Cottbus: ach ja, der kleinste Bundesligaclub mit den meisten Ausländern. Oder Bautzen: richtig, der DDR-Kerker. Und zu Hoyerswerda hat man noch die Hools nach der Wende in Erinnerung.
Nur sehr wenige BürgerInnen assoziieren, erwähnt man die Lausitz und ihre Orte, die dort ursprünglich siedelnden Bewohner. Die meisten wissen gar nicht, dass es sie gibt. Auf Deutschlands Territorium leben noch Reste einiger autochthoner, nichtdeutscher Volksgruppen, die daran erinnern, dass Teile des Landes einst von Kaisern und Fürsten zusammen geraubt worden sind. Östlich der Elbe und der Saale erstreckte sich im siebten und achten Jahrhundert zwischen Ostsee und Erzgebirge das Siedlungsgebiet der zahlreichen elbslawischen Stämme, die, mit wenigen Ausnahmen, zwischen dem neunten und dem 13. Jahrhundert massakriert, verjagt oder assimiliert wurden. Die Serbja/Sorben, 631 als "Surbi", später als "Sorabi" urkundlich erwähnt, verloren gegen Ende des zehnten Jahrhunderts ihre Selbständigkeit. Im 12. und 13. Jahrhundert setzte zur Kolonisierung ein starker Zuzug deutscher Siedler ein, die bald in einer Reihe von Städten die politischen und ökonomischen Eliten stellten. Die Alteingesessenen hingegen, Bauern, Tagelöhner, kleine Handwerker, Analphabeten zumeist, mussten jedoch zähe, querköpfige Leute gewesen sein, denn zahlreich waren die Versuche der Feudalherren, die "fremde" Sprache, das Sorbische, zu verbieten und ihre Sprecher zu germanisieren. Über Jahrhunderte liest sich die Chronik der laufenden Ereignisse als eine Geschichte von Willkür, Unterdrückung und Widerstand. Den Sorben kam die Rolle der Indianer zu, die sich mutig gegen hundertfach überlegene Gegner erhoben, wieder und wieder, um Rechte, Sprache und Identität zu verteidigen. Sie gewöhnten sich daran, vor Amt mit einem deutschen Namen angesprochen zu werden, die Predigten auf Deutsch hören zu müssen, während man bei Tische Sorbisch sprach und ihre Grabkreuze die sorbischen Namen trugen. Zweisprachigkeit ist ihnen also seit langem vertraut. Am rabiatesten schließlich waren die Nazis; entweder Erhebung zum arischen Übermenschen oder ein Schicksal als slawisches Menschentier, das, so Himmler, nach dem Krieg zur Sklavenarbeit nach Sibirien umgesiedelt werden sollte.
"Mit der sozialistischen Revolution setzte seit den fünfziger Jahren ein Aufschwung in allen Bereichen des nationalen Lebens ein", heißt es in einem DDR-Lexikon über die Sorben. Nun war die Sprache des arg geschrumpften Volkes erlaubt und wurde unterrichtet, die Folklore wurde gefördert, von Wladiwostok bis Warschau hupften Sorben völkerverständigend in ihren schweren bunten Trachten, skandierten Freundschaft und Fortschritt. Den skandierten auch die Schaufelbagger, die den Leuten in der Lausitz die Dörfer unter den Hintern wegbaggerten, Braunkohle für den sozialistischen Aufbau. Die freie Marktwirtschaft in Gestalt der Laubag vermondest die Landschaft munter weiter, Aufbau Ost genannt.
Von harmloseren Dingen sollte die Rede sein, vom geschriebenen Wort einer kaum bekannten Minderheit in Deutschland, die in der zeitgeistgeilen Tagespresse nahezu keinen Widerhall findet. Manche werden sagen: "Aber damals in der DDR war alles anders und besser" und werden auf den alten Herrn aus Worklecy/Räckelwitz verweisen, der über Jahrzehnte Vizevorsitzender des DDR-Schriftstellerverbands war. Jurij Brez?an berichtet in seinen Erinnerungsbüchern aber eher stolz vom Frühstück mit Ulbricht und prahlt mit seinen Kontakten zu Brecht und Dürenmatt. Wenn er die Sorge um sein Volk betont, bleibt er blass, vergebens sucht man nach Namen und Büchern sorbischer KollegInnen.
Prosaisten sind die Sorben nicht unbedingt, ihr wichtigstes Feld ist die Lyrik. Das hat Gründe, die Christiana Piniekowa in der Verknüpfung von Wort und Musik sieht, denn viele Volkslieder existieren längst, bevor sie niedergeschrieben, insbesondere von den romantischen Dichtern wie Handrij Zeiler (1804-1872) bearbeitet werden. Die formale Kürze erleichtert Aufnahme und Wiedergabe von Gedichten in einer Sprache, die erst verspätet, im 19. Jahrhundert literaturfähig wird. Außerdem setzen Theater und Prosa aufgrund dieser späten Literaturentwickung erst gegen Ende des 19. Jahrhundert ein.
Für Angehörige eines kleinen Volkes - heute zählen die Sorben nur noch rund 60.000 Seelen - ist es gar nicht so einfach, in einem Riesenland wie Deutschland sich in seiner Muttersprache dichterisch modern zu artikulieren, ohne in Folklore zu verfallen. Gerade in der Lausitz wurden nach 1945 die Volkskultur, das Brauchtum, die alten Tänze, die Trachten, die Traditionen massiv hervorgekehrt. Christian Prunitsch zeigt, ausgehend von seinem Lehrer Walter Koschmal, zwei große Evolutionslinien in der sorbischen Lyrik des 20. Jahrhundert auf. Ausdrücklich stellt er fest, dass die ältere Linie, die "involutive Phase" mit ihrer Dominanz der Tradition über die Innovation, des Kollektivs über das Individuum im Grunde auch heute noch wirkt. Koschmal charakterisiert sie als "traditionell-sorbische Thementriade: Heimat (Folklore), Religion, Muttersprache". An diese Traditionslinie hat der sozialistische Realismus in vieler Hinsicht angeknüpft, zahlreiche Volksschriftsteller, darunter auch Brezan, haben in dieser Triade "Heimat" mit nationalem Pathos besetzt und "Religion" mit Ideologie.
Die "evolutive Phase" beginnt mit dem Werk von Jakub Bart-C?is?inski (1856-1909) und lässt sich stets an einzelnen AutorInnen fixieren. Diese Personenbezogenheit ist typisch für die sorbische Literatur. Prunitsch stellt fest, "Kito Lorenc ist die sorbische Lyrik der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts". Dazwischen bewegt sich einer, der das Subjekt aus dem kollektiven sorbischen Schicksal herauslöst, jedenfalls in seiner Dichtung, der im Kleinen, Besonderen nicht mehr nur Gefahr und Bedrohung sieht, sondern Herausforderung und Möglichkeit und der in der Möglichkeit das poetische Experiment sucht in einer Zeit, die Experimenten gänzlich abhold ist: Jurij Khe?z?ka (1917-1944) aus Hórki/Horka in der Oberlausitz, besuchte in Prag das Gymnasium und studierte an der Karlsuniversität Germanistik, Bohemistik und Sorabistik. Er hat nur ein schmales Werk hinterlassen. Zur Wehrmacht eingezogen verliert sich seine Spur in Serbien, nachdem er mehrmals von Desertion gesprochen hat. Man spürt fast von Gedicht zu Gedicht, wie hinter Naturmetaphern Sinnfragen gestellt werden, wie die Düsternis einer sich zuspitzenden politischen Situation die Verse einfärbt. Seine erste Sammlung versieht er mit der Karikatur eines Todes, der eine Gasmaske trägt und eine Gasflasche aufdreht ("Solingen, Solingen, Krupp ..."). Zugleich enthält sie eines der schönsten Gedichte der sorbischen Literatur, eine Liebeserklärung an das "Zelene zet", den letzten Buchstaben im Alphabet. Die Hommage an die bedrohte Muttersprache - wenig später von den Nazis verboten - erfolgt nicht durch einen pathetischen Aufruf; sprachliche Bedeutung tritt hier hinter Lautlichkeit und Wortgestalt zurück. In der Übersetzung von Róza Domas?cyna ("das grüne Gej") bleibt die alliterative Wortebene des Sorbischen gewahrt, das Zeichen selbst wird aus dem Sorbischen herausgelöst in den fiktiven Raum einer "Zwischensprache".
Die neuere sorbische Literatur ist längst geprägt vom Bruch mit der Tradition. Die Zeiten haben sich geändert, malerischer Spreewald und stille Wasserläufe, für den Tourismus folkloristisch aufgepeppt, können über ökonomische und soziale Umwälzungen nicht hinwegtäuschen. Das kommt in den Werken von Kito Lorenc, Jurij Koch, Marja Krawcec, Angela Stachowa, Róz?a Domas?cyna, Benedikt Dyrlich und von den jüngeren, Lubina S?e?nec, Ingrid Hustädt, Me?rka Me?towa, Dorothea S?olc´ina zum Ausdruck. Nicht mehr die Hierarchie der kollektiven Werte, bislang ethnische Klebesubstanz, sondern ihr Zerbröckeln wird thematisiert. Walter Koschmal umreisst diesen Prozeß: "Der Alltag löst den religiös-folkloristischen Festtag ab, das Individuum in seiner psychischen wie erotischen Intimität das patriotische Kollektiv, die Konzeption der erotischen Frau den sorbischen Muttermythos. Die einst streng getrennten, polar konzipierten deutsch-sorbischen Sprachwelten integrieren erstmals die alltägliche Wirklichkeit des code-switching, des Wechsels zwischen Deutsch und Sorbisch. Religion und Folklore fallen der Parodie und Blasphemie anheim."
Es gehört zum Alltag, wenn Kneipengäste mitten im Satz von einer Sprache in die andere wechseln. In der Literatur hat dieses code-switching, das Überschreiten der Sprachgrenzen, Róz?a Domas?cyna zu großer Meisterschaft entwickelt. Sprachen erkennen bei ihr keine Staatsgrenzen an, sie schwimmen im selben Teich, manchmal zieht die Anglerin einen "schteklinar", einen Stichling heraus, dann wieder "entwischen / te liny die schleie". Ein Widerweib jeglicher Leitkultur ist sie mit ihrer Verweigerung die "richtige" Sprache zu sprechen, geradezu eine Staatsfeindin ... (Freitag 13/2001)
Eine zentrale Rolle seit den siebziger Jahren spielt dabei der 1938 geborene Kito Lorenc. Ideologische Inhalte interessieren ihm wenig, ihm geht es um Grenzüberschreitungen in der Lyrik, um die semantischen Zwischenräume zwischen deutscher und slawischer Kultur. Er weidet die Mehrdeutigkeiten der Sprachen aus, die sich beim Übersetzen, beim Springen von der einen in die andere noch multiplizieren - und entdeckt dabei auch ganz ursprünglich Sorbisches, wie er in einigen Beispielen im wunderschön gestalteten Band An einem schönbemalten Sonntag demonstriert. Dem pathetisch abgehandelten Dauerbrenner über Wohl und Wehe des kleinen sorbischen Völkchens hält er sprachironisierend entgegen: "wir sind ein volksrätsel" - punktlos. Auch die Heimatliebe fällt weniger patriotisch als auf Liebesintimitäten anspielend aus: "Man kann die Heimat gar nicht zu viel lieben". Und weil Liebe bekanntlich blind macht, liebt er, und das klingt dann angenehm blöd, gleich "ihren sauren Regen" mit dazu.
Jurij Brezan: Ohne Paß und Zoll. Aus meinem Schreiberleben. Gustav Kiepenheuer-Verlag, Leipzig 1999, 238 S., 29,90 DM
Jurij Khe?z?ka: Zelene zet. Das grüne Gej. Gedichte. Aus dem Sorbischen von Róza Domas?cyna. RanitzDruck Nr.6. Edition Thanhäuser, Ottensheim 1998
Róza Domas?cyna: Kunstgriff am netzwerg. Gedichte. RanitzDruck Nr.7. Edition Thanhäuser, Ottensheim 1999
Kito Lorenc (Hg.): Serbska C?itanka. Sorbisches Lesebuch. Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1981
Kito Lorenc: An einem schönbemalten Sonntag. Gedichte zu Gedichten. Edition Thanhäuser, Ottensheim 2000
Kito Lorenc Johann P. Tammen (Hg.): Aus jenseitigen Dörfern. Zeitgenössische sorbische Literatur. edition die horen, Bremerhaven 1992
Dossier Sorbische Literatur. In: Literatur und Kritik, Heft Nr. 331/332. Verlag Otto Müller, März 1999.
Christian Prunitsch: Zwei Evolutionslinien in der sorbischen Lyrik des 20.Jahrhunderts. In: Mirjam Goller u.a. (Hg.): Osteuropäische Lektüren. Beiträge zur 2. Tagung des Jungen Forums Slawistische Literaturwissenschaft, Berlin 1998. Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2000, S. 183-191.
Walter Koschmal: "Wendische Schiffahrt" in deutsche Gewässer. Die bikulturelle Sicht des Kito Lorenc in historisch-komparatistischer Sicht. In: Letopis Nr. 45, 1998. S. 85ff.
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