Die Höhle von Vilencia liegt im slowenischen Karst wenige Kilometer oberhalb der Adria-Stadt Triest. Eine dörfliche Region, scheinbar weltabgelegen und marginal. Aber nicht zufällig findet in Lipica seit zwanzig Jahren eines der bedeutendsten Literaturfeste Mitteleuropas statt. Anfang September trafen hier über 70 AutorInnen, PublizistInnen und VerlegerInnen aus 37 Ländern mit rund 40 Literaturschaffenden aus Slowenien zusammen. Dieser kleine Landstrich, aus dem große Dichter wie Srecko Kosovel stammen, stellt eine Brücke zu verschiedenen Kulturen dar. Vilencia war lange eine Zwischenzone im Ost-West-Konflikt, ein Ort, von dem der literarische Mitteleuropa-Gedanke ausstrahlte, wie György Konrád, Milan Kundera oder Danilo Kis ihn hier formfulierten. Vilencia war ein Ort, wo nach der Wende und nach dem Zerfall Jugoslawiens geistige Positionsbestimmungen versucht wurden, die ihren Eingang in den europäischen Diskurs fanden. Und heute?
Das große Fest der Literatur steckt in einer Phase des Umbruchs. Die literarischen Vertreter Mitteleuropas altern, mit ihnen zum Teil auch ihre Dichtung. Ausnahmen gibt es, erstaunlich frisch erweist sich die Poesie von Slavko Mihalic aus Zagreb, der den internationalen Preis von Vilencia erhielt, ein Mitteleuropäer alten Schlages. Von den jüngeren AutorInnen, ausgenommen dem Letten Janis Elsbergs, dem Triestiner Umberto Mangani und den Österreichern Michael Donhauser und Leopold Federmair, war auf den vier Großlesungen wenig Innovatives zu hören, man blieb im Altgewohnten, sogar die sechziger Jahre ließen grüßen. In der Ausrichtung des Festivals existieren wohl widersprüchliche Intentionen und Unklarheiten darüber, wie es weitergeht. Es gibt Kräfte, die am Altbewährten festhalten, und solche, die das Fest öffnen wollen (»Slowenien und die Welt«), wobei Ersteres durchaus seine Erfolge und Letzteres seine Probleme hat.
Denn höchst ergiebig kann das Altbewährte sein, genauer: »der Alte«. Eine Sternstunde war der Auftritt des slowenischen »Altpoeten« Dane Zajc, grandios, begleitet von einem begeisternden Harmonikaspieler und Sänger, der vertonte Zajc-Gedichte sang. Da ging das Wort aus dem kleinen Slowenien in die große Welt, das Kleine wurde groß, alle Welt verstand. Dieser Hauch aus dem Paradies bedurfte keiner Übersetzung.
Einen negativen Kontrapunkt setzten die beiden Podiumsdiskussionen, die nicht nur an ihren Globalthemen (Rolle der Literatur; Literatur und Medien) krankten. Das Mittagessen danach in prächtiger Karstlandschaft beziehungsweise im charmanten Ljubljana konnte für die Pein der Podien versöhnen. Beim ersten bemühte sich zunächst Friederike Kretzen aus Basel redlich, mit Robert Walser (»Klein sein und klein bleiben«) und Alexander von Humboldt («... soviel Welt als möglich in die eigene Person verwandeln«) einen Realismusbegriff zu formulieren, der zur Bearbeitung widerständiger Potentiale in der Literatur taugt. Darüber lässt sich streiten, ein Ansatz immerhin wäre vorhanden gewesen. Lokalmatador Niko Grafenauer, an Lorbeer und Verdiensten reich, zog die »existenzielle Einsamkeit« des Dichters vor und paralysierte mit auffallender Gleichgültigkeit die flaue Diskussion - nur auf Widerspruch zu seinem Meinungen konterte er sofort. Scheinbar glatter, aber ebenso unergiebig ging es beim Shootingstar Régis Debray ab. Der einstige Guevara-Anhänger, spätere französische Kulturminister und Mediologe konfrontierte die Literatur in Entweder-Oder-Manier mit den Massenmedien. Viel scheint er von Quantität und Quoten zu halten. Begeistert von der Standardisierung in Mathematik und Technik, möchte er wohl gerne ähnliche Modelle für die Kultur sehen. Die Zukunft dem Bücherklon?
Wohltuend hob sich dagegen ein Round Table über den Karst-Slowenen Kosovel, den Italo-Istrier Tomizza und den Friulaner Pasolini ab. Kleine Geografie mit drei Kulturen, ein Beispiel der Durchdringung von Region und Universalismus; spannend überdies, vom langjährigen Pasolini-Freund Giuseppe Zigaina über Pasolinis Werk, Leben und Tod Details zu erfahren.
Der Wert von Vilencia liegt wahrscheinlich in den tagtäglichen Begegnungen, auf den tagtäglichen kleinen Brücken der Kultur. Hundert Literaturmenschen treffen sich vier Tage lang, schließen Bekanntschaften, erhalten neue Impulse und Anregungen in zahlreichen Gesprächen, kommen auf neue Gedanken, erwägen neue Projekte. Manches versickert wieder wie Wasser im doppelten Boden des Karstes, anderes bleibt, vor allem: Freundschaften - zwischen Menschen und mit diesem prächtigen Land.
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