstlichen Böhmen. Denn im Sozialismus arbeitete man an der Überwindung des Gegensatzes von Stadt und Land. Da war die Mode in der Metropole nicht viel besser als an abgelegenen Misthaufen. Die Jugend trug Nikihemden. Und das Volk soff. Inklusive Kommunisten. Die Tschechoslowakei produzierte Unmengen an Bier, exportierte kaum welches. Bei den Verhältnissen brauchte man es selbst: Vom Parteibonzen bis zum Bauern an der tschechisch-polnischen Grenze. Vorwärts zum Vollrausch. Denn die Panzer waren nicht nur in Prag. Geschossen wurde auch in Zásmuky.
Eine 68er-Geschichte hat Jáchym Topol in Nachtarbeit vorgelegt. Aber eine andere. Von der ersten Zeile weg merkt man, wie exklusiv diese Westler-Geschichten meist sind. Hier in Prag konnten sie davon nur träumen. Die Vereinigten Staaten? Ein bisschen Westmusik hören, Traummusik. Aber der tschechische Erzähler ist da gnadenlos. Der Sohn eines Chartisten und Undergroundler, drängt sich ganz nah ans gemeine Volk. Als Reporter hat er einiges gelernt. Und den Leuten auf die Schnauze schauen, das kann er, das bewies er schon in bisherigen Büchern. In Die Schwester und Engel exit. Mit diesem speziellen Topol-Sound. Der klingt aber jenseits des blöden sozialistischen Realismus. Hier gibt es keine hammerschwingenden Helden. Dafür träumen auch die Jämmerlichsten.
So sieht die Szenerie denn auch aus: Es gibt einen Vater, der mal eine Weiße-Kragen-Arbeit gemacht hat. Dann nicht mehr, ab in die Fabrik und Wohnen in der Arbeitervorstadt. Lernen vom Proletariat, der Avantgarde der Menschheit. War da was? Die Arbeiter nahmen´s nicht ganz so ernst, finden diesen Vater recht witzig. Der hat unruhige Hände. Biegt Draht aus dem Lager. Schnippelt Hölzer, bastelt im Gasthaus Schwupps, eine Wassermühle. Die stellt er in die Wasserrinne des Pissoirs. Das ist witzig. Windmühlen baut er auch. Das begeistert Genossen. Der Vater ist ein Erfinder. Er erfindet ein Wetterprognosesystem. Das lässt er patentieren. Da wird die Partei aufmerksam auf ihn. Der Vater: ein verdienter Proletarier? Im Dorf, aus dem er stammt, stellt er Maschinchen auf. Zum Messen der Luftfeuchtigkeit, ein Flächenversuch.
Der wunderbare Vater. Der nie da ist. Das ganze Buch über nicht. Nie bei seiner Frau. Die Frau, die zwei Buben aufzieht, den Ondra und den Kamil. Die Wohnung ist ein Flaschenlager. Den Kleinen putzt sie manchmal als Mädchen heraus, in memoriam. Denn da gab´s mal eine Eluzína. Ihre Tochter? Gestorben? Über die erfährt man lange nichts Genaues. Als man von ihr erfährt, erfährt man erst recht nichts Genaues, nur Legenden. Weil in diesem verfehlten 20. Jahrhundert eine grausame Geschichte die andere überdeckt. Da weiß man gar nicht mehr, was wahr und was wirklich ist. War sie ein Judenkind, auf dem Transport von Deutschland nach Polen aus dem Waggonboden herausgeschmuggelt? Oder die Tochter des vor den Deutschen Versteckten und der Wahrsagerin? Ein Zigeunerkind? Wie auch immer. Wenn Mutter betrunken ist, spielt sie mit Kamil Eluzína. Dem Ondra, der ist 13, gefällt das nicht. Der kapiert noch nicht, dass man sich in diesem Leben oft verkleiden muss, dass Tarnen und Täuschen das halbe Leben ist, dass auch die Neuen Menschen dieses Spiel mit großer Leidenschaft betreiben. Als Mutter wieder mal haubitzenvoll ist, rächt er sich, zieht sie mit Vaters Kleidern an, malt einen Schnurrbart auf, schockt den Kleinen. Er kapiert nicht und spielt doch schon mit.
Ondra ist der Häuptling des Buches. Ondra und das Dorf im Chodenland an der polnischen Grenze. Ein Dorf, das dem Sozialismus nicht mal die Zunge zeigt. Dort ist alles, wie es immer war, wenn es jemals so war. Viel Wald, dort leben sonderbare Gestalten, die Límans, die Berkas, die Skalskys, die Zimas; das Gesetz, egal welches, ist meist weitab. Die Beziehungen unter den Menschen gestalten sich ohnehin nicht nach Gesetzbüchern. Die passieren einfach. Hier wird geweidet und gewildert. Es gab kein Privateigentum im Sozialismus? Da schütteln die Zásmukyer verständnislos die Köpfe.
Ondra verliebt sich in Zuza, die Wirtenstochter. Geschlechtsverkehr auf Seite 24. Man möchte ihm ein bisschen was Schönes wünschen. Er hat kein leichtes Leben, die Mutter in der Trinker- oder Nervenheilanstalt, der kleine Bruder durch einen Autounfall verunstaltet, er muss auf ihn aufpassen, möchte gern in den Ferien herumstreifen, aber diese Ferien sind verteufelt, die Panzergeschichte in Prag, etwas liegt in der Luft, etwas, das sich mit der fürchterlichen Landenge mischt. Dabei ist die Landenge nicht nur Landenge. Das sind auch schöne wilde Geschichten. Wie die Kerle vom Dorf und der Prager aufeinander zugehen, sich befetzen, sich beäugen, Misstrauen, Verachtung, Mutproben, Landeier, Bauernschläue, urbane Überlegenheit.
Das Dorf liegt wohl auf einer Erdbebenlinie. Das wackelt gewaltig. Es gibt wohl nichts zu retten. Erst recht nicht, wenn auch hier die Panzer auftauchen. Wenn ein Kirgise oder Tatare fragt, wo es denn nach Prag geht. Sollen sie ihm sagen, dass im Berg Blahos der sagenhafte Tatarenschatz liegt? Die Ruskis verteilen Pralinen. Abends beschießen sie brüderlich das Gasthaus. Ein Unwetter kommt auf, nachdem die Prager Geheimen, die verdammten Bullen haben die meisten Maschinchen zum Wettermessen entfernen lassen. Ein gewaltiges Unwetter, da kippt ein Baum auf ein Haus, der Fluss tritt übers Ufer, die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Trotz seiner spartanischen Sprache schiebt Topol ganz enorme Bilder heraus. Man ist mittendrin. Man zittert mit den Jungs, wenn sie mit Schleudern Schraubenmuttern auf die Bullen schießen. Ja, die Freiheit.
Topol ist in Nachtarbeit etwas Besonderes gelungen. An Hand eines hinterwäldlerischen Dorfes gelingt ihm zu zeigen, wie die Tschechoslowakei zersprungen ist. Erst einmal das: wie porös menschliche Gesellschaften sowieso sind, wie fragil sie als zivile Einheiten sind. Wie das in einem Land der Fall ist, das mit seinen ungelösten kakanischen Altlasten dastand, als ihm Hitler ins Genick sprang. Dann die fürchterliche Rache. Das sich gar nicht richtig erholen konnte, als ihm Stalin ins Genick sprang. Temno, Fremdherrschaft seit 1619. Dann zarte 20 Jahre in Freiheit, dann das. Prager Frühling, ein bisschen Luftholen, peng, die Panzer. Es rettet uns kein höh´res Wesen. Nie. Topol weiß das. In einer Apokalypse-ähnlichen Szene lässt er zwar den Vater erscheinen, aber das Wetter bleibt katastrophal. Wenn in der chodischen Bunkerlandschaft Sprünge und Risse kreuz und quer verlaufen, muss man immer nach zehn Gründen suchen. Dabei ist es bloß eine Gegend, wo noch Fledermäuse herumfliegen, große Haufen Taubenscheiße, auf den Heuböden riesige Spinnennetze voll mit Ruß und Spänen.
Es ist ein ungemein spannendes Buch, Topol vermeidet nahezu jegliche Ideologisierung, bleibt eng bei den Menschen. Natürlich klingen tschechische Themen an, Skvoreckys Feiglinge lassen ebenso grüßen wie manche Hrabaleske im Stil. War ja auch ein Vorbild. Mit den Erzählnormen nimmt er es nicht sonderlich streng, da lässt er schon mal den auktorialen lieben Gott aufblitzen; vor allem lotet er durch wechselnde Erzählperspektiven Innenräume aus. Für action ist reichlich gesorgt, manchmal ist die Überblendtechnik vielleicht etwas schematisch, Kleinigkeiten. Kein Zweifel, Topol erzählt eine ganz große Geschichte aus einer ganz kleinen Gegend. Im Brennglas dieser Welt schreibt er Weltliteratur.
Jáchym Topol: Nachtarbeit. Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová und Beate Smandek, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, 320 S., 22,90 EUR
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