Buch der Woche
Barbara Demick: Die Kinogänger von Chongjin - Eine nordkoreanische Liebesgeschichte
Leseprobe
Zu Beginn des Jahres 1990 waren von der Berliner Mauer nur noch Steinbrocken übrig, die von Souvenirverkäufern in einem Deutschland verhökert wurden, dessen Wiedervereinigung unmittelbar bevorstand. Die Sowjetunion riss an ihren Nähten auseinander. Das Gesicht Mao Tse-tungs war zum Kultbild auf kitschigen Armbanduhren geronnen, die in Peking großen Anklang bei amerikanischen Touristen fanden. Der ehemalige rumänische Diktator Nicolae Ceauşescu, nicht zufällig ein enger Freund Kim Il Sungs, war erst kurz zuvor von einem Erschießungskommando hingerichtet worden. Leninstatuen wurden von ihren Sockeln gestürzt und zerschmettert. Überall auf der Welt verschlangen Kader der Kommunistischen Partei Big Macs zum Mittagessen und spülten sie mit Coca-Cola hinunter. In dem hermetisch abgeschlossenen Reich Nordkorea hingegen ging das Leben weiter wie bisher.
Sofern die nordkoreanischen Zensoren überhaupt Berichte über den Niedergang des Kommunismus ins Land ließen, wurden sie abgeschwächt und mit einer unverwechselbaren Tendenz versehen. So waren laut der Zeitung Rodong Sinmun die Probleme anderswo im kommunistischen Block auf die angeborene Schwäche der dortigen Bevölkerung zurückzuführen. (Die nordkoreanische Presse hatte schon immer gern auf die genetische Überlegenheit der Koreaner angespielt.) Die Osteuropäer und die Chinesen seien von Natur aus nicht so stark oder diszipliniert und deshalb vom richtigen sozialistischen Weg abgekommen. Hätten sie einen genialen Führer vom Kaliber eines Kim Il Sung gehabt, wäre ihr Kommunismus noch intakt und würde gedeihen. Entsprechend seiner Lehre von der Autarkie mussten die Nordkoreaner ignorieren, wie sich andere Länder verhielten, und weiter ihrem eigenen Weg folgen.
So verschloss auch Frau Song die Augen vor den untrüglichen Zeichen, dass etwas nicht stimmte. Zunächst waren es nur kleine, kaum merkliche Hinweise. Die Glühbirne, die erst für ein paar Sekunden flackernd erlosch, dann für ein paar Minuten, dann für Stunden und schließlich tagelang. Es gab immer seltener Strom, bis man schließlich nur noch an ein paar Abenden in der Woche für wenige Stunden damit rechnen konnte. Das fließende Wasser, das ausblieb. Frau Song begriff schnell, dass sie, wenn es wieder einmal kam, so viele Eimer und Töpfe wie möglich damit füllen musste. Aber es reichte nie zum Waschen, weil die Wasserpumpen im Haus elektrisch betrieben wurden und, ehe der Strom wiederkam, das Wasser schon wieder ausfiel. Deshalb packte sie alle Plastikbehälter zusammen und ging damit zu einer öffentlichen Pumpe auf der Straße. Das Wasserholen wurde zu ihrer täglichen Morgenroutine, wenn sie die Bettmatte zusammengelegt und die Porträts von Kim Il Sung vom Staub befreit hatte. Obwohl sie keine Kinder mehr zu versorgen hatte, musste sie früher denn je aufstehen. Die Straßenbahn, die sie zur Arbeit an der Straße Nr. 1 brachte, fuhr nur unregelmäßig und war so überfüllt, dass sogar Leute an einer Leiter hinten an den Wagen hingen. Frau Song wollte sich nicht durch die Menge junger Männer drängen, um einen Platz zu ergattern, und so ging sie in der Regel zu Fuß, wozu sie eine Stunde brauchte. Die Fabriken von Chongjin säumten die Küste fast acht Kilometer lang, von Pohang im Norden bis hinunter nach Nanam, der ehemaligen japanischen Militärbasis, in der sich nun das Hauptquartier der 6. Division der Koreanischen Volksarmee befand. Die größten Fabriken waren Chongjin Eisen und Stahl und Kimchaek Stahl, die Fabrik für Synthetikstoffe, die 2. Metallbaufabrik, die Fabrik für Kohlebergwerksmaschinen 10. Mai und das Unternehmen Majon, das ein Medikament aus Hirschgeweihen herstellte. Frau Song arbeitete am nördlichen Ende des Industriekomplexes in der Kleiderfabrik Chosun, die zum größten staatlichen Textilunternehmen gehörte. In der Niederlassung in Chongjin waren zweitausend Menschen beschäftigt, fast ausschließlich Frauen, mit Ausnahme der Führungskräfte und der Lkw-Fahrer. Hier wurden die Uniformen am Fließband produziert, die die Nordkoreaner fast bei jeder Gelegenheit tragen – Einheitsuniformen für Studenten, Verkäufer, Zugführer und alle möglichen Arbeiter, natürlich auch Fabrikarbeiter. Die Kleidungsstücke waren aus Vinalon, einem steifen, glänzenden Synthetikstoff, den es nur in Nordkorea gibt. Die Nordkoreaner waren so stolz auf dieses Material, das 1939 von einem koreanischen Wissenschaftler entwickelt worden war, dass sie es juche-Faser nannten. Es wurde größtenteils in Hamhung rund zweihundertachtzig Kilometer weiter südlich an der Küste hergestellt. Von 1988 an verzögerten sich jedoch die Lieferungen.
Frau Song und ihren Kolleginnen sagte man, das Problem liege in Hamhung. Entweder war dort die Anthrazitkohle ausgegangen, eins der Rohmaterialien für das Vinalon, oder es herrschte Strommangel – eine klare Antwort erhielt Frau Song nie. Ohne Stoff aber ließen sich keine Uniformen herstellen.
Statt Arbeit Vorträge über Kim Il Sung
Während die Näherinnen auf die nächste Stofflieferung warteten, verbrachten sie ihre Tage damit, die Böden zu wischen und die Maschinen zu putzen. Es herrschte eine geradezu unheimliche Stille. Wo zuvor die Nähmaschinen gesurrt hatten, war jetzt nur noch das Geräusch der Kehrbesen zu hören.
Damit die freie Zeit gewinnbringend genutzt wurde, schickte die Fabrikleitung die Frauen zu Einsätzen, die euphemistisch „Sonderprojekte“ genannt wurden. Tatsächlich mussten sie das Gelände im Umkreis der Fabrik nach allem durchforsten, was verkäuflich war oder gegen Lebensmittel eingetauscht werden konnte. So marschierten sie einen Tag in Reih und Glied und ausgerüstet mit Säcken und Schaufeln zu den Zuggleisen, um Hundekot zum Düngen aufzulesen, an anderen Tagen sollten sie Altmetall sammeln. Anfangs wurden nur die Näherinnen losgeschickt, aber bald mussten sich auch Frau Song und die anderen Frauen aus dem Kinderhort beteiligen. Sie arbeiteten in Schichten – die Hälfte der Frauen blieb bei den Kindern, während die andere zum Müllsammeln beordert wurde.
„Auch wenn der Weg steinig ist, wir stehen hinter der Partei“, mussten sie singen, wenn sie ihre Ausflüge machten. Die Fabrikleitung glaubte, auf diese Weise die Frauen bei Laune halten zu können.
An manchen Tagen holten sie am Strand Altmetall aus dem Abwasser, das im Schatten der riesigen Stahlwerke aus den Leitungen strömte. Frau Song mochte den Strand nicht besonders – nicht einmal den am Chongjin Jugendpark, wo sie, als die Kinder noch klein waren, Muscheln gesammelt hatten. Wie die meisten Nordkoreaner ihrer Generation konnte sie nicht schwimmen, und obwohl das Meer hier flach war, schauderte Frau Song davor. Sie musste ihre Hose bis zu den Knien hochkrempeln und, nur mit Stoffschuhen an den Füßen und einem Korb zum Aussieben des Metalls in den Händen, durch das Meerwasser waten, als würde sie Gold schürfen. Am Ende des Tages wogen die Aufseher das Metall, um zu kontrollieren, ob die einzelnen Arbeitskollektive auch ihr Soll erfüllt hatten.
Alle Frauen versuchten, sich vor diesen unangenehmen Ausflügen zu drücken. Sich einfach zu weigern, wagten sie nicht, obwohl sie fast nichts für diese Tätigkeit bekamen. Wer nicht zur Arbeit erschien, erhielt die Coupons nicht, die man gegen Lebensmittel eintauschen konnte – so war es in ganz Nordkorea. Und wenn man ohne triftigen Grund eine ganze Woche fehlte, konnte man sogar in einem Internierungslager landen.
So kamen einige Frauen auf die Idee, Notfälle in der Familie zu erfinden. Oder sie ließen sich von ihrem Arzt bescheinigen, dass sie arbeitsunfähig waren. All das wurde schweigend toleriert. Die Kontrolleure sahen sich die Atteste nicht besonders genau an, weil sie wussten, dass die Frauen nichts zu tun hatten. Frau Song aber dachte nicht im Traum daran, solch ein fingiertes Attest vorzulegen. Es kam ihr falsch vor. Sie erschien wie immer pünktlich zur Arbeit. Da aber die Näherinnen ausblieben, gab es auch keine Kinder zu betreuen. Die Werksleiter bemühten sich, den Tag auszufüllen, und setzten zusätzliche Vorträge über Kim Il Sung an, aber wegen der zunehmenden Stromausfälle war oft schlicht und einfach das Licht in der Fabrik zu schwach. Und so hatte Frau Song nach Jahren fünfzehnstündiger Arbeitstage endlich Gelegenheit, sich auszuruhen. Sie hielt, den Kopf auf die Schreibtischplatte gelegt, lange Nickerchen in ihrem Büro und fragte sich, wie lange das noch so weitergehen konnte.
Eines Tages rief die Abteilungsleiterin sie und ihre Kolleginnen zu einem Gespräch zu sich. Frau Song respektierte sie, schließlich war sie Mitglied der Arbeiterpartei und linientreue Kommunistin, eine Frau, die wie Frau Song wirklich vom System überzeugt war. Bisher hatte sie den Arbeiterinnen immer wieder versichert, dass die Stofflieferung aus Hamhung jeden Tag eintreffen könne. Nun aber räusperte sie sich umständlich und sagte verlegen, es sei unwahrscheinlich, dass sich die Situation in absehbarer Zukunft ändere. Diese Frauen, zähe Kämpferinnen wie Frau Song, die immer noch zur Arbeit erschienen, nun, sie sollten sich nicht mehr die Mühe machen.
„Ihr ajummas“, redete sie die Frauen an – das heißt, mit dem koreanischen Wort für Tante, das gewöhnlich für verheiratete Frauen verwendet wird –, „solltet darüber nachdenken, wie ihr eure Familien auf andere Weise ernähren könnt.“
Frau Song war entsetzt, obwohl die Abteilungsleiterin sie ja nicht zur Prostitution aufgefordert hatte. Aber für Frau Song war das, was sie vorschlug, nicht viel anders: Sie meinte den Schwarzmarkt.
Wie in jedem anderen kommunistischen Land gab es Schwarzmärkte auch in Nordkorea. Obwohl privater Handel offiziell nahezu ausnahmslos verboten war, änderten sich die Bestimmungen ständig und wurden zudem noch häufig ignoriert. Und als Kim Il Sung den Anbau von Gemüse für den privaten Verkauf erlaubte, entstand auf einem freien Gelände hinter Frau Songs Wohnblock rasch ein improvisierter Markt. Er bestand aus kaum mehr als einer Ansammlung auf dem Boden ausgelegter Plastikplanen und einem dürftigen Angebot aus Rettich und Kohl. Gelegentlich verkauften die Leute auch gebrauchte Kleidung, beschädigtes Geschirr und alte Bücher. Fabrikneue Produkte durften nicht feilgeboten werden; sie waren den staatlichen Läden vorbehalten. Auch der Verkauf von Getreide war verboten, dafür konnte man ins Gefängnis kommen.
Frau Song fand, dass die Atmosphäre auf dem Schwarzmarkt etwas Erbärmliches, Schäbiges hatte. Er wurde vorwiegend von älteren Frauen und Großmüttern betrieben, die auf den Fersen sitzend laut und, wie sie fand, in unwürdiger Manier ihr ungewaschenes Gemüse anpriesen. Manche rauchten sogar Pfeife, obwohl rauchende Frauen in Nordkorea verpönt waren. Frau Song verabscheute diese halmoni, diese Großmütter. Allein schon der Gedanke, etwas auf einem Markt zu verkaufen, war widerwärtig. Eine richtige Kommunistin hatte hier nichts zu suchen!
Richtige Kommunisten kauften nicht ein, Punkt. Eine konsumfeindlichere Kultur als die von Kim Il Sung geschaffene konnte man sich im 20. Jahrhundert nicht vorstellen. Im übrigen Asien gab es solche Märkte, auf denen es von Menschen und Händlern wimmelte, zuhauf. Nicht so in Nordkorea. Die bekanntesten Geschäfte waren die beiden Warenhäuser in Pjöngjang: Kaufhaus Nr. 1 und Kaufhaus Nr. 2, und deren Angebot war ungefähr so aufregend wie ihre Namen. Als ich sie im Jahr 2005 aufsuchte, gab es im ersten Stockwerk Fahrräder chinesischer Herkunft, aber es war keineswegs klar, ob die Ware wirklich zum Verkauf stand oder lediglich ausgestellt wurde, um Ausländer zu beeindrucken. Berichten von Ausländern zufolge, die in den 1990er Jahren Pjöngjang besuchten, konnte man in der Auslage manchmal Obst und Gemüse aus Plastik finden, die genau diesen Zweck hatten.
Der Grund für den nordkoreanischen Antikonsumismus war, dass die Menschen alles, was sie brauchten, durch die Güte Kim Il Sungs vom Staat bekommen sollten, zum Beispiel zwei Mal im Jahr neue Kleidung, einmal im Sommer und einmal im Winter. Sie wurde in den Betrieben und Schulen ausgegeben, meist an Kim Il Sungs Geburtstag, was sein Bild als Quelle alles Guten weiter untermauerte. Die Kleidungsstücke waren von einheitlicher billiger Qualität, wie etwa Schuhe aus Vinyl oder Segeltuch. Lederschuhe stellten einen ernormen Luxus dar, den sich nur Leute mit Einkommensquellen im Ausland leisten konnten. Die Kleidung wurde in Fabriken wie jener gefertigt, in der Frau Song arbeitete. Als Stoff wurde Vinalon bevorzugt; beim Waschen ging es ein, und es nahm auch schlecht Farbstoff an, so dass nur eine begrenzte Farbpalette zur Verfügung stand. Für die Uniformen der Arbeiter gab es ein tristes Blau, Büroarbeiter trugen schwarze oder graue Hosen. Rot war für die Halstücher reserviert, die Kinder zum Zeichen ihrer Pflichtmitgliedschaft bei den Jungen Pionieren bis zum 13. Lebensjahr trugen.
Stoffe aus Nylon und Vinalon
Es gab nicht nur kaum Einkaufsmöglichkeiten, sondern auch praktisch kein Geld. Die Löhne waren so gering, dass man sie als kaum mehr als eine Anerkennung bezeichnen konnte. Frau Songs Monatsgehalt betrug 64 nordkoreanische Won, was nach dem offiziellen Wechselkurs 28 Dollar entsprach, in Wirklichkeit aber nicht einmal zum Kauf eines Nylonpullovers reichte, allenfalls für Kleinigkeiten wie Kinokarten, einen Haarschnitt, Busfahrscheine und Zeitungen, Zigaretten für Männer, für Frauen Make-up – was überraschend viel getragen wurde. Roter Lippenstift verlieh den Frauen ein Aussehen, das an die Filmstars der 1940er Jahre erinnerte, und ein Rouge, das ins Rosa ging, ließ die von den langen Wintern blasse Haut gesund wirken. In jedem Viertel von Chongjin gab es völlig identische staatliche Ladenkomplexe mit einem Lebensmittel-, einem Schreibwaren- und einem Kleidergeschäft. Anders als in der Sowjetunion bildeten sich vor den Läden jedoch nur selten lange Schlangen. Wenn man eine größere Anschaffung plante – etwa eine Armbanduhr oder einen Plattenspieler –, musste man sie von seinem Arbeitskollektiv genehmigen lassen. Es war nicht nur eine Frage des Geldes.
Die Glanzleistung des nordkoreanischen Systems waren die subventionierten Lebensmittel. Wie Herbert Hoover mit seiner Wahlkampfparole „ein Hühnchen in jeden Topf“ hatte Kim Il Sung seinem Volk tägliche Mahlzeiten versprochen – Reis und Fleischsuppe. Reis, besonders weißer Reis, war in dem Land ein Luxus, so dass sich das grandiose Versprechen allenfalls für die Elite erfüllte. Die allgemeine Bevölkerung aber erhielt über das staatliche Verteilungssystem eine Getreidemischung, deren Menge je nach Rang und Arbeitsleistung des Empfängers zugemessen wurde. Bergleute in den Kohleminen etwa, die harte Arbeit verrichteten, sollten täglich 900 Gramm bekommen, Fabrikarbeiter wie Frau Song 700 Gramm. Auch andere Grundbestandteile des koreanischen Speiseplans wie Sojasauce, Speiseöl und eine dicke Rote-Bohnen-Paste wurden auf diese Weise verteilt. An Nationalfeiertagen wie den Geburtstagen der Herrscherfamilie kamen oft Schweinefleisch oder Stockfisch dazu.
Das Wichtigste aber war der Kohl, der im Herbst ausgegeben und zu kimchi verarbeitet wurde. Dieser scharf gewürzte, konservierte Kohl ist das koreanische Nationalgericht, in den langen Wintern das einzige Gemüseprodukt der traditionellen Küche und ein ebenso essenzieller Bestandteil der Kultur wie Reis. Das Regime hatte erkannt, dass die Koreaner ohne kimchi nicht zufrieden sein würden. Jede Familie erhielt 70 Kilogramm pro Erwachsenen und 50 Kilogramm pro Kind. Da ihre Schwiegermutter bei ihnen lebte, kam Frau Song somit auf 410 Kilogramm. Der Kohl wurde mit Salz gepökelt, mit viel Chili gewürzt und gelegentlich auch mit Bohnenpaste oder Babyshrimps angereichert. Frau Song bereitete auch Rettich- und Rüben-kimchi und verbrachte alles in allem Wochen mit dem Einmachen. Das kimchi wurde in großen Tonkrügen gelagert, und Chang-bo musste ihr helfen, sie in den Keller hinunterzutragen, wo jede Familie einen Verschlag für Vorräte hatte. Früher war das kimchi im Garten vergraben worden, so dass es kühl blieb, aber nicht gefror. In dem Wohnhaus behalf man sich damit, die Behältnisse in Erde zu packen. Am Ende wurden die Verschläge mit dem stärksten Schloss, das zur Verfügung stand, verriegelt. Kimchi-Diebe waren nämlich in Chongjin keine Seltenheit, und selbst in einer kollektivistisch organisierten Gesellschaft wie der nordkoreanischen wollte niemand sein kimchi mit einem Fremden teilen.
Zweifellos war Nordkorea nicht das Arbeiterparadies, als das es die Propaganda darstellte, dennoch kann man die Leistungen Kim Il Sungs nicht als unbedeutend abtun. In den ersten zwei Jahrzehnten nach der Teilung von 1945 war der Norden reicher als der kapitalistische Süden. Wenn koreanische Wissenschaftler in den 1960er Jahren vom „Wirtschaftwunder“ sprachen, bezog sich dies in der Regel auf Nordkorea. Allein schon die Tatsache, dass die Bevölkerung in dieser Region, die in der Geschichte bereits etliche Hungersnöte erlebt hatte, ernährt wurde, war eine Leistung, und dies umso mehr, als aufgrund der groben Teilung der Koreanischen Halbinsel die Flächen mit den besseren Böden allesamt jenseits der Demarkationslinie lagen. Aus den Trümmern eines Landes, das aufgrund des Krieges über fast keine Infrastruktur mehr verfügte und dessen Wohnungsbestand zu 70 Prozent zerstört war, schuf Kim Il Sung eine scheinbar lebensfähige, wenn auch spartanische Wirtschaft. Jeder hatte ein Dach über dem Kopf und Kleidung. 1949 behauptete Nordkorea, es sei das erste asiatische Land, das nahezu vollständig alphabetisiert sei. Ausländische Würdenträger, die in den 1960er Jahren das Land besuchten und meist mit dem Zug von China aus einreisten, schwärmten von dem offenbar höheren Lebensstandard hinter der nordkoreanischen Grenze. Ja, Tausende ethnischer Koreaner in China flohen vor der durch Maos verheerenden „Großen Sprung nach vorn“ verursachten Hungersnot und kehrten nach Nordkorea zurück. Die Häuser erhielten hier Ziegeldächer, und 1970 war jedes Dorf in Nordkorea ans Stromnetz angeschlossen. Selbst die abgebrühte CIA-Analytikerin Helen-Louise Hunter, deren zunächst geheime Berichte über Nordkorea aus den 1970er Jahren später veröffentlicht wurden, räumte grollend ein, sie sei beeindruckt von dem, was Kim Il Sung erreicht habe.
Unter den kommunistischen Ländern schien Nordkorea eher mit Jugoslawien vergleichbar als mit Angola. Es war der Stolz des kommunistischen Blocks. Man zeigte auf Nordkoreas Errungenschaften – insbesondere im Vergleich zu Südkorea – als Beweis dafür, dass der Kommunismus tatsächlich funktionierte.
Tatsächlich? In Wirklichkeit war ein Großteil des sogenannten nordkoreanischen Wunders eine Illusion aufgrund propagandistischer Behauptungen. Das Regime veröffentlichte keine Wirtschaftsstatistik, zumindest keine, der man trauen konnte, und gab sich große Mühe, Besucher ebenso zu täuschen wie sich selbst. Die Aufseher in den Fabriken und in der Landwirtschaft fälschten regelmäßig ihre Produktionsstatistiken, weil sie Angst hatten, ihren Vorgesetzten die Wahrheit zu sagen. Lügen türmten sich auf Lügen. Und so ging es bis hinauf in die Führungsriege, weshalb man sich durchaus vorstellen kann, dass Kim Il Sung selbst nicht sah, dass die Wirtschaft zusammenbrach.
Trotz der Prahlerei von juche und Autarkie hing Nordkorea stark von der Hilfe der anderen sozialistischen Länder ab ab. Öl, Reis, Dünger, Medikamente, Industriemaschinen, Lkws und Autos – all diese Dinge erhielt Nordkorea zu Vorzugspreisen. Aus der Tschechoslowakei kamen Röntgengeräte und Brutkästen, aus der DDR Architekten. Kim Il Sung spielte die Sowjetunion und China geschickt gegeneinander aus und nutzte die Rivalität der beiden, um ihnen so viel Hilfe wie möglich abzupressen. Wie früher der Kaiser verlangte er Tribut von den Nachbarländern. Josef Stalin persönlich schenkte ihm eine kugelsichere Limousine. Mao Tse-tung schickte einen kompletten Zugwaggon. Kim Il Sung oder Kim Jong Il, der in den 1980er Jahren zunehmend Aufgaben seines Vaters übernahm, die sogenannten „Anleitungen vor Ort“ durch, um die Not des Landes zu lindern. Vater und Sohn waren auf nahezu allen Gebieten Experten, von der Geologie bis hin zur Landwirtschaft. „Kim Jong Ils Anleitungen vor Ort und seine Warmherzigkeit und Güte bringen große Fortschritte bei der Ziegenzucht und bei der Milchprodukten“, verlautbarte der staatliche Nachrichtendienst KCNA, als Kim Jong Il eine Ziegenfarm bei Chongjin besucht hatte. An einem Tag befahl Kim Jong Il den Anbau von Kartoffeln als Grundnahrungsmittel statt Reis, am nächsten Tag meinte er, die Straußenzucht sei das gebotene Rezept gegen die Lebensmittelknappheit im Land. Auf diese Weise taumelte das Land von einem haarsträubenden Wirtschaftsprogramm zum nächsten.
Ein enormer Anteil des im Land Erwirtschafteten wurde für das Militär verwendet. Bis heute sind es etwa 25 Prozent des Bruttosozialprodukts – im Gegensatz zu durchschnittlich unter fünf Prozent in den Industrieländern. Obwohl es seit 1953 keine militärischen Auseinandersetzungen mehr gegeben hatte, standen eine Million Männer unter Waffen, womit dieses kleine Land die viertgrößte Armee der Welt hatte. Die nordkoreanische Propagandamaschine sorgte beständig für große Angst im Land, indem sie unablässig Berichte von einer bevorstehenden Invasion der imperialistischen Kriegstreiber in die Welt setzte...
© 2010 by Barbara Demick
© 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by Droemer Verlag
Die Kinogänger von Chongjin
Eine nordkoreanische Liebesgeschichte
Barbara Demick
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel und Maria Zybak
Droemer, 432 S., 19,95
Barbara Demick berichtet seit 2001 für die Los Angeles Times aus Ostasien. Für ihre Berichte über Nordkorea erhielt sie den Menschenrechtspreis des Overseas Press Club sowie Auszeichnungen der Asia Society und der American Academy of Diplomacy.
Das Buch ist am 11. März 2010 erschienen
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