Allzu laute Einsamkeit

Fäkalsprache Bisher unveröffentlichtes Quellenmaterial stellt Forschungen über Prager Frühling auf ein neues Fundament. Der Ostblock verpasst die Chance auf eine Reform des Sozialismus

Prag wimmelt und pulst, eine Metropole, hektisch, laut, überlaufen, Bausünden und eine mehr dem Glamour als der Geschichte geschuldete Altstadtrestaurierung. Allerdings wären bei Fortdauer des sozialistischen Systems die historischen Bauten allmählich zerbröselt. Die tiefe Wirtschaftskrise, die Jiri Kosta schon 1981 für die CSSR und die Comecon-Staaten analysierte, wirkte sich auch dahingehend aus, dass immer mehr Gebäude eingerüstet werden mussten. Renovierungen wurden vor der Wende kaum noch durchgeführt - symbolhaft für die Reformtätigkeit der systemkonservativen Eliten. Die letzte Chance einer Reform des Sozialismus wurde mit dem Prager Frühling 1968, vor 40 Jahren, vergeben. Eine Mehrheit in der tschechoslowakischen KP wollte einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Dagegen halfen die anderen Warschauer Pakt-Staaten brüderlich. Ein verabredeter "Hilferuf" subalterner Parteifunktionäre war der Vorwand für die Invasion so genannter "Bruderstaaten" am späten Abend des 20. August 1968.

Seit 2006 ist das Archiv des ZK der KPdSU freigegeben für wissenschaftliche Erforschung. Im Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung Graz-Wien-Klagenfurt hat sich eine Gruppe von Wissenschaftlern gebildet, die ein umfangreiches Netzwerk zur Bearbeitung der in den meisten Fällen geheimen Dokumente errichtet hat. Erstes und gewichtiges Resultat ist ein zweibändiges, rund 2.800 Seiten starkes Werk mit Themenbeiträgen und vor allem mit übersetzten Dokumenten, vielfach bislang unveröffentlicht. So existiert nun für eine Reihe wichtiger Fragen eine gesicherte Quellenlage.

Streitpunkte der Vergangenheit lassen sich nun weitaus besser abklären, etwa der von den Ostblockführern immer wieder erhobene Vorwurf der "äußeren Bedrohung" durch die Bundesrepublik oder die Nato. Klar ist dokumentiert, dass Breschnew und Co. seit Ende März 1968 sicher sein konnten, dass eine "militärische Lösung" keine entsprechende Reaktion im Westen hervorrufen würde. Zu sehr waren die USA in einem ähnlichen Konflikt verwickelt. Deutlich werden auch die anfänglichen Meinungsdifferenzen bei den Ostblockführern. Einpeitscher der militärischen Vorgangsweise waren der bulgarische Parteichef Todor Živkov und SED-Chef Walter Ulbricht, während die sowjetische Führung noch zögerte. Bekannt wird dies durch ein geheimes Treffen in Dresden, auf dem Leonid Breschnew dezidiert nur eine mündliche Aussprache möchte und kein Protokoll, die DDR-Genossen jedoch - wo bleibt da die Parteidisziplin? - heimlich mitschreiben. Dadurch wird ihre Militanz der Nachwelt überliefert. Das sowjetische Politbüro zieht die militärische "Lösung" des Linienkampfes erst nach Dresden in Betracht.

Schon Zdenek Mlynar hat auf die rüde Behandlung des tschechischen Delegationsteilnehmers František Kriegel bei den Verhandlungen an der slowakisch-ukrainischen Grenze im Juli seitens einiger Sowjetführer hingewiesen. Das taucht auch hier wieder auf. In Geheimdossiers wird der Jude Kriegel ausführlich geschildert. Wiederholt wird der Vorwurf der "zionistischen Kreise" ventiliert, auch als Synomym für westliches Kapital. An anderer Stelle empört man sich über den Vorwurf des "Antisemitismus". Hier liegt noch ein Forschungsfeld brach, ein offenes Kapitel ist nicht nur der Umgang der östlichen kommunistischen Parteien mit dem Holocaust, sondern überhaupt ihre Haltung zum Judentum.

Was insgesamt an den geheimen Dokumenten auffällt, ist der völlige Mangel an Rechtsdenken. In dem ihnen eigenen Fossilstil machen sich die Parteifunktionäre allerlei Sorgen über die Vernachlässigung der ideologischen Festigkeit, gelegentlich ist von "Entartung" die Rede. Keine Sorge bereitet ihnen der Gedanke der Verletzung der Souveränität der CSSR, also des Völkerrechts. Die Genossen sind völlig durchdrungen von ihrer Mission der "Rettung" der Tschechoslowakei im Kampf gegen den Imperialismus. "Brüder" sind nur jene, die auf Linie sind. Jene Kommunisten in der CSSR, die eine andere Meinung haben, die Reformversuche machen, sind Verräter und Volksfeinde. Da wird nicht argumentiert oder über die Argumente der anderen nachgedacht. Die Partei, und zwar die sowjetische, hat immer Recht. Punktum. Marx würde rotieren vor Zorn über den sowjetischen Botschafter in Prag, der offensichtlich Ludvík Vaculíks Manifest der 2000 Worte intellektuell nicht gewachsen war und sich blind über die (nicht vorhandene) "Fäkalsprache" empört. In den 2000 Worten war eben auch vom Völkerrecht die Rede, für den Sowjetkommunisten war das wohl Fäkalsprache.

An den Beiträgen, die bereits die Quellen einarbeiten, fallen dreierlei Versuche auf. Einige Autoren nehmen Einschätzungen der internationalen Lage vor, in der die Invasion der Warschauer Pakt-Staaten eingebettet war. Das wird insofern eine spannende Lektüre, wenn man damalige Dokumente gegenliest, die auch des Öfteren dergleichen analytische Betrachtungen enthalten. Man kann daraus viel lernen. Wie oft lagen die Politbüros - das ist kein Hieb auf Tote - scharf daneben. Denn man lernt etwas ganz Allgemeines daraus, nämlich auf welchen voluntaristischen Boden aktuelle Einschätzungen - man muss fast sagen: in der Regel - stehen. Für die einen wie für die Anderen, die Dritten und Alle. Die heutigen Beiträge aus sicherer Distanz korrigieren Vieles. Was behauptet man nicht alles mit dem Brustton der Überzeugung - Meinungsmacht und Wahrheit können zwei sehr widerstrebende Dinge sein.

Der zweite Punkt besteht im Versuch einer Einschätzung der einzelnen sozialistischen Länder unter Einbeziehung von Rumänien und Jugoslawien. Dadurch erst erhält man ein nicht-monolithisches Bild, ein Bild der Unterschiede. Die sich dann in Differenzen vertiefen, denn während der heftigen Diskussionen im ZK der KP Rumäniens fällt mehrfach der Vorwurf des Faschismus, im ZK des Bund der Kommunisten Jugoslawiens wird auf Völkerrecht und Souveränität der Staaten gepocht. Die Invasion in die CSSR wird auch ein Grund sein, in die zukünftige Föderalverfassung die Republiken - und nicht die Völker - als ein wesentliches Verfassungssubjekt aufzunehmen. Tito favorisierte das tschechische Modell, in dem er eine Affinität zum jugoslawischen Selbstverwaltungs-Sozialismus erblickte.

Der dritte Punkt schließlich betrifft die inneren Vorgänge in der Tschechoslowakei in Korrespondenz zu den Entscheidungen des Kreml. Dank der Dokumentenlage lassen sich fünf Phasen zwischen Januar und August 1968 skizzieren:

Die Phase der Wahrnehmung. Sie beginnt mit dem Januarplenum der KPC (der Aufsehen erregenden Absetzung Novotny´s) und endet mit der Konferenz in Dresden am 23. März, auf der die KP-Führungen an Prag Forderungen nach politischer Restauration stellen.

Die Phase des politischen und militärischen Drucks von Ende März bis Ende Juni. In dieser Zeit wird der Ton vor allem von Ulbricht, Živkov und ihren Parteigenossen verschärft, genaue Beobachtungen über die "rechte Gruppe" ("Juden, Mitgliedern des Präsidiums und des Sekretariats sowie auch aus Nichtmitgliedern des ZK") angestellt, nach Moskau-treuen Funktionären geforscht.

Die Phase des Manifest der 2000 Worte, das die Sowjetführung in Aufruhr versetzte. Es ist im Dokumententeil abgedruckt und zeigt gut, dass es um einen "Kampf zweier Linien" ging: Dogma gegen Reform. Ihr Verfasser, der Schriftsteller Ludvík Vaculík, wollte einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Die Phase dauerte bis Mitte Juli mit Dauerdruck auf die Reformer. Mitte Juli fielen in Warschau die Würfel zur Invasion, als die "Warschauer Fünf" Dubcek ein Ultimatum setzten.

Die vierte Phase ab dem 17. Juli, als das Politbüro der KPdSU über die militärische Aktion und die politische Vorbereitung des "bürokratischen Putsches" in Prag entschied, mit den Verhandlungs-Intermezzi im Eisenbahnwagon in Cierna nad Tisou und in Bratislava, bis zum Abend des 20. August, als kurz vor 22 Uhr sowjetische Luftlandetruppen den Flughafen von Prag besetzen.

Die fünfte Phase der so genannten Normalisierung, die bis 1970 dauert, in der die Reformer abgesetzt und viele von ihnen eingesperrt werden. Zigtausende von Posten in den Medien, Universitäten und strategisch wichtigen Bereichen werden "gesäubert", namhafte Intellektuelle werden Straßenkehrer oder, wie der unvergessliche Dichter Bohumil Hrabal, Aktenverbrenner, beschrieben in seiner Parabel Allzu laute Einsamkeit.


Die Publikationen auf dieses Ereignis sind Legion. Mit einem Abschnitt über das Echo des Prager Frühlings in den Sowjetrepubliken enthält der erste Band eher selten dokumentierte Resonanzen. Bemerkenswert ist der exklusive Umgang mit des Historikers Vilém Precans so genanntem Schwarzbuch Sieben Prager Tage, einer Sammlung von Publikationen des Widerstands aus den ersten Tagen nach dem Einmarsch. Darüber lässt das Moskauer Politbüro eine Suada ab ("antisowjetische Fälschungen") und beschwert sich bitter, als "Diktatur" und "Barbarei" bezeichnet zu werden. Das Schwarzbuch hat der Besatzungsmacht wehgetan, weil es ganz offiziell von der Akademie der Wissenschaften publiziert und öffentlich verbreitet wurde. Vaculík und Precan stehen für den Mut der Intellektuellen und für das Niveau der Debatte, deren Stellenwert den kommunistischen Verantwortlichen völlig entgangen ist. Sie haben ihre Chance der Systemreform so gründlich verpasst, dass knapp zwanzig Jahre später die Geschichte ein unbarmherziges Urteil über sie gefällt hat. Denn der "Prager Frühling" war, bei aller aktiven Teilnahme verschiedener Kreise der Gesellschaft, im Kern eine innerparteiliche Auseinandersetzung, in der die Unfähigkeit der sozialistischen Machthaber zu Veränderung und Modernisierung zum Tragen kam. Denkbar ist, dass eine Reform zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch einen "Dritten Weg" hätte eröffnen können. So aber folgte zwangsläufig aufgrund der eigenen Verkrustungen bald der Kollaps eines Systems, das, wie die Dokumente eindringlich erkennen lassen, von innen heraus erstarrt ist.

Stefan Karner, Natalja Tomilina, Alexander Tschubarjan, Günter Bischof, Viktor Išcenko, Michail Prozumenšcikov, Peter Ruggenthaler, Oldrich Tuma und Manfred Wilke (Hg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. 1. Band Beiträge, 2. Band Dokumente. Böhlau, Köln, Weimar, Wien 2008, 1296 und 1592 S., je Band 49,90 EUR

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