Bozen im Oktober, bestes Wanderwetter, die Sonne steht hoch, keine Wolke verdeckt den Blick zu den Dolomitengipfeln des Rosengartens, UNESCO-Weltnaturerbe. Um 13.27 Uhr fährt der Zug der österreichischen Staatsbahn (ÖBB) aus München auf Gleis 4 der Station Bozen ein: In Sporthosen und Funktionsleibchen steigt eine Reisegruppe des Deutschen Alpenvereins (DAV) aus. In Zweierreihe steuert sie ein Café an, die Wanderstöcke schlagen gegen die Rucksäcke.
Darunter ist Ute (66), eine pensionierte Lehrerin aus Laupheim bei Ulm. Reiseantritt am gleichen Morgen um 7.05 Uhr. Transportmittel: Zug, zweimal umgestiegen. Ziel: Rittner Horn. Ute reist mit zwölf Wanderfreunden und will die Sarntaler Hufeisentour in viereinhalb Tagen schaffen. Es ist ihre vierte Tour mit dem Alpenverein in diesem Jahr. Chiemgau, Türkei, zweimal Südtirol: „2015 lasse ich es krachen“, sagt sie.
8.30 Uhr am gleichen Bahnhof. Mit 25 Minuten Verspätung erreicht der Nachtzug aus Rom Gleis 5. 58 Flüchtlinge steigen aus, weniger als sonst. Darunter Samson (24), ehemaliger Biologiestudent. Start seiner Reise: Asmara in Eritrea, ein Jahr zuvor. Transportmittel: Kleinwagen mit 28 Personen, Boot mit gut 400 Menschen, Züge, Busse, die eigenen Füße. Ziel: Stockholm. Er reist mit zwei eritreischen Freunden, die er in Rom kennengelernt hat. Grund der Reise: Flucht vor einem totalitären Regime. Diese zwei Typen von Reisenden treffen in diesen Tagen immer wieder am Bahnhof von Bozen aufeinander, der Hauptstadt Südtirols, Wanderparadies und Zwischenstation auf der Flüchtlingsroute. Die einen kommen aus dem Süden, haben Namen wie Eren oder Samson, sind Mitte 20, magere Beine in geschenkten XL-Hosen. Die anderen kommen aus dem Norden, heißen Ute oder Arthur, sind um die 50 und älter, tragen gewöhnlich karierte Wanderblusen.
Am Samstag zurück
Zwei Typen von Reisenden sind unterwegs, aus unterschiedlichen Gründen. Die einen flüchten vor dem Tod, vor Hunger, vor Verfolgung. Die anderen entfliehen dem Stress, dem Alltag, grauen Städten. Weil der Zug das wichtigste Reisemittel der Flüchtlinge in die reichen Länder Europas ist, werden die Bahnhöfe zu Refugien einer Völkerwanderung. Selten sind die Unterschiede zwischen Flüchtling und Urlauber so deutlich wie auf Bahnhöfen, auf deren Perrons sich Flucht und Ferien begegnen.
Der Bahnhof Bozen ist der bedeutendste in Südtirol, ein Verkehrsknotenpunkt mit 5,5 Millionen Reisenden im Jahr. Seit April haben dieses Drehkreuz fast 10.000 Flüchtlinge passiert. Dadurch hat sich das Bahnhofsbild verändert, denn in einer gut 100.000 Einwohner zählenden Stadt fallen Flüchtlinge mehr auf als in einer Metropole wie Rom. Ein Bahnhof wie dieser spiegelt Veränderungen, wie sie einer Gesellschaft widerfahren können – gleichzeitig erfährt er selbst eine Veränderung.
Ein freiwilliger Helfer in blauer Weste drückt dem Eritreer Samson ein Handtuch in die Hand, lächelt ihn an und sagt: „Welcome.“ Samson lächelt zaghaft zurück. Fünf Freiwillige sind täglich auf dem Bahnhof, sie versorgen die Flüchtlinge, statten sie mit neuer Kleidung aus, beraten sie wegen der Weiterfahrt und bahnen sich einen Weg durch die Urlauber in Wandermontur. Es gibt diese Art der freiwilligen Unterstützung seit Monaten. Bozener halfen spontan, kauften Wasser und Lebensmittel aus eigener Tasche, erst später stießen Hilfsorganisationen hinzu wie die Caritas, das Rote Kreuz, die Alexander-Langer-Stiftung und der Verein Volontarius, der seither die Leitung innehat.
Die Bahnhofsverwaltung hat den Helfern Räume zur Verfügung gestellt. Ein Teil davon ist mit Leinentüchern abgetrennt und dient als Umkleidekabine. Der größte Raum des Trakts für die Flüchtlinge wird als Kantine genutzt, mit einer Spielecke voller Stofftiere für Kinder. Freiwillige teilen Mahlzeiten auf Papptellern aus. Morgens frühstücken die Flüchtlinge Cracker, Marmelade und Milch. Sie trinken Kaffee, den Freiwillige zu Hause brühen und in Thermoskannen mitbringen.
„Heute müssen wir noch zwei Stunden wandern“, sagt Ute, während sie im Bahnhofsbistro den Espresso schlürft und auf den Bus wartet, mit dem sie das letzte Stück fahren wird. „Dürfen wir“, korrigiert sie eine Wanderkollegin. „Hoffentlich bleibt es die restlichen Tage so schön wie heute“, sagt Inge, die für die Südtirolreise zuerst auf der Warteliste stand. „Am Samstag kann es regnen.“ Dann fahren sie wieder zurück nach Hause.
Bei den Helfern ist eben eine Sachspende eingetroffen: Schuhe für Männer, Taschen, Strümpfe, Hemden, Windeln. Ein Freiwilliger stellt die Pakete auf dem Boden ab und lässt sie kurz unbeaufsichtigt. Sofort beginnen junge Somalier darin zu wühlen. Auf Englisch rufen die Helfer den Ungeduldigen zu: „Wartet bitte. Es ist für alle etwas da.“ Mit einer entschuldigenden Geste werden die Sachen zurückgelegt. Einer möchte neue Schuhe anprobieren, hat aber schon welche bekommen. „Sie drücken vorn“, deutet er auf die Zehen. Wintermäntel lassen manche gleich an, als ob sie Angst hätten, sie sonst wieder zu verlieren. Ein Kind spielt bei 25 Grad Raumtemperatur in Handschuhen.
Die Räume für die Flüchtlingshilfe liegen direkt gegenüber Stumpfgleis 1a, von dem die Züge nach Meran abfahren. Eine Strecke, die viele deutsche Touristen nehmen, Meran und Umgebung sind beliebte Urlaubsziele. Eine Touristin aus der Oberfalz – Kamera um den Hals, Sonnenbrille im Haar –, die sich sichtlich verirrt hat, klopft an die Tür der Hilfsorganisation und fragt: „Gibt es hier Toiletten?“ Zwei junge Eritreerinnen schauen sie verständnislos an.
Sie sitzen an diesem Vormittag die Langeweile weg. Die Freunde von Samson leisten ihnen Gesellschaft, einer hält einen Zettel der Polizei in der Hand. Darauf steht, er werde gebeten, sich bitteschön morgen in Italien registrieren zu lassen. Aber in diesem Land will niemand bleiben, am liebsten würden noch heute alle weiterfahren. Ein Eritreer hält eine Europakarte in der Hand, er fragt einen Freiwilligen: „Munich?“, der erklärt ihm die Reiseroute, die er noch vor sich hat: Südtirol, Brenner, dann durch Österreich, dahinter beginnt Deutschland – Germany, es ist nicht mehr weit. Der Mann schaut auf die Anschlagtafel, wo fährt der Zug und wann?
In der Nähe des Stumpfgleises 1a steht Arthur (78) aus München mit Fernglas und Wanderstock. Als er die Flüchtlinge sieht, meint er: „Ich bin dafür, dass wir die Grenzen schließen.“ Schlimm, ja, unhaltbar sei die Situation am Hauptbahnhof seiner Stadt. „Und hier ist es ja nicht viel besser.“ Er schüttelt den Kopf und sagt „Militärverweigerer“, als handle es sich dabei um das übelste Schimpfwort. „Ich war auch bei der Bundeswehr. Geschadet hat es mir nicht.“ Da zieht ihn jemand am Ärmel seines Fleecepullovers: „Arthur, komm. Die Gondel fährt gleich los.“
Zahnbürste und Cracker
Deutsche Touristen und afrikanische Flüchtlinge stechen heraus zwischen den Einheimischen. Bei allen Unterschieden finden sich auch Gemeinsamkeiten. Beide reisen mit leichtem Gepäck. „Zu viel Sachen sind nur Ballast“, sagen Ute und ihre Wanderfreundinnen. Daraufhin hat Inge einen neuen Rucksack erworben, der nur 900 Gramm wiegt. Und im Sonderangebot hat sie sich Sportklamotten aus Merinowolle gekauft: „Solche habe ich auch“, sagt Ute.
Samson kann den Inhalt seines schwarzen Rucksacks an einer Hand abzählen: eine Jacke, eine Packung Papiertaschentücher, eine Zahnbürste. Dazu eine Flasche Wasser und ein Päckchen Cracker. Aus seiner Heimat Eritrea hat er längst nichts mehr bei sich, alles ist verloren gegangen oder gestohlen worden auf der langen Tour durch die Wüste, über das Meer, bis in die Berge Südtirols.
Utes Wanderfreundinnen haben Babybel-Käse aus Deutschland in einer Plastiktüte mitgebracht, dazu Müsliriegel und Traubenzucker. Sie würden nicht viel brauchen, sagen sie. Frühstück und Abendessen, das werde ihnen auf den Hütten serviert. Das Wichtigste tragen sie ohnehin am Körper. „Gute Schuhe und Geld.“ Auch für Samson sind die Turnschuhe, die ihm die Caritas in Rom gab, und das Geld, das er am Leib trägt und dessen Summe er nicht verraten will, das Wichtigste. „Mit Geld kann man sich alles Nötige kaufen.“ Zum Beispiel die Regionaltickets im Bahnhofskiosk. Ein Reisender aus Mainz besorgt dort für sich und seine Frau, die vor der Tür mit den Fahrrädern wartet, zwei Flaschen Mineralwasser. Hinter ihm in der Reihe stehen Samson und seine Freunde. Sie kaufen ein Ticket, einfache Fahrt, Bozen – Brenner, 13,50 Euro. Für die, die nicht genügend Geld haben, wird zusammengelegt.
Wenn Touristen nicht auf einen Zug warten müssen, entfernen sie sich meist zügig vom Bahnhof. Sie wollen keine Zeit verlieren. Auch die Flüchtlinge wollen das nicht, aber sie sind bemüht, das Bahnhofsgelände nicht zu verlassen. „Bahnhöfe sind Nichtorte auf der Reise“, sagt ein Angestellter des Vereins Volontarius. Tatsächlich geben sie den Flüchtlingen das Gefühl, immer noch unterwegs zu sein, beschützt zu sein, Hilfe zu finden, auch wenn sie sich gerade nicht bewegen. „Verlassen sie den Bahnhof, ist die Reise unterbrochen, ehe sie am Ziel sind. Und das kann neue Traumata auslösen.“
14.50: In elf Minuten fährt der Zug Trenitalia 20724 zum Brenner ab. 15 Flüchtlinge haben sich vor dem Eingang der Hilfsorganisation aufgereiht. Mehr sollen nicht auf einmal fahren, so fallen sie nicht unnötig auf. Die Freiwilligen zählen durch – nur die Erwachsenen, Kinder lassen sie aus. Dann wird den Reisefertigen gezeigt, wo man die Tickets entwertet. Zwei Männer sind zu viel und müssen auf den nächsten Zug warten. Samson und seine Freunde sind nicht darunter, ruhigen Schrittes gehen sie vorbei an wartenden Touristen. Auf dem Bahnsteig machen sie noch einmal Selfies, sie lachen in die Kamera des Mobiltelefons, daneben schaut sich ein junges Paar Bilder von einer Bergtour an. „Gute Reise“, wünscht ein Helfer.
Kurz vor der Abfahrt hat Samsons seiner Schwester in Stockholm auf Facebook geschrieben, dass er nun weiterfahre, vorerst bis an die österreichische Grenze. Auf dem gleichen Perron telefoniert eine deutsche Touristin gut hörbar mit zu Hause. „Schatz, wir sind gut angekommen, das Wetter ist herrlich. Ich melde mich wieder.“
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