Beiderseits von Schengen

Ausgeblendet In Martin Pollacks "Sarmatische Landschaften" meldet sich ein anderes Europa zu Wort

Schon der Titel lässt aufhorchen, denn geopolitisch oder morphologisch lassen sich in keinem Atlas "Sarmatische Landschaften" finden, obwohl sie hier mit Bezeichnungen aus der politischen Geografie verbunden werden, nämlich Staaten diesseits und jenseits der Schengener Grenze der Europäischen Union. Martin Pollack verweist in dem Vorwort zu seinem Buch auf den Dichter Johannes Bobrowski, der aus dem Memelland stammt, ein Zugangstor dieser Regionen, und der "Sarmatien" als historische Landschaft und Raum der Erinnerung in seine Werke geholt hat: "Unter Sarmatien verstehe ich nach Ptolemäus das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee. Zwischen der Weichsel und der Linie Don - Mittlere Wolga. Ein Gebiet, aus dem ich stamme und in dem ich herumgekommen bin."

Verlorenes Arkadien der Kindheit, Schattenland der Vergangenheit, hier lauschte der Knabe dem Pirol - doch Pollacks Anthologie versammelt nicht die Spinnwebenbärte nachklagender Melancholie. Hier rühren nicht alte Herren zum x-ten Mal mit greisen Fingern die Trommel einer überholten Mitteleuropa-Debatte. Darauf macht Juri Andruchowytsch in seinem Eingangsessay aufmerksam, der nach Europas Grenzen gefragt, sich skeptisch gegenüber Parolen wie "Europa von Lissabon bis Wladiwostok!" äußert; andererseits ein neues "Dazwischen" vermerkt, ein Weiterziehen Ostmitteleuropas seit dem 1. Mai 2004, dem Beitritt des einen Teils von Ostmitteleuropa in die Europäische Union.

Damit wird gleich klar: nur Nachrichten, absichtslos hingeworfen, sind diese pezzi misti - Kurzerzählung, historischer Essay, Feuilleton - von 23 AutorInnen der Region und aus Deutschland auch nicht. Es geht mindestens gegen ein Vorurteil, das der Rückständigkeit, Unterlegenheit des Ostens. Vielleicht blickt Westeuropa schon deshalb eher ungern in Richtung Polen oder Ukraine, weil es dort vieles von dem noch wirken sieht, was es bei sich selbst schon überwunden glaubt: das "Andere" als Spiegel des eigenen "Selbst". Der Pole Andrzej Stasiuk aus der Welt hinter Dukla (Freitag 13/2002) bringt es auf den Nenner: "Hier, in diesem Teil des Kontinents, hält die große Völkerwanderung immer noch an. Immer noch stellen wir uns vor, wir seien als erste an unseren Orten angekommen, vor uns sei hier keiner gewesen. Natürlich stimmt das nicht, also müssen wir lange, ausgefallene Stammbäume entwerfen."

Es geht aber in diesen Nachrichten vor allem um das Vergessen und die Vergesslichkeit; darum, dass hier großmächtige Willkür willkürliche Grenzen gezogen hat, und das seit Jahrhunderten. Im vielleicht wichtigsten Essay skizziert der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrytsak einen Raum, der im westlichen Denken, wenn überhaupt, nur am Rande vorkommt, als Marginalie deutscher und russischer/sowjetischer Geschichte sowie heute als Randzone der Europäischen Union, beiderseits der Schengener Grenze. Erst indem die Geschichte dieser Region als etwas Zusammenhängendes erzählt wird, mit ihren Zentren und Subjekten, erkennt man das ganz Eigene, die differentia spezifica zu den Nachbarn.

Die Sarmaten, ein freiheitsliebendes Reitervolk, sind im Dunst der Antike verschwunden. Erhalten blieb der Mythos des Sarmatentums, das in der polnisch-litauischen Adelsrepublik "mit Ideologie, Kultur und Lebensstil des polyethnischen (polnisch-ruthenisch-litauisch-jüdischen) altpolnischen Adels" in Verbindung gebracht wurde. In Alltagsdingen wie etwa der Kleidung drückte sich der Blick zum zivilisatorisch damals (noch) überlegenen Orient aus, aber auch die "historische Mission" Polens als Schutzmacht des christlichen Abendlandes fand in diesem Mythos Platz - in der Wirklichkeit bestätigt 1683, als der Polenkönig Jan Sobieski die osmanische Belagerung Wiens mit seinem Entsatzheer sprengte. Der Aufklärung bedeutete das Sarmatentum wie der Osten insgesamt ein Hort der Rückständigkeit, tatsächlich, so Hrytsak, habe sich die Adelsrepublik den neuen Ideen des Westens verschlossen. Allerdings wurde sie auch im 18. Jahrhundert von ihren nicht gerade aufgeklärten Feinden der Heiligen Allianz auf Trab gehalten: Hohenzollern, Habsburg und Romanow filetierten die Region, die weder deutsch noch russisch war, 1795 endgültig.

Nun wird es kompliziert, und daran arbeiten sich mehrere Autoren ab. Nun sedimentieren sich in diesem einst einheitlichen Kulturraum recht unterschiedliche Schichten. Es gibt eine Zwischenphase, in der die drei Imperien der Region unterschiedlich ihren Stempel aufdrücken. Habsburg ist anational, das Deutsche Reich kolonisiert teilweise und saugt billige polnische Arbeitskräfte ab, Russland russifiziert. Der Lemberger Publizist Jurko Prochasko geht den einzelnen Zivilisationsschichten in Galizien nach, ortet ihre Charakteristika, Neobarock, Wiener Klassizismus, Kaffeelöfferl, hartnäckig tradierte Redensarten, habsburgisch-kakanische Restspuren; mächtig lastend die darauf gepappte sowjetische Schicht. Das ist eines der großen Probleme, das bei vielen Autoren wiederkehrt. Valer Bulhakau, Chefredakteur der Arche, einer unabhängigen Zeitschrift für Literatur, Kultur und Philosophie in Minsk, fragt: "Warum ist Belarus nicht Österreich, sondern ein eurasischer Satrapenstaat?" Er behandelt das verwirrende Problem der -Sprachigkeit in Belarus als Ausfluss einer Russifizierungs- und Sowjetisierungspolitik, die er als "koloniales Projekt" bezeichnet. In Das Porträt meines Vaters entwirft Siarhiej Dubaviec aus Mazyr (Belarus), den sowjetischen Funktionärstyp, der die Sowjetkolonisierung bewerkstelligte, als Menschen, die ihre Traditionen, ihre Lieder, ihre dörfliche Kultur und ihre entsetzlichen Demütigungen durch russische Barbarei völlig vergessen hatten und stattdessen Sowjetideologie predigten. Als Sowjetfunktionär konnte er unbewusst an seine landadelige Tradition anknüpfen.

Damit gerät jener Teil der Geschichte ins Blickfeld, der zum Desaster der Region wird. Nirgendwo in Europa gibt es einen Raum, der nachhaltiger von europäischen Kriegen durchpflügt worden ist. Das erschwert das Erinnern. Vielleicht vergisst man solche Regionen der millionenfachen Massaker und Vernichtungslager lieber, in deren Ausläufern Geschichten immer noch nicht begraben sind wie jene, die der belorussisch-polnische Publizist Jan Maksymiuk erzählt. Man blendet diesen Erdenwinkel aus, weil hier die Vergangenheit noch weit näher bei der Gegenwart liegt als bei uns, wie es der litauische Autor Sigitas Parulskis in seinem Reisebericht veranschaulicht. Als er etwa 1982 erstmals über die schlechten Straßen des Belarus fuhr, erklärte die Reiseführerin, das Land habe sich vom Krieg noch nicht erholt; auf die Frage, was die roten Sterne auf jedem zweiten Haus bedeuten, erwiderte sie, das seien die Häuser, in die nach dem Krieg jemand nicht zurückgekehrt sei. Zu Stasiuks Völkerwanderung die Seelenwanderung. Und immer die Völkertreiber, Weltantreiber, Seelenaustreiber. Die Nachbarn.

Alle Autoren sind nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, einige in den Sechzigern. Ihre Beschäftigung mit dem sarmatischen Mythos verkörpert keine chauvinistische Rückbesinnung auf eine zu spät gekommene Nation. Sie ist der Versuch eigener Geschichtsdeutung, das Freilegen verschütteter Traditionen, das Sich-Erinnern an die polyethnischen Möglichkeiten einer Region, in der fremde Imperien gerade gegen diese Möglichkeit, die Jahrhunderte lang gelebt wurde, gewütet haben. Dieses Erinnern vollzieht sich auffällig in einem europäischen Kontext, weit über kulturelle und soziale Aspekte hinaus. "Sarmatien" ist eine Chiffre für die Idee einer europäischen Union der Vielfalt und Differenz, nicht nur eine schöne Erzählung, sondern ein Appell an den Westen zu politischem Weitblick.

Martin Pollack (Hg.): Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland, S. Fischer, Frankfurt am Main 2006, 320 S., 28 EUR


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