Zufälliges Aufschlagen, ein Foto, schwarzweiß, über beide Seiten, rechts zwei alte Frauen, grau die eine, silbrig die andere, beide gebeugt. Oder so: Die Rückenlinie wölbt sich erst mal ein Stück sanft abwärts, bevor sie steil fällt - die beiden haben was auf dem Buckel. Bestimmt keine leichten Jahre, wiewohl die eine recht heiter wirkt, gutmütig-listig, aber Gesichtsverwerfungen alter Menschen lassen vielfältige Interpretationen zu. Noch dazu, wenn diese Gesichter etwas "Fremdes" enthalten, etwas, das nicht "Europa" ist, weil es eben aus Indien kommt und bei dieser Frau sich auch relativ deutlich zeigt.
Die andere schaut schon mehr nach ländlicher Oma hierzulande aus, wäre da nicht die Kleidung. Na ja, unser markengeübter Blick. Was die Frauen da anhaben, ist eben Second-Hand-Ware, aber nicht einfach von heute, sondern vielleicht aus den Achtzigern. Gut gewartet, erstaunlich, das Alter ist nur an den ausgetingelten Halsbündchen kenntlich. Und die Muster! Die wurden wohl eigens für diese Menschen erfunden, oder? Wer allerdings öfter mal weiter östlich oder südlich unterwegs ist, also den westeuropäischen Hybrid mit seiner öden Mode verlässt, wird schnell auf die Buntheit der Welt stoßen.
Aber an diesem Bild fällt etwas anderes auf. Die linke Hälfte: ein junges Paar, Frau, Mann, kleines Kind im Pünktchenkleid auf dem Arm der Mutter, der Vater küsst das Mädchen, eine entrückte Liebesszene voll Zärtlichkeit, ein intensiver Moment. Ganz links noch ein älterer Herr, auch mit buntem Pullover, Blümchen-Röschen, er ignoriert das Liebesglück, verfolgt mit konzentriertem Ernst die beiden alten keppelnden Weiber. Ein Foto voll Handlung und Gefühl. Und voll alter Dinge: Die Gartenzäune stammen bestimmt noch von einem Schwarzschmied, die gepechten Telegraphenmasten kennt man bei uns schon lange nicht mehr ein Bild, so scheint es, noch vor der Globalisierung und doch vor höchstens fünf Jahren in Ungarn aufgenommen.
Solche Fotos gibt es eine Menge in diesem Buch, Menschen am Rande der westlichen Zivilisation, am Rande einer hoch technisierten modernen Welt. Keinesfalls Idyllen einer angeblich guten alten Zeit, wenngleich manche Aufnahmen aus Ungarn oder Rumänien fast wie altes Landleben anmuten. Aber bei genauerem Blick ist das Improvisierte aus Dürftigkeit fast überall erkennbar, wobei es nicht mit Bedürftigkeit gleichzusetzen ist.
Tatsächlich ist der Blick in manche Hütten im wahrsten Sinne malerisch; nicht nur, weil der Sinn dieser Menschen für Farben und Farbkombinationen atemberaubend ist und manche Tapeten oder Sofabezüge schon wieder kühn wirken. Sondern weil auch der rasche Blick schon entdecken kann, dass es vielen dieser Menschen gar nicht so sehr um Dinge geht. Man braucht dies und jenes, damit hat es sich. Und man braucht nicht viel, sonst stehen sie einem bloß im Weg. Klar, die Armut springt oft ins Auge, aber dennoch existiert hier ein anderer Bezug zu den Dingen: In den Häusern sieht man kaum etwas nur so herumliegen, da ist es aufgeräumt, sehr ordentlich, viele Decken, Gesticktes, alte Fotografien. Und immer viele Sitzgelegenheiten. Draußen, vor den Häusern, sieht es, je nach Siedlung, manchmal ziemlich wüst aus. In Osteuropa wurden sie in der Transition vielfach um die Landzuteilung betrogen, mussten sie in die allerletzten Gegenden ziehen, da gibt es Dörfer ohne jede Infrastruktur.
Im Buch werden Fotos aus Griechenland gezeigt, Nea Zoi, "neues Leben", eine alte Müllkippe mit miserabler Luft. Dreitausend leben hier. Sprechende Bilder zum Teil; doch Autor und Fotograf hatten nicht den Vorsatz der sozialkritischen Reportage, der Sozialanklage, auch wenn es einem bei den griechischen Bildern übel werden kann. Sie waren neugierig, eher unorganisiert, spontan begannen sie ihre Reisen, blieben wochen-, oft monatelang in Romadörfern, lebten bei den Menschen in Ungarn, Indien, Griechenland, Rumänien, Frankreich, Russland und Finnland.
Diese eher vorsatzlose Neugier ließ Bilder entstehen, bei deren Betrachtung man sich jenseits der westlichen Welt (außer Indien) wähnt. Da gibt es Landschaften mit einer Weite und Tiefe und Leere und Fülle zu sehen, wie man es im dicht verbauten Deutschland schon gar nicht mehr zu finden glaubt (es gibt sie auch hier noch jenseits der urbanen Meuten). Und Menschen bei längst ausgestorben vermuteten Tätigkeiten, die doch Jahrtausende hindurch schon getan wurden.
Es sind Menschen mit einer uralten Tradition, die sich über viele Jahrhunderte hinweg eine eigene Philosophie des Menschseins herausgebildet haben. Im Zentrum - auch der Fotos - stehen Freunde, Verwandtschaft, Kinder. Fortschritt durch Akkumulation ist ihnen fremd, fortschreiten ist bei ihnen lange Zeit das Weiterziehen gewesen, das ihnen im engbegrenzten Europa oft verwehrt blieb und bleibt. Europäische Freizügigkeit? Das in dieser Hinsicht nationalistische und rassistische Europa verwehrt den Roma sehr viel. Bis heute gibt es in Deutschland kein Denkmal, das sie als zweitgrößte Opfergruppe des deutschen Staatsterrors würdigt.
Das Buch, seine Fotos klagen nichts an. Sie machen etwas Besseres. Sie fangen unglaublich viele Aspekte ein. Sie kommen nicht mit erhobenem Zeigefinger daher. Sie schimpfen nicht auf die saturierten Westler, auf ignorante Politiker. Dafür gehen sie ziemlich tief hinein ins Leben der Menschen, der Roma. Ohne Mitleid. Mit Haltung, das auf jedem Fall. Dem Fotografen Joakim Eskildsen und dem Autor Cia Rinne hat es sichtlich Spaß gemacht, in die Dörfer zu fahren und dort länger zu bleiben. Man sieht, sie haben sehr, sehr viel erlebt. Und haben sich wirklich bemüht, es mitzuteilen. Man kriegt richtig Lust, Roma kennen zu lernen.
Joakim Eskildsen Cia Rinne Die Romareisen. Le romané phirimàta. Mit einem Vorwort von Günter Grass. Text und Musikaufnahmen: Cia Rinne, Steidl, Göttingen 2007, 416 S., 329 Farbtafeln, eine CD, 60 EUR
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