Ruhe ist nur im Zentrum des Wirbelsturms. Gleich der erste Satz entfaltet einen Sog, dem der Leser in der Folge nicht mehr entkommt: Der Ich-Erzähler Andor Weér möchte die Beerdigung seiner Mutter verschieben, um die Rückkehr seiner Geliebten Eszter abzuwarten. Das ist aber nur bei der praktischeren Einäscherung möglich, ein Vorhaben, das er ablehnt, also egal, Sargbestattung, Quittung, Unterschrift.
Ob der Ort der Ruhe die Mutter ist, die 15 Jahre, bis zu ihrem Tod, nicht mehr die Wohnung verlässt? Was veranlasst die "verdiente Künstlerin", die gefeierte Staatsschauspielerin Rebeka Weér zu dieser selbst gewählten Isolation? Wirklich "nur" der Umstand, dass ihre Tochter Judit, eine hoch begabte Violinistin, in den Westen geflohen ist? Dass ein Parteisekretär, einer dieser Neumenschen, ihr daraufhin kundtut, sie bekäme wegen "staatsschädigendem Verhalten" keine Hauptrollen mehr? "Nur" die Weigerung der Tochter zurückzukehren, die das aus der Notkollaboration zwischen Mutter und Parteikröte entstandene Angebot ausschlägt, mit dem Eisenbahnorchester in Bulgarien aufzutreten, wo sie doch international mit Menuhin auftreten kann?
Eine noch gründlichere Katastrophe liegt dieser Selbstisolation zugrunde, dem Rückzug in eine Art Wahnsinn, hinter dem - doch weiß man das? - eine Berechnung zu stecken scheint, ein Kalkulieren mit der von Aggressionen und Abscheu getragenen tiefen Bindung des Sohnes. Der ist Schriftsteller, wohl um die Mitte Dreißig, erstes Buch, erste Erfolge, gibt aber brav Antwort auf ihre Fragen: "Wowarstdumeinsohn?", kauft ein, sorgt für sie. Sozialverhalten kann grausam sein. Es ist ja sonst niemand da, wäre er nicht, würde sie in die Psychiatrie gesteckt oder verrecken.
Hat sich da einer eine unmögliche Versuchsanordnung ausgedacht? Attila Bartis ist alles andere als ein Verrückter. Auch keiner, der um Effekte giert. Allerdings einer, der unglaublich genau beobachtet und mit wenigen Sätzen so viel andeutet, dass sich dem Leser bald ein ganzes Panoptikum öffnet. Der Mensch mit seinen Ordnungen: Nichts bleibt auf seinem Platz. Bartis handelt kein spezielles psychologisches Problem ab, wenngleich die Mutter-Sohn-Beziehung tief pathologisch ist. Auch ist es, wegen der Berufe in der Familie, kein "Künstlerroman". Die Schriftstellerei des Ich-Erzählers spielt wohl eine wichtige Rolle, gelegentlich demonstriert sie Andor Weér auch mit Eitelkeit. Doch sie ist nur Mittel zum Zweck, wirkt nebensächlich gegenüber all dem, was mit ihm passiert ist und was ihm passiert und was er anstellt: der alltägliche Wahnsinn, den Bartis mit einer nervösen und doch cool-distanzierten, temporeichen Sprache einfängt.
Zu diesem Alltag gehören seine Ausflüge in die Provinz zu Lesungen und die Begegnungen mit fremden Menschen. Hier blitzt etwas auf, was die eigene, scheinbar so unerhörte Geschichte mit denen der anderen in Bezug setzt. Zum Beispiel mit Jolika. Andor entdeckt nach einer Nacht bei einer Hure Jolikas prollige Kaschemme "Balkanperle", wird in der Folge dort Stammgast und erfährt eines Tages von der Wirtin die Geschichte der Namensgebung. Mit den Eltern war sie als junges Mädchen in Rumänien am Meer, hatte in Mangalia einen Mann kennen gelernt. Wegen irgendwelcher Algen leuchtete das Meer nachts ganz grünlich. Jolika war keine Romantikerin und sie war bisher noch nie mit einem Mann zusammen gewesen. Erst recht nicht mit einem grünen Gott, noch dazu einem, der Perla hieß. "Ich spürte nur, dass ich die einzige Frau auf der Welt war, die jetzt in hellgrünes Licht gekleidet wurde. Die ein leuchtendes Meer als Brautschleier trug." Die Kneipe wollte sie "Perle von Mangalia" nennen. Das gefiel dem Die-Partei-hat-immer-Recht-Menschen im Amt nicht. Privat könne er das verstehen, aber man müsse eine Bezeichnung finden, die annähernd der Wahrheit entspräche. Vor so viel Wahrheitswut knien wir ergriffen nieder. Vor allem verstehen wir, wie dieser Wahnsinn die unterschiedlichsten Individuen miteinander zu verbinden vermag. "Die Hölle, das sind die anderen", sagte Sartre in den Spiegel.
Die Mutter ist nicht einfach die Arme, Getäuschte. Gegenüber der "Verräterin" Judit wird sie zum Racheengel, inszeniert sie ein Begräbnis, lässt einen Sarg mit den zurückgebliebenen Habseligkeiten der Tochter beerdigen, um zu demonstrieren: für sie ist die Tochter gestorben. Sie will den Makel tilgen, sie ist eine aufrechte Künstlerin des Volkes. Judit, so erfährt der Leser aus den zahlreichen Rückblenden, die intelligente Judit, die an dem Bruder zu hängen scheint, die wahrscheinlich den tiefsten Einblick in die Seelengrube der Rebeka Weér hat, haut ab, verlässt eigentlich ihn. Nichts lässt sich Andor anmerken, dass er von diesem Weggang verletzt ist, der ihn doch tief treffen müsste - vielleicht eine Inkonsequenz im Psychodrama. Noch dazu, da er über seine sadomasochistische Lektorin Eva Jordán noch eine ganz andere Wahrheit über seine Eltern, nun auch noch eine unerquickliche über den Vater, erfahren muss. Zu dieser Zeit ist er bereits mit Eszter Fehér liiert. Auch wenn der Ich-Erzähler vorwiegend Geschlechtsakte schildert, ist klar, sie wird ihm zum Gegenpol zur verhassten Mutter. Eine Liebe, die mehr Tal- als Bergfahrten kennt. Eszter wünscht sich ein Kind, für Andor kommt ein Kind nicht in Frage. Als sie schwanger wird, weil sie die Pille nicht genommen hat, besteht er auf Abtreibung. Sie landet vorübergehend in der Psychiatrie. Andor und Eszter versuchen es wieder, bespucken, schlagen sich. Um nichts in der Welt spricht sie über ihre Vergangenheit, er bekommt sie heraus. Es gibt Dinge, unter die der Mensch einfach einen Schlussstrich ziehen möchte, und es gibt Menschen, die es einfach nach restloser Aufklärung dürstet.
Das Buch endet, die Geschichte geht weiter, und man möchte ein wenig hoffen, immerhin endet es mit einem Kant´schen Bild. Trotz der Wende passieren aber weiterhin grausige Dinge, der Alltag, ob realsozialistisch oder kapitalistisch, bleibt ein Viktualienmarkt des Wahnsinns. Man könnte zum wiederholten Male nachhaken, die Moral von der Geschichte wäre die Deformation des Individuums durch den Totalitarismus. Da mag was dran sein, nur von der Geschichte ist es nicht die Moral. Auch der Sozialismus wurde von Menschen gemacht, deren Persönlichkeit in bestimmten Strukturen und unter bestimmten historischen Situationen wohl zu einer bedingungslosen Durchsetzung ihrer Phantasmagorien mit totalitärer Teleologie neigt. Unter der Schablone der immer falschen einfachen Wahrheiten der Weltenverbesserer wird es schwierig; Bartis´ Personal lässt sich nicht in Gute und Böse einteilen. Die Hölle, das sind wir. Dieser noch recht junge ungarische Autor (Jahrgang 1967) ist in ihren Angelegenheiten erstaunlich gut bewandert. Und versteht es hervorragend, sie spannend zu gestalten.
Attila Bartis: Die Ruhe. Roman. Aus dem Ungarischen von Agnes Relle, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, 300 S., 22,80 EUR
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