Ana Novac, 1929 in Dej, Siebenbürgen, als Zimra Harsanyi geboren, ist die Tochter eines ungarischen Vaters und einer deutschen Mutter. Dieser nordwestliche Teil Rumäniens wird 1940 an das faschistische Ungarn abgetreten, im ungarischen Pass des Mädchens wird „Jüdin“ eingetragen, 1944 erfolgt der Transport nach Auschwitz, als Nr. A-17587.
Die Front rückt bereits näher, die Hoffnung flammt in wilden Fantasien auf: Geschützdonner, amerikanische Fallschirme, englische Diplomaten; wer draußen arbeitet, will diese und jene Spur gesehen haben, Ungewöhnliches passiert angeblich. Doch die Fabrik des Mordens arbeitet, im Vorfeld, im Kleinen, auf dem Appellplatz, die ungezählten, nie gesühnten Morde, in den Industrieanlagen, die „Aktionen“, die Selektionen, Duschen, Gas, Rauch, Geruch. Deutscher Terror: Der alltägliche Zivilisationsbruch.
Zimra wird nach Plaszow verlegt, berüchtigt für seinen sadistischen Kommandanten Amon Göth. Gleich zu Beginn eine überraschende Episode, die entscheidende. Sie sieht den Lagerkapo Konhauser mit einem Heft unter dem Arm, redet ihn an, wirres Zeug, wird nicht geschlagen, sie braucht das Heft. „Ich bin Schriftstellerin.“
Was für eine Szene. Kahler Schädel, Schlotterfetzen, Hungerarme, verlaust, so eine seltsame Figur mit ihrem Schuldeutsch, die ein Heft verlangt, Schriftstellerin, dann plötzlich in Lachen ausbricht. Aber der deutsche Kapo, wahrscheinlich ziemlich verblüfft, gibt es ihr, gibt ihr noch einen richtigen Bleistift dazu, lacht zurück, als ob es in der Hölle einen Pakt zu schließen gäbe. Aber er interessiert sich, was sie schreibt, stellt sie im Kleidermagazin an: „Ich weiß nicht, was du schreibst in deiner eigentümlichen Sprache. Aber wärst du ein Pferd, würde ich auf dich wetten.“
Spätestens von dieser Szene an gesteht man der Schriftstellerin Ana Novac alle schriftstellerischen Freiheiten ihres Buches zu. Ursprünglich ist es ein Tagebuch, aber nicht irgendeines. Die Aufzeichnungen der 14-Jährigen sind die tragende Basis, das Um und Auf von Die schönen Tage meiner Kindheit, niedergeschrieben aus keinerlei edlem Motiv.
Im Vorwort schreibt sie, „gern würde ich sagen können, dass ich mir diese Fron auferlegt habe, um das Gedächtnis der Menschheit durch Einzelheiten … zu vervollständigen … Das wäre zwar edel, aber falsch!“
Rückkehr nach Auschwitz
Dem Mädchen ging es darum, durch das Schreiben ein wenig die Hungergedanken zurückzudrängen, nicht in der Masse zu versinken: „Meinen eigenen Bereich, ein ›privates‹ Leben haben und vor allem nicht das Spiel meines beschissenen Schicksals mitspielen.“ Sicherlich ist es falsch von einem „Mädchen“ zu sprechen. Wer das erlebt hat, der trägt das Gewicht der Welt auf den Schultern und ist nicht mehr mit normalen Menschenaltern zu messen.
Sechzehn Jahre später, nachdem sie noch eine Diktatur, die Sowjetunion, hinter sich gebracht hatte und in Paris gelandet ist, überarbeitet sie das kaum noch lesbare KZ-Tagebuch.
Nun „gestaltet“ sie ihre Aufzeichnungen, zieht so etwas wie einen dramaturgischen Bogen ein, vermutlich auch eine Dramaturgie des Faktischen: Auschwitz, Plaszow, Rückkehr nach Auschwitz vor den Angriffen, Evakuierung in ein Arbeitslager, dessen Fabrik schon niedergebombt ist, Erkrankung und noch einmal Rückkehr nach Auschwitz in den Krankenblock.
Sie ist eine genaue Beobachterin. Die Vielfalt der Menschenverachtung und -vernichtung scheint unermesslich, davon haben Primo Levi, Jorge Semprun, Imre Kertész, Aharon Appelfeld, Boris Pahor und andere schon eindringlich erzählt.
Was an diesem undatierten Tagebuch so sehr auffällt, sind die Menschen. Vom „Privatleben“ im KZ spricht Ana Novac und meint damit weit mehr als die Behauptung des Ich. Was sie aufschreibt, sind nicht nur Zustände und Ich-Befindlichkeiten, sondern Porträts anderer Menschen und kommunikative Vorgänge.
Gleich zu Beginn wird Sofi vorgestellt, ihre beste Freundin, die „Theoretikerin“. Dann taucht Julika auf, die Schauspielerin und Rezitatorin, mit ihrer affektierten Mutter. Die Gruppe der schlauen Falks. Der Bergkapo und seine Geliebte. Illus, der nicht durchkommt, wie so viele. Verschiedenes „Personal“, Blockälteste, Stubendienste, Kapos, Skizzen mit schnellen Strichen, bedacht auf das Wesentliche,
Summa summarum eine erstaunliche Varianz an Eigenschaften; die scheinbar graue Masse auf der Lagerstraße erhält ihre ganz eigenen Gesichter, nie verklärend und beschönigend, dafür ganz eigen, natürlich aus der subjektiven Sicht der Schreiberin, die manchmal ganz schön bissig, oft auch witzig sein kann: „Noch nie haben wir so viel gelacht wie im Lager.“ Man habe eben keine Tränen mehr gehabt, auch keine Gefühle mehr.
Und doch sind in diesem Bericht die menschlichen Beziehungen das Wichtigste. Bei allem gegenseitigen Misstrauen, Belauern, auch Berauben, die tragenden Elemente ihrer Aufzeichnungen sind jene der Freundschaft und der Solidarität. Irgendwann taucht plötzlich die frühere Köchin Edith auf, eine Sorgende. Selbst im KZ gibt es Menschen, die sich um andere Sorgen machen.
Die Bildhauerin, die ihr beim Akkord im Steinbruch erklärt, wie sie am besten mit dem Steineschleppen zurechtkommt: gegenseitiges Aufrechthalten. Später rettet jene ihre Aufzeichnungen, im wahrsten Sinn des Wortes. Das ist eine Liebesgeschichte, die dem Leser einen Kloß in den Hals treibt. Mag es noch so viele Menschen im Wolfspelz geben – der Mensch ist eben nicht dem Menschen ein Wolf.
Aber eben oft ein unendlich Fremder. Ein scheinbar leicht dahin geschriebenes „Jugendbuch“ knüpft in einer ganz bestimmten Weise an: Was kam danach, nach dem Lager, wenn die, die übrig blieben, „heim“ kehrten?
Weit entfernt von den literarischen Qualitäten einer Ana Novac erzählt die Wienerin Traude Litzka, Lebens- und Sozialberaterin in Altersheimen, eine ganz schlichte Geschichte aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Eine Wiener Familie mit zwei Kindern kehrt in ihre alte Wohnung zurück, findet eine ausgebombte alte Witwe vor, Frau Zottler – daraus ergeben sich Spannungen.
Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, hauptsächlich aus der der achtjährigen Lotte. Ihre Fantasien, ihre Streitereien mit dem Bruder, ihr zunehmender Hass auf die „Zottel“, die neuen Nachbarn, der kahlköpfige Mendel, der in ihre Klasse kommt, seine Sprachschwierigkeiten, seine Geschichten vom Leben in polnischen Wäldern.
Im Vordergrund bleibt Frau Zottler, eine kleine Psychostudie allmählich fortschreitender Demenz. Mendel hilft Lotte, eine Freundschaft entsteht, gestiftet durch eine „böse Alte“, die, hilflos im Grunde, immer mehr ihre Orientierung verliert.
Ein Gruß im Stiegenhaus
Aber die entscheidende Geschichte ist eine andere. Traude Litzka ist nach intensiven Begegnungen mit Holocaust-Opfern überzeugt, dass die Gräuel der NS-Zeit auf keinen Fall vergessen werden dürfen.
In Die Untermieterin führt sie den Leser mit einer ganz simplen Handlung doppelt vor den Spiegel. Das eine Problem ist die Vereinsamung alter Menschen, um die sich niemand kümmern will. Bestenfalls mit unverbindlicher Freundlichkeit an der Ladentheke und einem Gruß im Stiegenhaus. Nicht weit davon liegt das nächste Problem.
Nach dem Krieg kamen auch nach Österreich jüdische „Heimkehrer“, Überlebende der Todesmaschinerie. Mendels kahler Kopf: ein aufgeschlagenes Buch. Aber niemand fragt. Der Schuldirektor: besorgt, er will es richtig machen. Freundlich auch ein Polizist. Und einige andere noch, aber niemand spricht darüber. Niemand, außer den Kindern, geht wirklich auf die jüdische Familie zu. Sie ist jetzt da, wie jeder andere, fertig. Will der kleine Mendel eine Münze aufheben, die hinunter gefallen ist: Diebskerl. Kennt man auch. Nur nimmt der Polizist jetzt die alte Schachtel nicht ernst.
Die Kinder sind die Hoffnung. Sie können sich anders verständigen. Mendel kann dieses und jenes, er wird „aufgenommen“. Doch dann kommt der Vater, ein englischer Offizier, er holt die Familie in das entstehende Israel. Was bleibt, ist eine tiefe, unüberbrückbare Fremdheit, auf der „Wiederaufbau“ und „Wirtschaftswunder“ gründen.
Die schönen Tage meiner JugendAna Novac, Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Schöffling, Frankfurt am Main 2009, 320 S., 22,90 Die Untermieterin Traude Litzka, Roman, Liber Libri, Wien 2009, 184 S., 19,80
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