»Balkanische Verhältnisse« ist ein geflügeltes Wort für ein Ensemble von Nationalismen, paternalistischen Strukturen, Blutrache, Frauenraub, tausendjährigen Reichsmythen, ethnische Vertreibungen - ein Synonym für besonders grausame Krisen. Sie scheinen nur dieser Region eigen zu sein. Zugleich ist es, wie die Geschichte der Balkankrisen seit dem 19. Jahrhundert zeigt, Ausdruck des andauernden Unverständnisses, das der Westen gegenüber Süd osteuropa aufbringt und das sich auch im Krieg um das Kosovo wieder äußert. Im Kern geht es dabei um die gegenüber Westeuropa ganz anders verlaufene Herausbildung der Nationen und Nationalstaaten.
Im 14. und 15. Jahrhundert wird die Balkanhalbinsel nach und nach von den Osmanen erobert. Entscheidend ist dabei nicht die Schlacht auf dem Kosovo Polje (Amselfeld, 1389), wie dies die nationalistische Geschichtsschreibung propagiert, sondern zuvor schon - 1371 - die Schlacht bei Cernomen an der Marcia. Die Osmanen zerstören den alten nationalen Rahmen. Sie führen keine Zwangsislamisierung durch, sondern kassieren von den Balkanchristen »Schutzsteuern«. In den Gebieten des heutigen Bosnien, Albanien, Bulgarien und teilweise auch Serbien wechseln beträchtliche Teile der Bevölkerung zum Islam - was 500 Jahre später beachtliche Folgen haben wird, wenn aus der Religionszugehörigkeit »ethnische« Begriffe geprägt werden, die »Türken« und die »Muslime«.
Während in Westeuropa zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert die Grundlagen des modernen Staates entstehen, werden die osteuropäischen Nationen von anationalen Reichen - dem Habsburger und Osmanischen - überwuchert. Die einzige nationale Institution von Kontinuität ist die orthodoxe Kirche, die Schriftsprache und Geschichte aufbewahrt und Verbindungen zwischen Personen desselben Glaubens sichert. Die Religion wird so sehr zum Bestandteil nationaler Identität, daß Kroaten und Serben in ihr das wesentliche Merkmal sehen.
Den neuen nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts fehlen die westlichen Bedingungen zur Bildung einer Nation: kein Staatsapparat, keine eigenständige Wirtschaftsorganisation, keine politische Kultur, keine nationale Elite. Sie greifen auf »das Volk« als Träger »unterscheidbarer nationaler Eigenheiten« zurück. Angesichts der ethnischen Gemengelage in Südosteuropa ist »das Volk« eine Sache des Bekenntnisses beziehungsweise der Sprachzugehörigkeit. Anstelle des fehlenden politischen Rahmens wird die Sprachgemeinschaft ein Grundelement der Nation - die »Sprachnation« als ein typisch östliches Produkt. Aus Mangel an historischer Kontinuität schaffen die romantisch beeinflußten Intellektuellen aus Überlieferung, Sagen und schriftlichen Aufzeichnungen eine historische Fiktion. Sie soll »durch die erinnernde Vergegenwärtigung einstiger nationaler Größe dem Selbstbewußtsein der kleinen Völker aufhelfen und gleichzeitig die für den täglichen Emanzipationskampf brauchbaren historischen Argumente bereithalten« (Edgar Hösch/*).
Gleich in der ersten großen Balkankrise 1878 tauchten die makedonische und die albanische Frage auf. Die »verspäteten Nationen« melden Unabhängigkeitsansprüche an, verbleiben aber noch im Osmanischen Reich, das 1912 zerfällt - Montenegro, Serbien, Bulgarien und Griechenland teilen sich den Balkan neu auf.
Um die neuen Grenzen entstehen zahlreiche Probleme. Ausgehend vom Sprachnationalismus beginnen die Nationen, »die sprachlichen Kräfteverhältnisse in den Mittelpunkt ihrer Selbstdefinition zu stellen: Jene Nationen, an deren historischen Grenzen Sprachverwandte lebten oder die über keine historischen Grenzen mehr verfügten, hefteten sich das Programm der Vereinigung aller Sprachverwandten auf ihre Fahnen, jene hingegen, auf deren Territorium auch Anderssprachige lebten, favorisierten die Idee des einsprachigen Nationalstaates. Das Wesentliche beider Bestrebungen war identisch: Es ging darum, mit ethnischen Faktoren der eigenen politischen Existenz, die auf schwachen Beinen stand, zusätzliches Gewicht zu geben.« (Bibó István Bibó/ **)
Die Herstellung der historischen Grenzen des alten Serbenreiches ist dabei eine Prämisse serbischer Politik. Aus dieser Logik heraus beansprucht Serbien 1878 die Gebiete um Nis, 1913 dann wesentliche Teile von Mazedonien und das Kosovo, nach dem Zerfall Österreich-Ungarns 1918 die Vojvodina und Bosnien. Zugleich sucht es eine »höhere Einheit«, die der Südslawen unter serbischer Führung, die sich als Avantgarde im nationalen Unabhängigkeitskampf versteht. Mit den aus dem Habsburger Verband ausgetretenen Slowenien und Kroatien bildet Serbien nach dem Ersten Weltkrieg eine Föderation, der sich auch Montenegro anschließt und der Bosnien eingegliedert wird. Dieser neue Staat trägt erst recht die Züge eines multiethnischen Gebildes.
Dabei bestehen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Grenz- und Nationalitätenkonflikte fort, denn die Grenzziehungen aus den Friedensverträgen unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg werden nur als Demarkationslinien mit Revisionsvorbehalt hingenommen. Verkompliziert wird die Lage noch durch die Krise des Parlamentarismus und durch die ökonomische Verelendung der rückständigen Agrargesellschaften. Das parlamentarische Regierungssystem wird im Laufe des 19. Jahrhunderts als etwas Fremdes in eine politische Wirklichkeit verpflanzt, der es an allen Voraussetzungen fehlt: einer Staatsmacht, die nicht auf Mythen, sondern auf historisch gewachsene Festigkeit baut, einem Nationalbewußtsein anstelle nationaler Hysterie.
Im Zweiten Weltkrieg wird Südosteuropa zum Kriegsschauplatz fremder Mächte. Mit dem Kampf gegen die deutsche Okkupationen werden für die westlichen Alliierten die Balkanstaaten immer mehr zu einer strategischen Manövriermasse. Als die Rote Armee bereits in Rumänien, Bulgarien und Ungarn steht, geht es Roosevelt und Churchill um die Absteckung von Einflußsphären zur Eindämmung des sowjetischen Vorstoßes nach Europa. Mit Stalin wird vereinbart, daß der Sowjetunion in Rumänien und Großbritannien in Griechenland zu 90 Prozent die politische Neuordnung zusteht; weiter zu 75 Prozent der UdSSR in Bulgarien, während für Ungarn und Jugoslawien fifty-fifty gilt. Jugoslawien befreit sich nahezu aus eigener Kraft und wird nach dem Bruch mit Stalin 1948 eine Position zwischen den Blöcken einnehmen. Von den Nazis gezogene Grenzen werden grundlegend revidiert und mit ein paar Veränderungen die Grenzen von 1919 wieder hergestellt. Volksfrontregierungen bilden sich, in denen die Kommunisten bald die Macht übernehmen.
Man könnte die kommunistische Herrschaft als Versuch betrachten, die nationalen Konflikte zu entschärfen durch Konzentration der Politik auf die soziale Frage. Es ist jedoch eine Herrschaft, die jede Forderung nach nationaler Unabhängigkeit erstickt. Interessant ist dabei, daß Tito die Kosovo-Frage auf jeden Fall »jugoslawisch« lösen will. Die Beschlüsse der Bujani-Konferenz (1944), die das Recht des Kosovo auf Lostrennung beinhalten, werden von der Parteiführung rasch widerrufen. In den sechziger Jahren wird offiziell die Fälschung von Volkszählungen (aus Albanern sind »Türken« geworden) zugegeben, ebenso die Abschiebung einer unbekannten Zahl von Kosovo-Albanern mit Beteiligung der UDBA, des kommunistischen Geheimdienstes. Schließlich zeigt sich auch in der Instrumentalisierung der sozialen Frage, die in Jugoslawien in den achtziger Jahren wieder mit aller Schärfe aufbricht, daß der Nationalismus trotz anderslautender Beschwörungen problemlos überlebt hat, gerade auch bei den kommunistischen Führern.
Tatsächlich wird in vielen Krisen die nationale Karte gespielt. Mit dem Machtantritt Milosevics erhält der Nationalismus freie Bahn - auffallend ist der lebhafte Zulauf aus intellektuellen Kreisen. Mit dem Zerfall des Sozialismus funktioniert die Nationalismusfalle vollends, da es den Angehörigen der Völker nicht ermöglicht worden ist, sich zu freien Bürgern zu entwickeln - die bürgerlichen Rechte und Freiheiten sind ihnen vorenthalten worden.
Mit der Wende eröffnen sich so zwei Möglichkeiten: der zivilgesellschaftliche Weg einer demokratischen, multikulturellen Republik, die sich nicht über die Volkszugehörigkeit definiert - oder der nationalstaatliche Weg einer völkisch definierten Republik mit meist eingeschränkter demokratischer Ausstattung. Die erste Möglichkeit ist gegenüber der zweiten im Nachteil: Es hat auf dem Balkan keine Aufklärung gegeben, die Ideen der bürgerlichen Revolution wurden importiert, ebenso der Marxismus. Dagegen sind die jeweiligen Nationalismen bodenständige Ideologien mit umfangreicher parawissenschaftlicher Auspolsterung, populär und populistisch vermittelt. Immer setzen sie an real existierenden Problemen an, die sich aus den Überlagerungen ethnischer und sprachlicher Räume ergeben, durch die Grenzen verlaufen, die aufgrund bestimmter Machtkonstellationen meist als Kriegsresultate gezogen worden sind. Letztlich ist auch die Geschichte Südosteuropas die leidvolle Geschichte seiner Grenzen.
(*) Edgar Hösch; Geschichte der Balkaländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. München 1988
(**) István Bibó; Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei. Frankfurt a. M. 1992
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