Ein sehr niedriges Wesen

Das Gesetz des Bösen Zum Tod Aleksandar Tismas (1924-2003)

Aleksandar Tisma ist tot. Er starb kurz nach seinem 79. Geburtstag in seiner Heimatstadt Novi Sad, Zentrum der Woiwodina, Zentrum auch seines literarischen Kosmos, Schauplatz einiger seiner Romane und Erzählungen und weit mehr als das.

Geboren wurde Tisma 1924 in Horgos, einem Dorf nahe der ungarischen Grenze als Sohn einer jüdischen Mutter und eines serbischen Vaters, eine alltägliche Verbindung in dieser wohl buntesten Region Europas. »Ich wuchs nicht nur mit Serben auf, sondern auch mit Ungarn, Juden und Deutschen; mein Nachbar auf der Schulbank war lange Zeit Fritz Feidt, der aus Wien stammte und den der Klassenlehrer neben mich setzte, weil ich ihm den auf serbisch gehaltenen Unterricht übersetzen und erklären konnte. Und ich sprach deshalb so gut deutsch, weil meine Mutter von meinem siebten Lebensjahr an eine deutsche Hauslehrerin engagiert hatte, die dem Fräulein aus meinem Roman ›Der Gebrauch des Menschen‹ ähnelte«, berichtete er über seine Jugend.

Hier, im Tiefland zwischen Donau und Theiß nördlich von Belgrad lebten Serben, Kroaten, Ungarn, Szekler, Slowaken, Rumänen, Juden, Deutsche, Zigeuner, Griechen auf engem Raum mit- oder zumindest nebeneinander, nicht idyllisch, aber eher friedlich. Die politische Situation unter der serbischen Königsdiktatur der Dreißigerjahre ist angespannt, sie wird zur Arena totalitärer Kräfte. Im Norden steht ein von Horthy geführtes Ungarn, das auf Beute lauert, und mit den Bomben der Nazis auf Belgrad brechen alle Dämme der Zwischenkriegsordnung. Jugoslawien wird zerschlagen und aufgeteilt, nur die Ustascha-Kroaten dürfen teilhaben. Inmitten dieses Brandes vollzieht sich die Tragödie der jüdischen Bevölkerung.

Aleksandar Tisma nahm teil an dieser Tragödie und überlebt. In Novi Sad trieben die Faschisten im Januar 1942 Juden und Serben durch die Straßen zur Donau hinunter. »Während dieser Razzia wohnten wir in einem Haus vor dem Appartement eines ungarischen Friseurs und seiner Familie. Vier ungarische Soldaten sind bei uns hinein gegangen, ließen uns die Hände hochheben und fragten, wo wir unsere Waffen versteckt hätten. Sie kontrollierten unsere Papiere, ob etwas Serbisch-Orthodoxes dabei ist ... Der Friseur hat ihnen etwas zu trinken gegeben und nichts gegen uns gesagt, das hat uns gerettet. Allein an diesem Tag haben sie etwa fünfzehnhundert Personen als Juden oder Serben ermordet.« Bei diesem Massaker sind ein paar tausend Menschen an die Donau getrieben und in Eislöcher geschossen worden. Tisma floh nach Budapest, überlebte in Verstecken, wurde aufgegriffen, in eine Strafkompanie nach Transsylvanien gesteckt. Er kehrte nach Jugoslawien zurück, schloss sich der Partisanenarmee an, spielte in einer Kapelle, ohne ein Instrument zu beherrschen: »Ich habe nicht geschossen und keinen Menschen getötet, was noch heute eine große Genugtuung für mich ist. Würde man mich heute wieder in die Armee einberufen, würde ich wieder versuchen, in einer Kapelle zu spielen.«

In diesem Hexenkessel erlebte er den Gebrauch des Menschen zu Demütigungen und Grausamkeiten in Extremsituationen, erlebte er, wie aus Opfern Täter wurden, wenn es um das Überleben auf Kosten noch Schwächerer geht. Das musste Tisma sich später gleichsam vom Leibe schreiben: »Ich schrieb also die nächsten Jahrzehnte hindurch wie in einem Traum.« Zentralen Raum nahm dabei seine Auseinandersetzung mit dem Judentum ein. Hauptfiguren in den meisten seiner Werke sind sehr schillernde, sehr zwiespältige, sehr zerrissene Gestalten, auch wenn sie - oder gerade weil sie - äußerlich ganz unauffällig erscheinen.

In Das Buch Blam ist die Titelfigur ein Jude, der sein Überleben als Schande empfindet. Dem Massaker ist er dank eines Gönners entkommen, eines serbischen Bonvivants in Diensten der faschistischen Besatzer. Das Überleben ist mit Schuld belastet, im Gegensatz zum alttestamentarischen Hiob wird Blam weder von einem Gott geprüft noch hat er einen Gott, um mit ihm zu hadern.

In Der Gebrauch des Menschen rollt er eine breite Palette jüdischer Schicksale auf, gruppiert um die Geschichte einer Familie, die fast völlig vernichtet wird. Das Spektrum reicht vom ahnungslosen Opfer bis zum Opportunisten und zeitweiligen Nazikollaborateur, vom Widerstandskämpfer, der ermordet wird, bis zur »SS-Hure« Vera Kroner, der Lagerprostituierten, die Auschwitz überlebt, aber bald nach ihrer Rückkehr in die »Normalität« Selbstmord begeht.

In Kapo konzentriert er sich auf das Psychogramm eines katholisch getauften Juden, der seine Herkunft als Fessel empfindet. Seine Versuche, sich zu assimilieren, scheitern, er landet in Jasenovac und Auschwitz. Seine Kollaboration mit der SS verhilft ihm zur Funktion eines Werkstattkapos, er erhält Lebensmittel und Frauen und führt Mordaufträge durch. Es ist die komplizierte Geschichte eines Opfers, das zum Täter wird. Die Rückkehr zu seiner jüdischen Identität ermöglicht ihm, im kommunistischen Jugoslawien unerkannt als Nazi-Opfer unterzutauchen, weit entfernt vom Wohnort der einzigen Überlebenden, die als sein ehemaliges Opfer seine Verbrechen kennt.

1996 erhielt Aleksandar Tisma den Leipziger Buchpreis zur «Europäischen Verständigung«. Dem Euphemismus der Preisbezeichnung steht sein Werk freilich diametral gegenüber, erzählt es doch von der Zerstörung fast jeglicher Verständigung im Zeitalter der Massenvernichtung. Er entwarf ein Weltbild, in dem es nur ein »Gesetz des Bösen« zu geben scheint, das die Menschen wie eine Naturgewalt mit blindwütiger Destruktivität überrollt. Tatsächlich sind Grauen und Gemeinheiten von Menschen verursacht; ob kaltes Machtkalkül oder Gedankenlosigkeit, ob berechnende Planung oder Feigheit, dem in unzähligen Facetten sich vollziehenden Umschlag von Normalität in Bestialität spürte er mit geradezu kaltblütiger Sezierkunst nach.

Tisma machte kein Hehl daraus, dass er von den Menschen nur wenig hält: »Nach meinem Weltgefühl ist der Mensch ein sehr niedriges Wesen«, erklärte er einmal. Er glaubte auch nicht an die Lernfähigkeit der menschlichen Spezies, aber sein anthropologischer Pessimismus konnte nicht über den aufklärerischen Charakter seiner Bücher hinwegtäuschen. Auch wenn er sich über ihre Wirkung resigniert gab: »Kultur ist sowieso eine Illusion.«

Trotzdem hat Aleksandar Tisma immer an der Kultur festgehalten. Bei all seiner Anatomie menschlicher Bestialität war er ein Humanist, ein resignierter: »Das Leben ist im Grunde düster und traurig. Aber es ist immer noch schöner und reicher als das, was der Mensch letztlich daraus macht. Mit seinem Hass und seinem Leiden verschlimmert er nur noch das an sich schon traurige Leben.«

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