La tartine ist im Französischen die Buttersemmel, dudendeutsch: die Stulle. Also eine kleine Mahlzeit, eine Jause, ein schlankes Brötchen. Es dürfen gewisse Analogien zu Tartin Editionen gezogen werden, einem Kleinverlag in Salzburg mit Außenstelle in der französischen Provinz, Passage Saint Avoye, Paris. Vermutlich eine ehemalige Wohnadresse von René Char oder Solomon Buli alias Moni de Buli, Mitglied der Surrealistentruppe André Bretons aus Belgrad.
Die Analogien liegen auf der Hand wie die Heftchen der Edition. Oder auch in der Hand, wie eine Buttersemmel mit ein paar Wurstblättern. Handlich, wenige Blättchen, wenige Seiten. Dafür alles andere als jene grausige Gelbspeibwurscht, mit der jeder hinterfotzige Metzger kleine Kinder vergiftet. Format 15 mal 11 Zentimeter, maximal 80 Seiten, eher 30 bis 40, dafür aber nur Filetstücke, Abgelegenes, vom Feinsten. Oder einfach wunderbar Skurriles, Randspeckiges, Sperrborstiges, in der Mehrzahl deutsche Erstveröffentlichungen. Stückchen, die für den üblich üblen Literaturbetrieb nicht verwertbar sind; für jene Marktfetischisten nämlich, die den Wert der Literatur mit dem Tauschwert einer mit Kalaschnikows und Klopapier vergleichbaren Ware verwechseln, also mit Gelbspeibwurscht. Den Verantwortlichen des Wurstsemmelverlags, Max Blaeulich und Ludwig Hartinger, scheint es hingegen ein besonderes Vergnügen zu bereiten, die ehernen Gesetze des Kapitalismus zu hintergehen, indem sie das produzieren, was der ordentliche deutsche Markt aus vielerlei Beschränktheiten überhaupt nicht verlangt; schlimmer noch: es scheint ihnen auch herzlich gelbwurscht zu sein, was der Markt mit seinen Schranken an Beschränktheiten verlangt, sie lassen sich von ihm nicht einschränken. Wohl deshalb nennt sich diese Edition im Untertitel Untendurch, weil sie diverse Schranken unterläuft.
Und was bietet Tartin? Schmankerl! Zum Beispiel den erstmals ins Deutsche gebrachten Entwurf zu einer Erzählung von Marcel Proust, Kreusnach, Erinnerungen an zwei Aufenthalte in Bad Kreuznach 1895 und 1897, geschrieben 1909, die nicht in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Eingang gefunden haben. Fußnoten kommentieren das Fragment und verhelfen zu einem besseren Verständnis, vertieft durch ein ausgezeichnetes Nachwort von Albrecht Betz. Versehen ist das Bändchen von 36 Seiten auch noch mit Fotografien. Merveilleux!
Ebenfalls ein Genuss: Einer der Großen der französischen Lyrik, René Char, Über die Dichtung, eine Fragmentsammlung, über die wiederum ein kenntnisreiches Nachwort von Manfred Bauschulte und Marion Gees informiert. Vom Dichter erfahren wir: »An der Schwelle der Schwerkraft baut der Dichter, wie die Spinne, seine Bahn in den Himmel. Sich selbst teils verborgen, erscheint er den anderen in den Strahlen seiner unerhörten List, entsetzlich sichtbar.« Oder: »Ein Dichter muss Spuren seiner Durchreise hinterlassen, keine Beweise. Nur Spuren lösen Träume aus.«
Aber auch ganz andere kommen zu Wort. Rodolfo Walsh, berichtet sein Übersetzer Leopold Federmair im Vorwort, wurde 1977 in Buenos Aires auf offener Straße erschossen, gerade nachdem er seinen berühmten Offenen Brief eines Schriftstellers an die Militärjunta in einen Briefkasten eingeworfen hatte. Der Linksperonist hatte die hier vorliegende, bislang noch nicht ins Deutsche übersetzte Erzählung Diese Frau geschrieben, »Gründungstext dessen, was als Evaperonismo in der argentinischen Literatur bezeichnet worden ist«. Ende der Neunzigerjahre belegte dieser Text bei einer Autorenumfrage nach der besten argentinischen Erzählung den ersten Rang, vor Werken von Borges und Cortázar.
Manchmal widmen sich die Herausgeber auch Autoren oder Künstlern, die das Mahlwerk des Kunstbetriebs ausgespuckt hat, weil sie aus hundertundeins Gründen nicht kompatibel genug für irgendwelche »Szenen« sind. Franz Innerhofer wurde vor 30 Jahren für die Revolutionierung des Heimatromans geradezu hymnisch bejubelt. An die Berliner Norm alle drei Jahre ein durchschnittliches Buch hat er sich nicht gehalten und wurde irgendwann von den Türstehern des Literaturbetriebs geradezu hinauskomplimentiert. Ludwig Hartinger kontert im Nachwort zu Innerhofers Fragment Der Flickschuster: Er paraphrasiert die grandiose Urteilskraft eines Großkritikers, der Autor habe sich »aus der Literatur hinausgeschrieben«, mit dem dezenten Vermerk, »dafür eingeschrieben in die österreichische Literatur, so markant wie wenige vor ihm«.
Wer kennt den Bankbeamten Sergio Solmi? Niemand. Dem Dichter Hans Raimund ist für seine Übersetzung aus dem Italienischen und für sein aufklärendes Nachwort zu danken. Wir erfahren, dass dieser Solmi (18991981) Antifaschist und Widerstandskämpfer war, drei schmale Lyrikbände, an Leopardi, Valéry und Montale orientiert, herausgebracht hat, besser bekannt war als Essayist, der über französische Philosophen und italienische Autoren schrieb und daneben noch eine »prosa d´arte« schuf. Ein Gustostück der vorliegende Essay Betrachtungen über den Skorpion, für den Raimund 1991 den Wystan-Hugh-Auden- Übersetzerpreis erhielt. Worauf »ein großer deutscher Verlag« den Text anforderte, nur um zu bescheinigen, dass ein Skorpion made in Italy in Deutschland »momentan leider überhaupt nicht gehe«, weil dort nur Spaghetti und Pizza ankämen, so die Marketingstrategen der Großverlage unisono mit McKinsey, dessen Chef eigentlich wie die Amish-People in Pennsylvania leben möchte. Womit wir wieder beim Markt und seinen Schranken angelangt sind. Fern von den Sehnsüchten. Die sind freilich nicht per Marktanalysen umzusetzen. Vielleicht per Bauchaufzug auf die Horizontlinie, Augen zu und Untendurch. Buttersemmel nicht vergessen, tartinieren Sie!
Marcel Proust: Kreusnach. Aus dem Französischen von Franziska Raimund. Mit Fotos von Marion Kalter und einem Nachwort von Albrecht Betz. 36 S.
René Char: Über die Dichtung. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Manfred Bauschulte und Marion Gees. 44 S.
Rodolfo Walsh: Diese Frau und zwei weitere Erzählungen. Aus dem Spanischen von Leopold Federmair. 56 S.
Franz Innerhofer: Der Flickschuster. Nachwort von Ludwig Hartinger. 36 S.
Sergio Solmi: Betrachtungen über den Skorpion. Aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Hans Raimund. 64 S.
Alle Bände erschienen 2004 bei Tartin Editionen, Salzburg, Paris. Preis pro Band
12,- EUR
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