Seit 1994 vergibt die Stadt Leipzig alljährlich während ihrer Buchmesse einen viel beachteten Literaturpreis. An ihm fällt zweierlei auf. Zum einen sein Titel, "Buchpreis für Europäische Verständigung", zum anderen die Namen auf der Preistafel, die einen erstaunlich hohen Anteil osteuropäischer AutorInnen wie etwa Peter Nádas, Hanna Krall, Imre Kertész oder Bora Cosic aufweisen. Auch der diesjährige Preisträger, der Erzähler, Dramatiker und Essayist Dzevad Karahasan stammt aus östlichen - südöstlichen - Gefilden, nämlich aus Bosnien, und ist ein Mann der Grenzen. Schon seine Biografie und erst recht sein Schaffen regen zum Nachdenken darüber an, was auf den ersten Blick so selbstverständlich erscheint. Natürlich, sagt heute jeder vernünftige Mensch zwischen London und Athen, soll Europa sich verständigen. Es hat sich auch in den vergangenen 50 Jahren sehr viel getan; die Europäische Union ist eine einzige Erfolgstory, und all ihre Mängel, Misserfolge und Rückschläge, wie zuletzt die gescheiterte Verfassung, gehören ebenso zu einer lebhaften Biografie wie die Tatsache, dass Erzfeinde zu Freunden geworden sind, dass das einst so kriegerische Europa eine Art Friedenszone darstellt, dass Grenzen gefallen sind und ein hoher Lebensstandard herrscht.
Dzevad Karahasan wurde 1953 in Duvno, Jugoslawien geboren, heute Republik Bosnien und Herzegowina. Ein Land, das an verschiedenen sportlichen Bewerben Europas teilnimmt, zum Beispiel an den Europameisterschaften in Fußball. Bayern München und der Hamburger SV müssen dann immer ihre bosnischen Legionäre beurlauben. Legionäre: Wie leichthin wir Begriffe des Krieges in Friedenszeiten übernehmen. Wie wenig das eine Nur-Krieg und das andere Nur-Frieden ist. Wie schnell die Verhältnisse changieren. Wie plötzlich Jugoslawien zur europäischen Schnittstelle wurde und Bosnien zur europäischen Wunde. Alles vorbei und verheilt? Dass vor zehn Jahren dort serbische Legionäre mit Köpfen Fußball spielten? Im erfolgreichen Europa? Oder ist das bloß der ferne schorfige Rand, von dem her seltsame Namen auftauchen, Barbarez, Salihamidzic, Karahasan? Taucht hier nur gelegentlich die grindige Vergangenheit herauf, wie ein kleiner Vulkanausbruch, Erdaltertum wird dann hochgeschleudert, glühend, kurzzeitige Schäden, doch das moderne Leben schreitet voran? Oder hat eben dieses moderne Europa seine unbewältigten dunklen Seiten?
Bosnien wurde oft als Grabenbruch bezeichnet. In der Antike zog sich hier die Trennlinie zwischen Westrom und Ostrom entlang. Westrom wurde zerstört, doch auf seinen Trümmern fand ein Übergang statt, eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wurde abgelöst. Ostrom verharrte auf den alten Traditionen, bis es von den Osmanen überrannt wurde, die Jahrhunderte lang Bosnien zum Vorposten einer islamischen Gesellschaft machten. Hier stießen also Abendland und Morgenland aufeinander, wie sie einst im Nahen Osten aufeinander gestoßen waren. Als dann noch nach dem Genozid in Spanien die Sepharden, die flüchten konnten, 1492 ins Osmanische Reich gelangten, wurde Sarajevo zum Jerusalem des Balkans. Die Juden erhielten im islamischen Osten Europas jene Religionsfreiheit, die sie im christlichen Westen Europas mit Verfolgung und Ermordung bezahlen mussten. Das prädestinierte das bergumstandene Bosnien weit mehr zu einer Brücke zwischen Ost und West als zu einem Graben. Wohin gehört nun dieses Bosnien, das keinem so recht etwas angehen will: zum Orient? Zu Europa?
Dzevad Karahasan stammt aus einer so genannten gemischten Familie, er wuchs mit den islamischen Traditionen auf. Er selbst sagte einmal darüber: "Ich bin ein Muslim, ich liebe die katholische Kultur, ich kenne und mag die orthodoxe Kultur, ich bewundere die jüdische Mystik - ich bin also kulturell gesehen sehr unrein." Der junge Mann lernte bei den Franziskanern in Sarajevo Latein, studierte im kroatischen Zagreb Literatur und Theaterwissenschaften, weiß über al-Mukaffa und al-Hallag ebenso Bescheid wie über Plato und den Heiligen Augustinus, über den Sufismus ebenso wie über die Sepharden, über Avicenna ebenso wie über Thomas von Aquin. Für Sarajevo, für Bosnien (für das "alte" Bosnien?) ist es nichts Ungewöhnliches, dass einer mit einem Bein im Orient, mit dem anderen im Okzident steht. Ein Ort, ein Land, eine geistige Situation, die für Europa ungemein bereichernd sein kann.
Erinnert man sich freilich daran, wie die Europäische Union, die gern für "Europa" spricht, damals mit der großserbischen Aggression, den ethnischen Säuberungen, der 22-monatigen Belagerung von Sarajevo, letztlich der Zerstörung wesentlicher kultureller Strukturen des Landes, umgegangen ist, wirft sich erst recht die Frage auf, was denn eigentlich dieses "Europa" ist und was es den Brüsseler Europäern bedeutet. Der jüngste Rückfall in der Verfassungsdebatte, vorgetragen von bestimmten Kreisen, es als Raum der christlichen Kultur einzumauern, spricht Bände und zeugt von vormittelalterlicher Engstirnigkeit.
In seinem Essay Tagebuch einer Aussiedlung (1993), das in zehn Sprachen übersetzt wurde, hat Karahasan Sarajevo nicht nur beschrieben, sondern wie ein Anatom die Grundstrukturen dieses zentralen Ortes Europas freigelegt, das er als ein "dramatisch konstituiertes Kultursystem" bezeichnet. Seit dem 16. Jahrhundert leben hier Angehörige von vier großen monotheistischen Religionen: Katholizismus, Orthodoxie, Islam und Judentum. An ethnischer und sprachlicher Vielfalt herrscht kein Mangel; neben Kroaten und Serben ließen sich italienisch sprechende Dalmatiner nieder, toskanische und venezianische Mönche, Ungarn, Griechen, Deutsche, Roma, Walachen, Uskoken, Albaner, Araber, Türken, Levantiner, aus Spanien vertriebene sephardische Juden, später auch ashkenasische Juden. Sie alle brachten ihre Sprachen und Gebräuche mit und bildeten ein kompliziertes ethnisches, religiöses, kulturelles und soziales Geflecht. Völlig unterschiedliche Elemente trafen auf kleinstem Raum aufeinander, kontrastierten sich gegenseitig und kommunizierten miteinander. "Alles, was in der Welt möglich ist, existiert in Sarajevo, in verkleinerter Form zwar, reduziert auf seinen Kern, aber es existiert, weil Sarajevo das Innenzentrum der Welt ist (...)." Sarajevo ist - oder war vor dem Krieg - kein erratischer Ort, kein babylonisches Wirrnis, keine von sturen völkischen Grenzen umklammerte Entität, wo es, wie heute, den Menschen schwer fällt, Identität herauszubilden.
Einem amerikanischen Journalisten, der ihn während des Krieges besuchte, beschrieb Karahasan die ethnische Struktur seines Wohnhauses: Von zehn Ehepaaren bestand nur ein Paar aus Angehörigen derselben Nationalität. Sarajevo ist - oder war - eine Stadt der Verbindungen, der Vermittlung, natürlich auch der Unterschiede, welche die Wahrnehmung schärfen. Und Karahasan versteht es hervorragend, sowohl dem Verbindenden in all seinen Verstrickungen nachzugehen, als auch die Grenzen aufzuzeigen, die notwendig sind für jede Identitätsbildung, denn im Anderen erkennt das Ich sich selbst. Diese produktive Spannung ist zugleich das Verbindende. Allerdings konnte dieses multikulturelle Gemeinwesen nur unter der Bedingung des Fehlens von nationalistischen Strömungen existieren. Die gewaltsame Entladung niedrigster nationalistischer Instinkte hat die Stadt an ihrem Grundnerv getroffen. Das Tagebuch der Aussiedlung handelt von der Aussiedlung jenes alten Sarajevos, das "aus der materiellen Wirklichkeit in eine ideelle übersiedelt, aus seinem bergumstandenen Talbecken in das Gedächtnis, in die Erinnerung". Mit einer realen Aussiedlung endet der Essay: Kurz nach den Feiern zum 500. Jahrestag der Ankunft ihrer Vorfahren verlässt - in London, Paris und Berlin fast gar nicht wahrgenommen - ein Großteil der sephardischen Gemeinde die Stadt.
Karahasan verließ 1993 Sarajevo und war in der Folge so etwas wie ein kultureller Botschafter seiner Heimat. Er lebte an verschiedenen Orten, derzeit als Stadtschreiber in Graz, wo er lebhaft am Kulturleben teilnimmt. In seinen Romanen Schahrijârs Ring (1997) und Sara und Serafina (2000) steht weiterhin Sarajevo als Schauplatz der Welt im Mittelpunkt. Schahrijârs Ring ist der Roman einer Liebe, der in dieser hoffnungslos eingesperrten Stadt spielt. Wieder spannt der Autor einen immensen zeitlichen Bogen quer durch die Geschichte, über das Istanbul des 15. Jahrhunderts in eine der ersten Hochkulturen, ins Sumererreich. Immer gibt es "Zeitalter des Sandes", in denen der Nihilismus um sich greift, jede Hochkultur kennt solche Phasen. Aber immer gibt es auch neben den Verzweifelnden, den Lamentierenden, den Zynikern auch die Hoffenden, die Liebenden, die trotz allen sichtbaren Niedergangs so etwas wie den Faden des Lebens weiterspinnen. Vielleicht wartet Azra in Sarajevo vergeblich auf den herumirrenden Faruk, doch der Glaube von Menschen wie sie hält das Leben der Stadt aufrecht. Und vielleicht sollte man in Europa weniger nationale Mythen pflegen und als eng verwandtes Kulturgut die Erzählungen von Tausendundeiner Nacht verstehen, die Karahasan in seinem Roman weiter erzählt.
Grenzgänge zwischen Islam und Christentum unternimmt er auch in Das Buch der Gärten (2002). In beiden Religionen ist die Vorstellung vom Paradies die eines Gartens. Beide Religionen haben ihren Ursprung in wüstenreichen Regionen, wo ein abgeschlossenes bewässertes Fleckchen Erde lebensspendend ist - die Oase mit ihrer üppigen Vegetation erscheint dem durch die kahle und heiße Wüste Herannahenden als Wunder. Während die Wüste ein Ort der Auflösung ist, ist der Garten ein Ort der Konzentration, der in vielen orientalischen Erzählungen den kompositorischen Mittelpunkt einnimmt.
In Tausendundeiner Nacht sind der Markt, der Weg, der Garten und der Palast die vier Haupträume mit unterschiedlichen Wertigkeiten. Während der Palast der Schauplatz der Lösungen ist, wo sich die Fäden entwirren, ist der Garten sozusagen der Ausgangspunkt aller Handlungen, denn in ihm kann sowohl Öffentliches als auch Intimes passieren - hier kann mit dem Apfel gelockt werden ... Karahasan zeigt auf, wie Gesellschaften, von ihren religiösen Vorstellungen geleitet, ihre sozialen Räume gestalten, zu denen der Garten zählt. Und mehr noch. Der Garten wird zum Ausdruck des Strebens nach Freiheit. Denn Freiheit ist es, ihn nach freier Wahl zu bepflanzen und nicht utilitaristischem Denken zu folgen. Etwas tun, was nicht unserem Dasein oder unserem Nutzen dient, sondern der Vernunft unnütz erscheint, weil es lediglich dem Wunsch nach Schönheit folgt - darin öffnet sich dem Menschen die Freiheit.
Wie ist es um die Freiheit Europas bestellt, das die freie Marktwirtschaft zu einem Verfassungsgrundsatz erheben möchte? Das also den Utilitarismus in denselben Rang stellt wie die Menschenrechte? Nicht gegen die freie Marktwirtschaft geht diese Polemik, sondern gegen den Rang, der ihr eingeräumt wird; der das Denken über Freiheit einzäunt durch Kosten-Nutzen-Argumente und Zahlenkolonnen. Dzevad Karahasan demonstriert uns ein etwas anderes Denken, als es in Brüssel schlechthin an Tag gelegt wird. Kein Zufall, dass er von "einem Zeitalter des ökonomischen Totalitarismus" spricht. Für ihn, der hervorragend Bescheid weiß über Grenzen in Europa, über Ost und West, über Kulturen und Religionen, beschränkt sich der europäische Gedanke nicht auf Bruttosozialprodukt und Staatsverschuldung. Er, der Mensch der Kulturen, ist ein weit politischerer Mensch als die Bürokraten der Ökonomien. Europa wird sich nicht als Europa definieren wegen der Maastrichter Kriterien. Als Identitätskriterium mag auch der jeweilige Stand der Produktivkräfte eine Rolle spielen, weit mehr prägen geistige Strukturen, die sich über Jahrhunderte materialisiert haben, das, was Europa ausmacht. Dazu gehört der Balkan als uraltes Kernland Europas, das ohne dessen Kulturen gar nicht in seiner heutigen Form existieren könnte.
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