Sachbuch Die Soziologen Zygmunt Bauman und David Lyon liefern in ihrem neuen Buch Einblicke in soziologische Tiefenstrukturen, die die gesellschaftliche Sicherheitssucht erklären
In den letzten Jahren schien es ja fast schon wieder ruhig zu werden. Doch derzeit scheint alles im Zeichen der Überwachung und Sicherheit zu stehen: Die Snowden-Enthüllungen. Die Drohnen-Affäre, in deren Mittelpunkt Thomas de Maizière stand. Die Ächtung von Drohnen-Einsätzen durch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. Und die zunehmend mediale Wahrnehmung politikwissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit diesem Themenkomplex, in denen gar Überlegungen angestellt werden, in der Drohnen-Technologie Möglichkeiten des Fortschritts zu erkennen.
Drohnen-Technologie Möglichkeiten des Fortschritts zu erkennen.Manch einer meint zwar, die Dinge seien beendet. Doch so leicht lassen sich die Probleme dann doch nicht abschütteln. Denn nicht nur, dass das Auswuchern der Sicherheitsmaßnahmen Grundfesten der Demokratie unterhöhlt und nun auch dem Allerletzten klarsein sollte. Darüber hinaus gibt es jenseits aller Überwachungs- und Sicherheitsauswüchse auch soziologisch und kulturell bedingte Tiefenstrukturen, über die sich das auswuchernde Bedürfnis nach Sicherheit erklären lassen. So ist zum richtigen Zeitpunkt im Suhrkamp Verlag das Buch „Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung“des Soziologen Zygmunt Bauman und dem Überwachungstheoretiker David Lyon, der auch Mitbegründer des 'Surveillance Studies Centre' ist, erschienen.Das Buch ergab sich aus einem Email-Briefwechsel zwischen den Soziologen, den sie im Sommer 2011 begannen. Zwar fehlt durch die Form des frei florierenden Gesprächs zuweilen der „strenge“ und kohärente Aufbau, den eine Metaanalyse der kulturellen Bedeutung eines Überwachungs-Zeitalters bedürfte. Und für Bauman-Kenner werden sich auch keine neuen großen Einsichten einstellen. Insgesamt aber ist das assoziative Denken dieser beiden überaus gewinnbringend zu lesen: Einerseits werden dadurch ihre ansonsten wissenschaftlich-theoretischen Gedanken im Gespräch leichter zugänglich. Andererseits eröffnen sich dem Leser überraschende Blickwinkel und Betrachtungsweisen, weil sie nicht von, wie im Blätterwald üblich, täglich neuen Enthüllungen und Skandalen leben und erst damit unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sondern weil es gelingt, die den Überwachungsphänomenen zugrundeliegenden Geisteshaltungen aufzudecken; die Ideologien zu entlarven, aus denen sie erwachsen; und natürlich, ganz soziologisch, was das alles in sozialer, kultureller und politischer Hinsicht bedeutet. So erhält man Einblicke in die tiefenstrukturellen kulturellen Bedingungen, die unser Bedürfnis nach Überwachung letztlich konstituieren.Der Wandel zur flüchtigen ModerneDabei operieren sie immer mit zwei zentralen Theorien. Zum einen mit dem von Bauman entwickelten Theorem der 'flüchtigen Moderne'. Dieses meint, einfach gefasst, das Abschmelzen und verdampfen sozialer Formationen und die Aufsplitterung von Macht und Politik. Oder: Die Entdifferenzierungs- und Entgrenzungsprozesse in territorialer, funktionaler und symbolischer Hinsicht in vornehmlich westlichen postindustriellen Gesellschaften. Zum anderen operieren sie mit der Theorie des Panoptikums. Damit ist ein zentraler Ort innerhalb der Gesellschaft gemeint, von dem aus wenige Individuen eine Mehrheit überwachen und bestrafen kann. Diese überholte Vostellung erweitern die beiden Autoren. So finden wir heute anstelle einer panoptischen Kontrollgesellschaft eine Disziplinargesellschaft vor. Ein "Synoptikum": Die Ordnung ist heute dezentralisiert und enthierarchisiert, in netzwerkartigen Strukturen.In Zeiten einer digitalisierten Welt befinden wir uns im Würgegriff der ständigen Optimierung eins jeden und der Gesellschaft. Ganz im Sinne der neuen Management-Philosophie: die Last der Kontrolle wird auf die Kontrollierten übertragen im Gewand der Schenkung von Autonomie- und Selbstbehauptungsrechten. Oder Social-Engineering, soziale Netzwerke: Jeder ist Beobachter von allem und ein von allen beobachteter. Kontrolle nicht durch Macht und Disziplin zum Zwang – sondern durch Selbstüberwachung und Selbstdisziplinierung. Befunde, die Gilles Deleuze schon 1990 in seiner Abhandlung „Postskriptum über die Kontrollgesellschaft“ erschreckend weitsichtig beschrieben hatte.Die Angst, allein zu seinNeben allen uns schon bekannten negativen Auswirkungen auf bürgerliche Freiheiten, Menschenrechte und demokratiegefährdende Entwicklungen, ist eine besonders starke These dieses Buches, dass die heutigen Überwachungssysteme vor allem soziale Klassifizierungen bewirken, die bestimmte Minderheiten als 'unerwünscht' identifizieren. Man denke im Zuge von Profiling-Technologien nur an Araber und Muslime, des Terrorismus Verdächtigte, Einwanderungswillige, linke Gruppierungen, die allesamt ins Überwachungsraster fallen. Aber auch an Klassifizierungen von Nutzern, Kunden, Patienten, Konsumenten etc. durch Institutionen oder Unternehmen und ihr datenbankgestützes Marketing. Eine computergestütze rationale Diskriminierung also.Eine weitere starke und zentrale These, die dieses Buch durchzieht, liegt in der Überlegung: Inwiefern wir uns die Überwachungsmacht selber einschreiben. Dazu gehören natürlich in erster Linie soziale Netzwerke, Unternehmen und Institutionen, denen wir freiwillig personenbezogene Daten preisgeben. Interessant ist es aber, wie dies kulturell zu erklären ist? Heute gilt nicht mehr Inhaftierung und Arrest, sondern Ausgrenzung als schlimmste Bedrohung der existenziellen Sicherheit. In der Moderne ist die Authentizität des „Ich“ Grundlage der Individualität. Und im Zusammenspiel mit dem weitverbreiteten Gefühl marginalisiert, übersehen und zur Unsichtbarkeit verurteilt zu sein, ergibt sich ein Zeitalter des Voyeurismus und Exhibitionismus – oder „Ich werde gesehen, also bin ich“. In diesem Zusammenhang neigt man ja gerne dazu, Facebook-Nutzer als Opfer des Unternehmen zu betrachten. Doch der Umgang mit sozialen Medien verrät eigentlich nur etwas über unser Selbst und unsere soziale Beziehungen, so der Befund der beiden Soziologen. Was im Sozialleben zu beobachten ist, zeigt sich dann auch auf dem Arbeitsmarkt. Dort feilbieten sich Menschen heute als Ware an, um Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt für sich zu wecken. Man ist Werber und beworbenes Produkt zugleich.Sicherheitssucht als WeltanschauungZu den wirklich unangenehmen Befunden gehören jene, die nicht von der Fehlnutzung von Technologie handeln. Die nicht das Fehlverhalten von Regierungen thematisieren. Oder die selbstverschuldete Überwachung. Sondern jene, die das Streben nach endgültiger Sicherheit und Ordnung als der Moderne inhärent beschreiben. Dass die Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts keine zivilisatorischen Rückfälle des Barbarismus waren – sondern die ultimative Konsequenz der modernen Passion für das „Ordnungmachen“. Und dass wir heute nur diese, nicht direkt tötende, aber in ihrer Logik abgeschwächte Form dieser Ordnungsliebe wiederfinden. Gerade an diesen soziologisch-kulturellen Analysen wird deutlich, wie sehr alle mit dem Überwachungskomplex zusammenhängenden Auswüchse auch und vor allem in unsere (westliche) Gesellschaft, Kultur, Wahrnehmung und Denken eingeschrieben sind.Eine in der ZEIT erschienene Rezension von Maximilian Probst widerspricht in diesem Zusammenhang, dass es sich heute nicht mehr um die Fortführung dieser Ordnungsliebe durch Konzentration handelt. Vielmehr „leben wir heute mit einer durchgesetzten Dezentralität“, in der es keine Rolle spielt, Differenzen zu unterdrücken. So schlussfolgert der Rezensent, dass es für die Überwachung keine idealtypischen Verdächtigten mehr gibt und Raster- und Metadatenfahndung nicht mehr ausreichen – weshalb Überwachung total werden müsse.Diese Schlussfolgerung sieht aber gar nicht so sehr anders aus, als die von Bauman und Lyon. Nur wird die „Notwendigkeit“ der totalen Überwachung anders hergeleitet. Als Beispiel dient den beiden Autoren die Stadt: Wo die Stadt in der vormodernen Zeit, von Mauern umgeben und Wachposten gesichert, ein Ort der Sicherheit war – ist sie heute das Gegenteil. Die Gefahr hat sich von außen nach innen verlagert. Hierzu sprechen die beiden Autoren von der „Angst vor dem Anderen“. In der Stadt ist nämlich ein jeder jedem fremd, womit ein jeder auch prinzipiell verdächtig ist. Auch aus diesem Grund, so argumentieren sie weiter, entwickeln wir ein Eigeninteresse an einem dichten Netz von Einrichtungen zu Überwachung, Selektion, Separation und Exklusion. Und dann: „Wir alle möchten, dass die Feinde der Sicherheit gekennzeichnet werden, um zu verhindern, dass man uns zu ihnen zählt … Wir müssen andere anklagen, um selbst freigesprochen zu werden.“
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